Covid-19-Uhr-Newsletter

Oktoberpest

21.04.2020

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Liebe Leserinnen und Leser

Abzapft is! Das Oktoberfest in München, die Wiesn, wurde heute abgesagt. Unser Republik-Produzent Christian Andiel stammt aus Bayern – und ist darauf auch ziemlich stolz. Für den Covid-19-Newsletter hat er aufgeschrieben, wieso der coronabedingte Wiesn-Ausfall für die 13 Millionen Bayern so schmerzhaft ist:

Wenn also sonst im September der Münchner Oberbürgermeister das erste Bierfass ansticht und «O’zapft is» ruft, Millionen von Fest- und Trinklustigen Dirndl und Krachlederne montieren, herrscht dieses Jahr auf der Theresienwiese tote Hose. Zuletzt musste dieses Trachten- und Volksfest 1948 abgesagt werden, es waren die Nachwehen des Zweiten Weltkriegs. Das sind historische Dimensionen.

Es sei unverantwortlich, angesichts einer drohenden Ansteckungswelle dieses Volksfest durchzuführen, sagte Ministerpräsident Markus Söder heute: «Ein Bierzelt lebt davon, keinen Abstand einzuhalten.»

Stimmt, schon in normalen Zeiten breitete sich in Bayern die «Wiesn-Grippe» ab Anfang Oktober grossräumig aus. In qualvoll überfüllten Bierzelten weiss nach diversen Mass Bier praktisch niemand mehr, welches Glas nun das eigene ist, und deshalb wird einfach das nächstbeste leer getrunken. So findet wirklich jedes Virus bestens genährt den Weg zur Nachbarin. Der Begriff «die besten Wirte der Welt» ist nirgends so doppeldeutig wie auf dem Oktoberfest.

Für München ist es heftig. Oberbürgermeister Dieter Reiter sprach heute von 1,2 Milliarden Euro Umsatz, die der lokalen Wirtschaft in diesen 16 Tagen flöten gehen. Sechs Millionen Besucherinnen sorgen auf dem grössten deutschen Volksfest dafür, dass die Hotels ihre Preise verdreifachen können und trotzdem ausgebucht sind. Mehr als 500 kleinere Unternehmer sind betroffen, mit 12’000 Angestellten, wie die «Süddeutsche Zeitung» schreibt: Schausteller, Mandelbrenner, Würstlbrater, Souvenirverkäufer.

Und natürlich: Die Wiesn ist ein Volksfest, das im bayrischen Leben seit 1810 fest verankert ist. Oberbürgermeister Reiter betonte, dass von den Besucherinnen 70 Prozent aus dem Bundesland stammen. Keine, die nicht schon mal dort war, die keine schöne Kindheitserinnerung hat, an den Steckerlfisch (Makrele auf dem Holzspiess), die Geisterbahn, die Hendln (gebratenes Poulet), die riesigen Kuscheltiere, die der Vater am Schiessstand heldenhaft erlegt hatte und die mit jeder Minute so viel schwerer wurden auf dem Arm.

Es ist keine wissenschaftlich belegte Zahl, aber ich vermute: 99,8 Prozent aller bayrischen Kinder haben ihren ersten Schluck Bier auf dem Oktoberfest bekommen.

Freilich dürfen wir die sehr unschönen Seiten nicht vergessen. Im letzten Jahr gab es offiziell 45 sexuelle Straftaten, allein in den ersten Wochen wurden drei Vergewaltigungen gemeldet. Die Dunkelziffer? Bleibt im Dunkeln.

Weniger dramatisch: Die mehr als sieben Millionen Liter Bier, die jährlich ausgeschenkt werden, müssen irgendwie entsorgt werden. Der Einfachheit halber geschieht das gerne an Bäumen und/oder in Nebenstrassen. Das Oktoberfest ist stadtweit zu riechen.

«Wir hoffen», sagte Oberbürgermeister Reiter, «dass wir das Oktoberfest nächstes Jahr nachholen, und zwar umso intensiver.» Sakra di, dann is ja ois guat!

