Binswanger

Jetzt wird es ungemütlich

Vier Wochen lang herrschte in Bern ein neuer Ton, die grosse Einigkeit. Nun folgt die Rückkehr der harten Grabenkämpfe.

Von Daniel Binswanger, 11.04.2020

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Zwei Köpfe von internationaler Ausstrahlung haben in den letzten Tagen zwei brillante Corona-Artikel publiziert. Sie kommen zu exakt entgegen­gesetzten Schlüssen – was bezeichnend ist für die aktuelle Situation. Der kurze Frühling des solidarischen Konsenses scheint definitiv vorbei zu sein.

Der eine Autor ist der französische Soziologe und Philosoph Bruno Latour, der eine hoffnungsvolle Analyse liefert, wie die Covid-Pandemie die Welt zum Guten ändern könnte: «Die erste Lektion des Corona­virus ist auch schon die wichtigste: Der Beweis wurde erbracht, dass es möglich ist, innerhalb weniger Wochen gleichzeitig überall auf der Welt ein Wirtschafts­system zum Stillstand zu bringen, von dem man uns bisher immer weis­machte, es sei nicht zu verlangsamen oder in eine andere Richtung zu lenken.»

Dass die Welt ganz plötzlich eine andere sein kann, ist für den Öko-Philosophen Latour nicht nur eine Bedrohung, sondern auch ein Versprechen. Allerdings nur unter einer Bedingung: «Das Letzte, was wir tun dürfen, ist, alles, was wir vorher machten, auf identische Weise wieder aufzunehmen.» Die durch die Epidemie geschaffene Disruption muss genützt werden, um den Lauf der Dinge zu verändern.

Latour plädiert dafür, dass wir uns «Unterbrechungs-Gesten» antrainieren. Genauso wie wir lernen müssen, mit hundert neuen Alltags­gesten – ständiges Hände­waschen, Klinken­putzen, Mund­schutztragen – die Infektions­ketten zu unterbrechen, sollten wir irrationale Verhaltens­weisen unterbrechen, indem wir uns fragen, was besser nicht weitergeführt würde.

Seinem Artikel beigefügt ist ein Frage­bogen, der anfängt mit: «Welches sind die heute unter­brochenen Aktivitäten, von denen Sie sich wünschen, dass sie nicht mehr aufgenommen werden?» Es geht weiter mit: «Welches sind die jetzt unter­brochenen Aktivitäten, von denen Sie sich wünschen, dass sie wieder aufgenommen werden und sich weiter­entwickeln? Oder welches sind die Aktivitäten, die zu ihrem Ersatz erfunden werden sollten?»

Wann, wenn nicht jetzt, soll sich das Leben ändern? Im vom Virus schrecklich heimgesuchten Paris wird der Latour-Artikel rege diskutiert. Er verniedlicht nicht die tödliche Heraus­forderung der Epidemie. Aber er eröffnet eine hoffnungs­volle Perspektive: Alles kann ganz anders werden – im Bösen wie im Guten.

Der andere Text ist vom Harvard-Ökonomen Dani Rodrik. Er trägt den Titel «Wird Covid-19 die Welt verändern?» und gibt schon im ersten Satz die Antwort: leider nein! Rodrik fängt damit an, dass der Covid-Ausbruch zwar eine Katastrophe, aber keinen Epochen­bruch darstelle – schon deshalb, weil vernünftig regierte Staats­wesen hätten darauf vorbereitet sein müssen, dass früher oder später eine Pandemie ausbricht. «Covid-19 ist eine Krise, die nur darauf wartete, sich zu ereignen», meint er lakonisch. Mit Sars gab es sogar so etwas wie eine General­probe. Fehlgeleitete Politik hat uns in die heutige Lage gebracht. Und fehlgeleitet dürfte die Politik auch nach der Krise bleiben.

Rodrik gibt einen kurzen Überblick über das Management der Krise in den verschiedenen Ländern: Trumps eitle und im heutigen Kontext mörderische Unfähigkeit, Chinas Mischung aus knall­harter Propaganda­lüge und effizientem Durch­greifen, Orbáns sofortiger Reflex, sich selber diktatorische Macht zu sichern. «Die Krise scheint den dominierenden Charakteristika der Politik eines jeden Landes schärfere Züge zu geben. Die Länder sind so etwas wie übertriebene Versionen ihrer selbst geworden», meint der Ökonom. So erhebend und wichtig die Unterbrechungs­gesten von Latour auch sind: Rodrik scheint einen Punkt zu haben.

Jedenfalls entsteht dieser Eindruck auch dann, wenn man sich die Entwicklung in der Schweiz anschaut. Wer im Anschluss an die Bundesrats­sitzung vom Mittwoch kurz die Augen schloss und einfach nur die Kakofonie der öffentlichen Debatte auf sich wirken liess, der hatte plötzlich das Gefühl, dass die alte Welt ganz unvermittelt wieder weitergeht.

War das Corona­virus vielleicht doch nur ein böser Traum?

