Kiyaks Exil

Fühlt sich gut an

Deutschland hat 47 Kinder und Jugendliche aufgenommen. Bleiben nur noch 39’953 Flüchtlinge in akuter Lebensgefahr. Unsere Kolumnistin fragt sich, was man da noch sagen soll.

Von Mely Kiyak, 21.04.2020

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Über kein anderes Thema schrieb ich als Kolumnistin so oft wie über Flüchtlings­politik. Und immer ist der Tenor meiner Texte: Man muss etwas tun. Man kann nicht einfach zuschauen, wie Menschen zugrunde gehen. Zeugenschaft verpflichtet. Europäer sein verpflichtet. Man muss im Rahmen seiner Möglichkeiten das Maximum an Hilfe leisten. Man soll. Man muss. Man.

Ja, wer ist dieses «Man» eigentlich? Ehrlich, ich weiss es nicht mehr genau.

Ich lebe mittlerweile in einem Land, in dem die Aufnahme von Flüchtlings­kindern aus den Lagern von den Ägäischen Inseln zu einer gefährlichen Show­veranstaltung verkommen ist. 40’000 Flüchtlinge leben zum Teil seit fünf Jahren in den Lagern auf den griechischen Inseln. In Behelfs­zelten (wenn sie Glück haben). Unter ihnen sind 14’000 Minderjährige. In einem Lager wie Moria auf Lesbos leben 25’000 Menschen, meist ohne fliessendes Wasser, in einem Provisorium, das ursprünglich nur für 2000 Menschen vorgesehen war. Manchmal heisst es doch, wenn von Flüchtlings­lagern die Rede ist, dass die Hygiene­bedingungen katastrophal seien. Wie aber nennt man es, wenn es gar keine Hygiene­bedingungen gibt?

Vor Monaten war die Rede davon, dass man dringend die allein reisenden Mütter mit Kindern retten muss. Dann war die Rede davon, dass man dringend die Minder­jährigen retten muss. Dann war die Rede davon, dass man unbegleitete Minderjährige unter 14 Jahren retten muss. Man kann es sich denken, wie die Reihe weitergeht. Man schränkt die Kriterien so lange ein, bis es keinen Rettungs­bedarf mehr gibt.

Ursprünglich war der Plan, dass eine EU-weite «Koalition der Willigen» 1600 Kinder aufnehmen und auf die Länder verteilen soll. Nun sind die Kapazitäten in Deutschland ohne weiteres dafür geeignet, nicht nur 1600, sondern zehnmal so viele aufzunehmen.

Am Ende hat man fertiggerechnet und ist auf die Zahl 47 gekommen. 47 Kinder und Jugendliche haben am Samstag deutschen Boden erreicht. Deutsche Flüchtlings­politik im Jahr 2020.

So eine Politik – der Begriff ist eigentlich nicht präzise, Nicht­politik ist das passendere Wort –, so ein Handeln will nicht helfen, lindern oder verändern, so ein Handeln will Botschaften an die eigene Bevölkerung aussenden. Nämlich: Fürchtet euch nicht. Die Bundes­regierung schützt euch vor den Flüchtlingen.

Ich wuchs mal in einem Deutschland auf, in dem man Flüchtlinge schützen wollte. Lange her.

Früher – ich spreche über die 1980er-Jahre der Bundes­republik – war Flüchtlings­politik ein Nischen­thema, in ihren Feinheiten kannten sich eigentlich nur Asylsuchende und Migranten aus. Heute ist Flüchtlings­politik ein Feld, in dem sich jeder Bundes­bürger für befähigt hält, Bescheid zu wissen – und vor allem unbedingt mitbestimmen zu dürfen. Obwohl die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung mit den Flüchtlingen nicht einmal in Berührung kommt. Denn gemessen an der Grösse des Landes und der Bevölkerungs­zahl, gemessen an Ort und Art der Unter­bringung, bedingt durch Ausgangs- und Arbeits­beschränkungen, kommt kaum ein normaler Deutscher je mit einer Asylsuchenden in Kontakt.

Trotzdem fühlen sich Millionen Deutsche durch das blosse Wort «Flüchtling» konkret in ihrem Alltag eingeschränkt, bedroht und beleidigt. Irgendjemand, ich weiss nicht mehr wer, erfand dafür mal die Formulierung: gefühlte Fakten. Etwas fühlt sich wie Wahrheit an. Und also wird es zur Wahrheit erhoben.

Wenn man in Deutschland sagt, die Flüchtlinge sind keine Bedrohung – ich schwöre es –, kriegt man es mit Mord­drohungen von «Besorgten» zu tun. Und irgendwann kommt auch noch die Polizei vorbei und sagt: Sie sind nicht mehr sicher, verschwinden Sie mal für eine Weile von der Bildfläche. Kein Witz. So ist das hier in meinem Land.

Kennt man die Fantasie­kategorie «Besorgte» auch in der Schweiz? Mit «besorgt» umschrieben sich in Deutschland mehrere Jahre lang rechts­extreme Flüchtlings­gegner. «Besorgt» ging als politische Kategorie in den Diskurs ein. Bürger zündeten ein Asylbewerber­heim an und begründeten ihre Tat damit, dass sie besorgt seien. Sachsen schlossen sich der menschen­feindlichen Organisation «Pegida» an und begründeten es mit Sorge. Jeder Fremden-, Flüchtlings- oder Menschen­feind konnte seine Nieder­tracht und seinen Hass mit dem Begriff «besorgt» legitimieren.