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Die neuesten Fallzahlen: Gemäss dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zählt die Schweiz heute mindestens 28’063 positiv auf Covid-19 getestete Personen. Bis Anfang April kamen täglich neue Fälle im vierstelligen Bereich dazu. Mittlerweile liegt die Zahl im niedrigen dreistelligen Bereich.

ETH kündigt Tracing-App an: Bis zum 11. Mai soll die sogenannte DP3T-Contact-Tracing-App dem Bundesamt für Gesundheit vorliegen. Mit der dezentralen Smartphone-Applikation sollen sich Infektionsketten zurückverfolgen lassen. Über Bluetooth wird erfasst, ob und wie lange sich zwei Smartphones nahe gekommen sind. Am Projekt sind zahlreiche Forscher und private Unternehmen aus dem In- und Ausland beteiligt. Über die Hintergründe hat Republik-Autorin Adrienne Fichter recherchiert. Ihr Text dazu erscheint morgen Mittwoch auf republik.ch.

Massenentlassung bei Globus: Der Detailhändler entlässt im ersten Halbjahr rund 100 Angestellte am Hauptsitz in Zürich. Die Ergebnisse der letzten Jahre seien zu schlecht gewesen, begründet das die Warenhauskette gegenüber der Nachrichtenagentur AWP. Die Corona-Pandemie habe den Druck nun weiter erhöht. Die Geschäftsleitung hatte im März Kurzarbeit für fast das gesamte Personal angemeldet. Die finanzielle Unterstützung durch den Bund ist eigentlich dafür gedacht, genau solche Szenarien zu verhindern. Erlaubt sind Massenentlassungen dennoch.

Ölpreis stürzt ins Minus: Ein Fass der US-Standardsorte West Texas Intermediate (WTI) gab es gestern zeitweise für minus 40 US-Dollar. Abnehmer erhalten damit absurderweise beim Ölkauf Geld auf die Hand. Mit der Corona-Pandemie ist die Ölnachfrage weltweit zusammengesackt. Das hat die Lager der US-Produzenten überfüllt, weshalb sie ihr Öl dringend loswerden müssen. US-Präsident Donald Trump hat gestern Abend angekündigt, die nationalen Ölreserven aufstocken zu wollen, um die Lager zu entlasten. Der Benzinpreis, der nur zu einem Drittel vom Ölpreis bestimmt wird, sinkt vergleichsweise minimal.

Die besten Tipps und interessantesten Dinge zum Hören:

Heute legen wir Ihnen drei Podcasts nahe: einen von uns, einen aussergewöhnlich langen und einen eher traurigen.

Die Corona-Krise bringt uns dazu, alle möglichen Dinge digital zu erledigen. Das ist eigentlich eine gute Entwicklung, finden Republik-Autorin Adrienne Fichter und Digitalexperte Nicolas Zahn in ihrem Podcast-Dialog «The Good, the Bad and the Analog». Doch es gibt da noch ein paar Fallstricke.

Die Podcast-Reihe «Alles gesagt» von der «Zeit» kennt keine Grenzen. Man spricht so lange, bis eben alles gesagt ist. In der aktuellen Ausgabe erklärt der deutsche Aussenminister Heiko Maas unter anderem, warum er sich gerade wie der «Chef des noch einzigen geöffneten Reisebüros» fühlt. Sehr unterhaltsam. Aber zugegeben: Die gesamten dreieinhalb Stunden haben wir trotzdem nicht geschafft.

Viele Betagte sterben in den Altersheimen – nicht nur wegen Covid-19. Weil wir gerade keinen Zutritt zu den Heimen haben, scheiden viele Menschen einsam aus dem Leben. Die Angehörigen können sich nicht verabschieden. Was das für Bestattungen bedeutet, darüber spricht der Berliner Bestatter Eric Wrede in diesem Podcast.

Frage aus der Community: Muss ich nach einer Covid-19-Erkrankung mit Langzeitschäden rechnen?

