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Sverige Situation

22.04.2020

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Liebe Leserinnen und Leser

Kinderbetreuung, Gleichstellung, Integration, Nachhaltigkeit – Schweden gilt in vielen gesellschaftlichen Fragen als progressives Vorbild. Das Land hat mit mutigen Entscheidungen immer wieder Entwicklungen eingeleitet, die in anderen Staaten erst später folgten. Nun geht die schwedische Regierung wieder einen Sonderweg – diesmal aber unter Protest aus dem Ausland.

Schweden hat sich einem strengen Lockdown verweigert; Schulen, Restaurants und Läden bleiben offen und Veranstaltungen mit bis zu 50 Besuchern weiterhin erlaubt. Kann diese Strategie funktionieren?

Eine oberflächliche Betrachtung der Zahlen legt zumindest die Vermutung nahe, dass sich Schweden damit nicht komplett ins Abseits manövriert. Die Infektions- und Todeszahlen liegen zurzeit auf einem ähnlichen Niveau wie in der Schweiz.

Doch die Ausgangslage in Schweden ist nicht dieselbe wie hier: Die Bevölkerungsdichte ist fast zehnmal geringer, Social Distancing ist also vielerorts naturgegeben – und das Land ist auch geografisch nicht so stark exponiert wie die Schweiz als eines der wichtigsten Transitländer. (In den schwedischen Metropolregionen ist die Bevölkerungsdichte hingegen hoch. Der Grossraum Stockholm, in dem ein Viertel der 10,2 Millionen Einwohner wohnt, verzeichnet 60 Prozent aller coronabedingten Todesfälle.)

Dass Schweden trotzdem einen hohen Preis für seinen Ansatz bezahlt, zeigt der Vergleich mit den Nachbarländern: Pro Kopf zählt Schweden im Moment mehr als zehnmal so viele Corona-Tote wie Norwegen und Finnland – beide Länder haben einen restriktiven Lockdown verhängt. Auf die schwedische Strategie angesprochen, sagte der Vizechef der norwegischen Gesundheitsbehörde: «Ich glaube, sie ist völlig falsch.» Und die dänische Regierungschefin meinte: «Lieber gehen wir heute einen Schritt zu weit, als dass wir in drei Wochen feststellen müssen, wir haben zu wenig getan.»

Auch in Schweden fordern Wissenschafter einen härteren Lockdown. Aber der Staatsepidemiologe Anders Tegnell hält am eingeschlagenen Weg fest. Er sagt: «Wir versuchen eigentlich, genau das Gleiche (wie die anderen europäischen Länder) zu machen, haben aber akzeptiert, dass es nicht die Lösung ist, alles zu schliessen. Wir schliessen so viel wie möglich auf freiwilliger Basis, und es sieht so aus, dass wir genauso weit gekommen sind wie andere Länder.»

Diese Aussage ist umstritten, wie der Vergleich mit den Nachbarländern zeigt. Jedoch scheinen die Stay-at-Home-Empfehlungen der Regierung zu wirken – wenn auch nicht so stark wie etwa in Deutschland oder der Schweiz. Es sei ein Mythos, dass das Leben in Schweden so weitergehe wie gewöhnlich, sagte die schwedische Aussenministerin zuletzt. So leidet etwa die exportorientierte schwedische Wirtschaft ähnlich stark unter der Pandemie wie diejenige der Schweiz: Die Arbeitslosigkeit ist stark angestiegen.

Ob die schwedische Strategie aufgeht, werden wir erst in der Nachbetrachtung beurteilen können. Es dürfte der schwedischen Regierung aber je länger, je schwerer fallen, am eingeschlagenen Kurs nichts zu ändern. Total sind mittlerweile offiziell 1765 Menschen an Covid-19 verstorben. Gestern meldeten die Behörden 185 neue Todesfälle – der höchste Wert seit dem Ausbruch.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Die neuesten Fallzahlen: Gemäss dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zählt die Schweiz heute mindestens 28’268 positiv auf Covid-19 getestete Personen. Bis Anfang April kamen täglich neue Fälle im vierstelligen Bereich dazu. Mittlerweile liegt die Zahl im niedrigen dreistelligen Bereich. Am Dienstag lag dieser Wert bei 205.