Alle machen plötzlich wieder weiter, wie sie schon immer agiert haben: mit denselben ideologischen Scheu­klappen, mit denselben Profilierungs­strategien, mit derselben Klientel­politik. Nachdem während dreier Wochen ein nie da gewesener, kooperativer Ton gepflegt wurde in Bern, sind heute wieder alle in ihrer Rolle. Man muss lediglich hinzufügen: in einer übertriebenen Version.

Die FDP und die SVP rivalisieren wieder in sattsam bekannter Weise um den Pokal der sogenannten Wirtschafts­freundlichkeit. Nachdem die SVP schon am Dienstag letzter Woche einen Exit aus den Quarantänemassnahmen auf den 19. April verlangt hatte, sah Petra Gössi sich in der «NZZ am Sonntag» zum Nachzug gezwungen. Mit Bezug auf das 40-Milliarden-Rettungs­paket gab sie zu bedenken, dass es «zwei Generationen dauern» werde, bis die Schulden wieder abgetragen seien – eine, sagen wir mal, übertriebene Version der bewährten FDP-Rhetorik.

40 Milliarden sind nicht einmal 6 Prozent des heutigen BIP. In der Boom­zeit der Nuller­jahre hat die Schweiz innerhalb von genau drei Jahren ihre Staats­verschuldung um 10 BIP-Punkte abgebaut. Fünfzig Jahre für 6 BIP-Punkte erscheinen da wie eine absurd pessimistische Rechnung. Sie bliebe auch dann absurd, wenn es 50 BIP-Punkte wären. Aber offenbar ist das Argument, man nehme den Jungen irgendetwas weg, in der FDP zum Selbst­läufer geworden: passt immer! Auch wenn es implizit darum geht, die Botschaft auszusenden, dass es unter den lieben Senioren halt leider ein paar Corona-Tote mehr sein müssen.

Es dürfte ungemütlich werden in der Schweizer Politik – jetzt, da unter verschärften Bedingungen die alten Reflexe ausagiert werden wollen. Der rechts­bürgerlichen Gesinnung ist ein gewisses Pathos der Härte nie fremd gewesen. Heute will man «Wirtschafts­freundlichkeit» offenbar unter Beweis stellen, indem man vor höheren Todes­zahlen nicht zurückzuckt.

Avenir Suisse stellt frei fliegende Rechnungen an, um den viel zu «hohen Preis» von gewonnenen Lebens­jahren zu ermitteln. Reiner Eichenberger – in alter Frische provokanten Nonsens als ökonomische Abgeklärtheit verkaufend – hat einen grossen Auftritt als letzter Mohikaner der Durch­seuchung. Dass die Frage falsch gestellt ist, wie ein Paper des Massachusetts Institute of Technology eindrücklich darlegt; dass es den Trade-off von Todes­raten und Wirtschafts­entwicklung gar nicht gibt; dass im Gegenteil eine frühe Aufhebung von Quarantäne­massnahmen der wirtschaftlichen Erholung nicht nützt, sondern sie beschädigt: All das darf in diesen ideologischen Debatten keine Rolle spielen. Wer für die Wirtschaft ist, muss Härte zeigen – und sollte das der Wirtschaft schaden.

Auch für die Unterstützung von kleinen Betrieben hat diese Form der «Wirtschafts­freundlichkeit» natürlich nicht viel übrig. Für Miet­erlasse will der Bund sich nicht starkmachen. Genauso wenig wie für die Infra­struktur der Schweizer Krippen, die über die letzten Jahre mit hohen Subventionen aufgebaut wurde. Auch die Selbst­ständigen werden weiterhin gebeten, bitte eigen­verantwortlich zu bleiben. FDP und SVP beherrschen zwar nur noch den Bundesrat und sind weit davon entfernt, ein Mehrheits­mandat zu besitzen im Parlament. Aber unter Notrechts­bedingungen ist das ausreichend, um den Regierungs­kurs zu diktieren. Wer würde sich da genieren?

Die Schweiz gehört zu den Ländern, die am allerbesten aufgestellt sind, um die wirtschaftlichen Folgen der Covid-Epidemie aufzufangen. Sie ist sehr wohlhabend und startet mit einem extrem niedrigen Schulden­stand in die Krise. Ins Gewicht fällt auch die Tatsache, dass ihre mit Abstand wichtigste Export­branche inzwischen die Pharma­industrie ist – eine der wenigen Branchen, die von der Epidemie sogar profitieren könnten. Das alles wird aber wenig nützen, wenn eine fehl­geleitete Politik betrieben wird. Der finanzielle Spiel­raum ist nur dann hilfreich, wenn wir jetzt bereit sind, im richtigen Mass die Schulden zu erhöhen. Wenn aber die ideologischen Reflexe nicht suspendiert werden, ist vernünftiges Handeln auch bei uns nicht möglich.

Wir brauchen Unterbrechungs­gesten. Es wäre eine Tragödie, wenn Rodrik auf ganzer Linie recht behielte.

Illustration: Alex Solman

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