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Ist die Kindstöterin auch eine Mörderin?

Die Tat rüttelt auf: Eine Mutter erstickt ihr Neugeborenes und wirft es in den Müll. Dafür muss sie bestraft werden. Die Frage ist: Welche Strafe ist angemessen?

Von Brigitte Hürlimann, 01.04.2020

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Das Kind wäre heute vier Jahre alt, doch es hat keine drei Stunden lang gelebt. Es ist in einer Bade­wanne zur Welt gekommen, mitten in der Nacht, Anfang Dezember 2015, und die gebärende Mutter hatte niemanden zur Seite, der ihr half. Im Neben­zimmer schliefen ihre drei kleinen Kinder, die ein paar Stunden später von ihr das Frühstück bekamen und danach zur Schule und in die Krippe gingen. Sie merkten nichts vom Drama in ihrer Wohnung.

Die damals 33-jährige alleinerziehende Mutter war in jeder Hinsicht überfordert. Sie hatte die vierte Schwangerschaft so lange wie möglich ihrem Umfeld – auch dem Kindsvater – verheimlicht. Sie befürchtete negative Reaktionen. In ihrer schwierigen Situation noch ein viertes Kind grossziehen? Allein und als IV-Bezügerin? Bei einem Spital­aufenthalt flog die Schwangerschaft auf. Die Frau äusserte damals den Wunsch, das Kind möge zur Adoption freigegeben werden. Doch dazu kam es nicht. Die Mutter erstickte das Neugeborene rund zweieinhalb Stunden nach der Geburt im Bade­zimmer und versteckte anschliessend den Leichnam im Kleider­schrank. Als die drei Kinder die Wohnung verliessen, entsorgte sie das tote Baby im Müll. Das Entsetzen in der Schweiz war gross, als der Vorfall an die Öffentlichkeit drang.

Die Mutter musste sich strafrechtlich für die Tötung des Neugeborenen verantworten. Sie hatte die Tat zehn Tage später im Spital, bei einer seit längerem vereinbarten Schwangerschafts­kontrolle, gestanden. Sie sei erleichtert gewesen, darüber reden zu können, gab der Arzt gegenüber den Straf­verfolgern zu Protokoll. Seit der Kinds­tötung ist die Frau in psychiatrischer Behandlung. Und sie hat sich unterbinden lassen.

Doch was ist die angemessene Strafe für eine Mutter, die eine derart schreckliche Tat begeht – in einer derart schrecklichen Ausnahme­situation? Über diese Frage gingen die Auffassungen diametral auseinander.

Die Walliser Staats­anwaltschaft forderte zehn Jahre Freiheits­strafe wegen Mordes. Die erst- und zweit­instanzlichen Gerichts­instanzen hingegen wandten den Spezialtatbestand der Kindstötung an: «Tötet eine Mutter ihr Kind während der Geburt oder solange sie unter dem Einfluss des Geburts­vorganges steht, so wird sie mit Freiheits­strafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.» Das Walliser Kantons­gericht sprach eine bedingte Freiheits­strafe von 24 Monaten aus. Die Staats­anwaltschaft akzeptierte das Urteil nicht und gelangte vor Bundesgericht.

Ist die Mutter eine ruch- und skrupellose Mörderin, oder darf sie vom privilegierten Tatbestand der Kinds­tötung profitieren?

Privilegiert bedeutet in diesem Zusammen­hang: Der Gesetz­geber hat sich dafür entschieden, dem Ausnahme­zustand einer Gebärenden oder einer Frau unmittelbar nach der Geburt Rechnung zu tragen. Tötet sie in dieser Situation ihr Neugeborenes, soll sie anders – milder – behandelt werden als andere Täter.

Dieses Privileg einzig für die Mütter hat historische Gründe. Es ist in Zeiten entstanden, als Frauen wegen unerwünschter oder ausser­ehelicher Schwanger­schaften geächtet und ausgegrenzt wurden. Ob dies heute noch der Fall ist, auch darüber herrscht eine Kontroverse. Fakt ist, dass allein­erziehende Mütter bis heute in einem grossen Ausmass armuts­betroffen sind. Wirtschaftlich an den Rand gedrängt oder gar sozialhilfe­abhängig zu werden, stellt ebenfalls eine Form von Ausgrenzung dar.

Das Bundesgericht wendet im Fall der Walliser Mutter ohne Wenn und Aber den privilegierten Tatbestand der Kinds­tötung an. Es widerspricht der Staats­anwaltschaft, die von einem Mord ausging, weil die Frau gemäss Gutachter zur Tatzeit keine psychischen Störungen aufgewiesen habe. Eine solche Störung müsse nicht vorliegen, so das Bundes­gericht, andernfalls würde die Spezial­norm der Kinds­tötung «jeglicher Bedeutung entleert». Das Gesetz stelle die unwiderlegbare Vermutung auf, dass die Verantwortlichkeit der Mutter während des Geburts­vorgangs sowie während einer gewissen Zeit danach verringert sei.

In der Schweiz kommt es äusserst selten zu Verurteilungen wegen Kinds­tötung; gemäss Basler Strafrechts­kommentar waren es seit 2006 nur gerade zwei Entscheide in Anwendung des bereits oben erwähnten Artikels 116 des Straf­gesetz­buchs. In den 1960er-Jahren hingegen wurden noch durchschnittlich acht Mütter pro Jahr wegen Kinds­tötung bestraft, seither bewegen sich die Zahlen stetig nach unten, mit zwei statistischen Ausreissern 1974 und 1984 – aber auch hier auf tiefstem Niveau.

Der Bundesrat hatte ursprünglich geplant, den privilegierten Tatbestand der Kindstötung bei der Überarbeitung des Strafgesetzbuchs zu streichen. Mütter, die ihre Kinder während oder kurz nach der Geburt töten, würden dann anhand der übrigen Tötungs­delikte beurteilt und allenfalls bestraft, also wegen fahrlässiger oder vorsätzlicher Tötung, Totschlags – oder vielleicht auch wegen Mords. Dieses Vorhaben stiess in der Vernehmlassung auf Kritik und wurde vom Bundesrat deshalb wieder fallen gelassen.

Urteil 6B_1311/2019, im Internet publiziert ab dem 1. April 2020, 13 Uhr, unter www.bger.ch

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