Ein Teil meiner Familie lebt genau gegenüber von Lesbos, auf der türkischen Seite der Ägäis, also an der Meerenge zwischen Griechenland und der Türkei. Die kürzeste Stelle verbindet die Insel Lesbos mit der türkischen Westküste. Mit dem Motorboot sind es nur ein paar Minuten. Es gibt ein Kloster auf der griechischen Seite. Oft fahren die Padres und Brüder zum Einkaufen auf den türkischen Wochen­markt und wieder zurück. Die Preise auf der türkischen Seite (auch bedingt durch die Inflation) sind extrem niedrig. Gemüse und Obst kosten nur wenige Cent das Kilo. Auch das Olivenöl (auf beiden Seiten des Meeres baut man Wein und Oliven­bäume an) ist in der Türkei günstiger.

Die Türkinnen hingegen kennen die Bedingungen, unter denen die Flüchtlinge auf der anderen Seite leben, nur bedingt. Denn als türkischer Staats­bürger kommt man ohne ein Visum nicht auf die andere Seite. Umgekehrt können die Griechen aber rüberfahren.

Die ägäischen Türken sehen die Flüchtlinge oft in einem extrem zerrissenen Zustand, denn meist haben sie schon eine wochen-, monate- oder jahrelange Flucht hinter sich. Die Syrerinnen, Iraker, Iranerinnen oder Afghanen waren vielleicht aus einem Lager im Nahen Osten weiter in die Türkei gereist, verdienen sich für ein paar Monate oder Jahre als Tagelöhner Geld für die weitere Flucht, um damit das letzte Stück – das rettende Stück, wie sie denken – hinter sich zu bringen. 15 Kilometer bis Europa.

Mein Vater berichtete mir, auf seiner Seite der Meerenge sei eine Art Flüchtlings­bedarfs-Industrie eingerichtet worden. Rettungs­westen wurden genäht und verkauft, oder kleine Rettungs­anzüge für Kinder, für den Fall, dass die Boote kentern. Einmal gab es einen grossen Skandal. Weil herauskam, dass die Westen mit Papier gefüllt waren. Mein Vater wohnt nur ein paar Schritte entfernt von der Stelle, wo sich abends nach der Dämmerung die Flüchtlinge sammeln und auf ihre Schlepper warten. In der Nacht werden sie rübergefahren. In der Meerenge patrouillieren türkische und griechische Grenz­wachen, aber nicht immer – also ist das Risiko anzukommen fifty-fifty.

Die Türken sehen die Flüchtlinge immer nur aufbrechen, aber sie sehen nicht, was die Fliehenden auf der anderen Seite erwartet. Alle, die Türkinnen und die Flüchtlinge, denken, drüben ist das Paradies. Obwohl manchmal morgens auch Leichen an den Strand gespült werden. Man erklärt es sich mit unglücklichen Umständen. Meistens, so mein Vater, schweigt man.

Früher fuhr mein Vater (der einen Reisepass für den Schengen-Raum hat) manchmal auch rüber nach Lesbos. So bekam ich schon vor Jahren Bilder von der anderen Seite zu sehen und Berichte zu hören. Absperr­gitter, direkt am Hafen, Stachel­draht, dahinter verzweifelte Menschen, die ihre Finger durch den Draht krallen und um Wasser oder Baby­nahrung für die Kinder betteln. Betteln kann man es eigentlich nicht nennen. Weinen, winseln, es ist die ganze Bandbreite menschlichen Klagens.

Natürlich hilft man. Alle, die rüberfahren, helfen. Auch die griechische Bevölkerung hilft. Man fährt in den nächsten Kiosk, kauft Windeln, trockene Babymilch und Trinkwasser und versucht, die Waren irgendwie durch den Maschen­draht zu drücken. Aber einzelne Tages­reisende oder 85’000 Insel­bewohner können nicht 25’000 Menschen verpflegen. Meine Familie fährt schon lange nicht mehr rüber. Sie können den Anblick nicht mehr aushalten. Die Kinder, das Wimmern, die Trauer.

Und auf der anderen Seite dieses Kontinentes sitze also ich und schreibe Kolumnen über die Flüchtlinge. Menschen, von denen ich weiss. Die ich, als ich noch in die Türkei konnte, selber im Rahmen meiner Arbeit begleitete.

Als ich von den 47 Kindern hörte, die man sich zu holen durchringen konnte, war ich das erste Mal, seit ich diesen Beruf ausübe, so baff, so konsterniert, ich bin es immer noch. Ich denke: An wen richtet man denn eigentlich die ganze Zeit seine Worte? Das ist doch alles Wahnsinn.

Hier in Deutschland gibt es gegen die Zahl 47 von gesellschaftlicher Seite nichts einzuwenden. Wirklich, es ist, als ob es hier keine Oppositions­parteien gäbe. Als ob es keine Zivil­gesellschaft mehr gäbe. Als sei das jetzt völlig normal, dass es Lager in Europa gibt, in denen Kinder umher­irren. Und also habe ich hier zwar eine Menge Worte geschrieben, aber eigentlich bin ich sprachlos.

Selam
Ihre Kiyak

Illustration: Alex Solman

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