Masken bleiben in der Schweiz freiwillig … Der Bundesrat hat sich gegen eine Maskentragpflicht entschieden. Er setzt weiter auf Abstandhalten und Händewaschen, wie er heute an einer Medienkonferenz mitteilte. Branchen und Betriebe, die von Lockerungsmassnahmen profitieren, können eine Maskenpflicht in ihr obligatorisches Schutzkonzept aufnehmen; sie müssen aber nicht. Für die Beschaffung ist jede Firma selber verantwortlich. Der Bund verkauft den grossen Detailhändlern während zweier Wochen täglich eine Million Masken zum Einkaufspreis.

 und in Deutschland sind sie nun Pflicht: Sämtliche Bundesländer schreiben einen Mund-Nasen-Schutz vor für Menschen, die einkaufen gehen oder die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen. Als letztes Bundesland will Bremen die Pflicht am Freitag beschliessen und am Montag einführen. In den einzelnen Bundesländern gibt es kleine Unterschiede. So muss in Berlin in den Läden kein Schutz getragen werden. In den meisten Regionen gilt zudem keine Pflicht zum Tragen von medizinischen Masken – es reiche beispielsweise auch ein Schal.

Kantone uneinig über Schulnoten: Sollen diesen Sommer Noten für Primar- und Sekundarschüler verteilt werden? Diese Frage beantworten nicht alle Kantone gleich. Noten gibt es etwa im Aargau, in Luzern und Nidwalden. Keine Noten, aber einen Vermerk im Zeugnis zum mehrwöchigen Fernunterricht gibt es in Zürich und Basel-Stadt. Die meisten Kantone haben noch keinen Entscheid getroffen – sie warten die Empfehlungen des Bundesrats ab. Laut NZZ tendieren die Westschweizer Kantone eher in Richtung keine Noten. Der Kanton Zürich will zudem auf Maturaprüfungen verzichten. Entschieden wird diese Frage aber im Bundesrat.

Die besten Tipps und interessantesten Artikel

Wie viele Menschen sind bisher tatsächlich an Covid-19 gestorben? Diese Frage ist wichtig zu beantworten, wenn wir wissen wollen, wie gefährlich das Coronavirus ist. Leider sind die verfügbaren Daten häufig zu ungenau. In vielen Ländern werden nur jene Fälle statistisch erfasst, die im Spital verstorben sind. Zwei Journalistinnen der «New York Times» haben deshalb die offiziellen Todesfälle vergangener Jahre von elf Ländern angeschaut und mit den Covid-Daten verglichen. Ihre Erkenntnisse kompakt:

  • In Ländern wie Frankreich, England, Spanien oder auch der Schweiz sind in den vergangenen Wochen, im Vergleich zu vorhergehenden Jahren, deutlich mehr Menschen gestorben. Allein die Stadt New York verzeichnet zwischen Mitte März und Mitte April 2020 fast dreimal mehr Tote, als zu erwarten gewesen wären.

  • Gemäss Berechnungen der «New York Times» sind mindestens 25’000 Menschen mehr gestorben, als die untersuchten Länder vermeldeten.

  • Länder wie Frankreich oder England versuchen zurzeit, auch die Menschen, die ausserhalb eines Spitals an Covid-19 verstorben sind, in die Statistiken miteinzubeziehen.

  • Experten vom deutschen Max-Planck-Institut gehen davon aus, dass die Todeszahlen ohne Quarantäne-Massnahmen wesentlich höher ausgefallen wären.

Zu einer anderen wichtigen Frage: Wieso zeigen gewisse Covid-Erkrankte eigentlich so heftige Symptome und andere gar keine? Der Mediziner und Journalist James Hamblin hat im «Atlantic» eine detailreiche Übersicht verfasst und erklärt, wie das Virus im Körper wütet und das eigene Immunsystem zum grössten Feind werden lässt.