Eine gesicherte Antwort gibt es auf diese Frage noch nicht. Die ersten Covid-19-Patienten aus China sind erst seit vier Monaten genesen. Es ist schlicht zu wenig Zeit vergangen.

Ein Blick auf andere Lungenerkrankungen macht immerhin vage Prognosen möglich. Momentan gehen Ärztinnen davon aus, dass Langzeitschäden möglich sind, und zwar an verschiedenen Organen wie an der Lunge, an den Nieren oder am Herz. Das Risiko besteht wohl grösstenteils dann, wenn die Erkrankung einen schweren Verlauf nimmt und der Patient an ein Beatmungsgerät angeschlossen werden muss. In einzelnen Fällen soll bereits ein milder Verlauf die Lunge von Patienten nachhaltig lädiert haben.

Grundsätzlich sind Schäden an Organen nichts Aussergewöhnliches bei schweren Lungenerkrankungen. Bei der ebenfalls von Coronaviren ausgelösten Lungenkrankheit Sars litt ein Drittel aller Erkrankten drei Jahre nach ihrer Genesung noch an einer beeinträchtigten Lunge. Nach fünfzehn Jahren waren die Symptome grösstenteils wieder verschwunden. Eine Lungenerkrankung kann aber auch in eine Fibrose münden, also das Lungengewebe vernarben. Ein irreparabler Schaden, wie er bei einem Drittel aller Mers-Erkrankten aufgetreten ist. Das deutsche Robert-Koch-Institut verweist zudem auf mögliche neurologische Schäden, wie sie in einzelnen Fällen in China beobachtet wurden.

Falls Sie an Covid-19 erkrankt sein sollten, bleiben Sie mit Ihrer Ärztin in Kontakt. Und geraten Sie nicht in Panik: Ihre Lunge braucht Zeit, um sich zu erholen. Es müssen nicht gleich Langzeitschäden sein.

Zum Schluss ein Blick nach Südamerika, wo versucht wird, mit einer riskanten Idee zum Normalzustand zurückzukehren

Chile wagt ein Experiment. Das reichste Land Lateinamerikas will nächste Woche eine Immunitätskarte einführen. Sie soll in erster Linie die Rückkehr an den Arbeitsplatz ermöglichen. In den Genuss eines solchen Ausweises kommt, wer mittels Test vorweisen kann, dass er genug Antikörper im Blut hat und somit immun gegen Covid-19 ist. Wer bereits infiziert war, darf dabei mindestens 14 Tage lang keine Symptome mehr verspürt haben. Die Staatssekretärin des Gesundheitsministeriums, Paula Daza, nannte sogar eine konkrete Zahl von Chilenen, die bislang für eine solche Karte infrage kämen: 4338. Kritiker warnen, dass man bezüglich einer Corona-Immunität noch im Dunkeln tappe. So wisse man noch immer nicht genau, ob bereits Infizierte tatsächlich immun blieben. Ausserdem seien die bestehenden Antikörpertests in ihren Resultaten noch zu ungenau.

Bleiben Sie kritisch, bleiben Sie freundlich, bleiben Sie gesund.

Bis morgen.

Philipp Albrecht, Christian Andiel, Ronja Beck und Oliver Fuchs

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.

PPPS: Mit der Corona-Pandemie kamen viele neue Fragen. Zuerst zum Medizinischen und dann sehr schnell zum Juristischen. Darf mich mein Arbeitgeber jetzt in die Ferien schicken? Und was ist, wenn ich an meinem Zügeltermin krank in Quarantäne sitze? Ein Team aus Juristen hat auf der Website corona-legal.ch die Antworten auf die drängendsten Fragen zusammengetragen. Wer keine Antwort findet, kann eine eigene Frage einreichen.

PPPPS: Kennen Sie das Lüchow-Dannenberg-Syndrom? Es beschreibt den Scheinzusammenhang von steigender Kriminalitätsrate und erhöhter Polizeipräsenz. Der anonyme Blogger «Der Kutter» bringt es in diesem Twitter-Thread mit der Polizeiarbeit während der Pandemie in Verbindung.

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