Und zum Dritten nochmals eine Frage, die jetzt nicht direkt von epidemiologischer Bedeutung ist, die sich zurzeit aber trotzdem vielen Menschen jeden Tag aufs Neue stellt: Welche Serien soll ich mir als Nächstes anschauen? Für einmal haben wir ganz eindeutige Antworten für Sie, zu finden im Republik-Artikel von Karin Cerny.

Frage aus der Community: Können wir uns jetzt alle Open Airs für diesen Sommer ans Bein streichen?

Ja. Es wird diesen Sommer ziemlich sicher keine Festivals geben. Spätestens seit der gestrigen Absage des Münchner Oktoberfests, das im September stattgefunden hätte, ist die Hoffnung tot. Lassen Sie sich nicht durch Veranstalter verwirren, die auf ihren Websites noch immer so tun, als wäre bis Juli oder August alles wieder in Ordnung (etwa das Gurtenfestival oder die Open Airs Frauenfeld und Zürich). Bundesrat Alain Berset hat es letzte Woche so gesagt: Die letzten Lockerungen wird es dort geben, wo viele Menschen zusammenkommen. Bald wird auch bei den letzten Veranstaltern der Punkt erreicht sein, wo sie sich entscheiden müssen, ob sich der Aufwand noch lohnt. Darum: auf keinen Fall Tickets kaufen.

Und was, wenn Sie schon welche haben? Bleiben Sie entspannt. Die allermeisten Festivals haben signalisiert, dass sie kulant sein werden. Die Branche hat sich innerhalb des Veranstalterverbands SMPA geeinigt, dass die Tickets für die nächste Ausgabe 2021 ihre Gültigkeit behalten. Wer dann schon etwas anderes vorhat, kriegt einen Gutschein oder 90 Prozent des Preises in bar zurückerstattet (10 Prozent Unkostenbeitrag bleiben beim Veranstalter).

Zum Schluss eine hoffnungsvolle Nachricht: In Europa starten Impfstoff-Tests an Menschen

Die Entwicklung eines Impfstoffs gegen das Coronavirus Sars-CoV-2 schreitet voran. Mindestens 80 Teams weltweit arbeiten daran. Nach China und den USA beginnen nun auch in Europa die ersten Tests an Menschen. In England hat die Universität Oxford mit klinischen Tests begonnen. Auch das Unternehmen BioNTech in Deutschland darf jetzt in die sogenannte Phase 1 übergehen. Während Oxford hofft, Ende Jahr 100 Millionen Impfdosierungen bereitzuhaben, zeigen sich die deutschen Experten eher pessimistisch. Umso hoffnungsvoller ist dafür der Schweizer Martin Bachmann: Der Immunologe von der Uni Bern hält breitflächige Impfungen bereits im Oktober für möglich. Sein Impfstoff, der noch eine Bewilligung durch die Zulassungsbehörde Swissmedic benötigt, soll im Juli erstmals an Menschen getestet werden.

Bleiben Sie umsichtig, bleiben Sie freundlich, bleiben Sie gesund.

Bis morgen.

Philipp Albrecht, Ronja Beck, Elia Blülle und Oliver Fuchs

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

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PPPS: Menschen musizieren vom Balkon, Bars schenken Bier übers Fenster aus: Corona mache die Leute kreativ, heisst es. Die Marketing-Menschen der Weltkonzerne beweisen jedoch eine aussergewöhnliche Resistenz. Falls Sie dieser Tage besonders häufig das Gefühl haben, überall dieselbe Werbung zu sehen, dürfen wir Sie beruhigen: Es liegt nicht an Ihnen.

PPPPS: Eine Ausnahme bildet die deutsche Drogerie-Kette Rossmann. Sie hat einen Werbeclip ins Netz gestellt, der zeigt, dass ein Supermarkt-Besuch während einer Pandemie erstaunliche Ähnlichkeiten mit einem Clubbesuch hat. Mit dem traurigen Fazit: Abshaken zwischen den Einkaufswagen und Regalen ist nicht dasselbe.

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