Gesellschaft mit verschränkter Haftung

Das Coronavirus zeigt einmal mehr: In der Krise retten die Bürgerinnen die Wirtschaft – nicht umgekehrt.

Von Olivia Kühni, 01.04.2020

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Es war ein regnerischer Januartag im Jahr 2003, als der Ökonom Robert E. Lucas mit einer frohen Botschaft vor sein Publikum im Washingtoner Grand Hyatt Hotel trat: Die Ökonomie hatte gesiegt. «Wir haben unsere wichtigste Aufgabe, das Vorbeugen von wirtschaftlichen Depressionen, erledigt», verkündete Lucas. «Und wir haben sie auf viele Jahrzehnte hinaus erledigt.»

Fünf Jahre später brachen in der zweitgrössten Finanzkrise der Geschichte erst das weltweite Banken­system und dann beinahe mehrere Staaten der Eurozone zusammen. Jetzt bringt das Corona­virus die nächste globale, in ihren Folgen wahrscheinlich noch heftigere wirtschaftliche Krise.

Die Aufgabe ist nicht erledigt. Sie hat gerade erst richtig begonnen.

Ein krisenanfälliges System

«Die letzten 2,5 Millionen Jahre Wirtschafts­geschichte lassen sich in Kürze so zusammenfassen», schreibt Eric D. Beinhocker vom Institute for New Economic Thinking in Oxford. «Sehr, sehr, sehr lange Zeit passierte kaum etwas – und dann brach auf einen Schlag die Hölle los.»

Noch im Jahr 1800 hatten zwar einzelne Länder wie Gross­britannien und ein Teil Kontinental­europas die Industrialisierung bereits begonnen – der überwiegende Teil der Erde aber war weiterhin arm. Der Welt­handel hielt sich in Grenzen: Exportierte und importierte Güter machten zusammen weniger als 10 Prozent der Wirtschaftsleistung aus.

Dann begannen erst die reichen Länder Europas und die USA untereinander zu handeln – doch selbst 1970 kamen Handels­waren nur auf ein knappes Viertel des BIP. Erst in den vergangenen zwei Generationen, und besonders nach dem Fall der Berliner Mauer und der Öffnung Chinas, explodierte der Welthandel. Heute übersteigt er 50 Prozent der globalen Wirtschafts­leistung.

Das ist in der Geschichte des Planeten einzigartig. Falls Sie es sich noch besser vorstellen wollen, schauen Sie sich diese Karte mit allen Schiffen an, die an einem Tag im Mai 2012 unterwegs waren (inklusive CO2-Ausstoss).

Diese Entwicklung ist drastisch und hat entsprechend drastische Folgen, meist gleichzeitig schöne wie schwierige.

Unter vielen anderen etwa diese:

Die Auswirkungen des globalisierten Kapitalismus sind so weitreichend und vielschichtig, dass wir erst angefangen haben, sie zu erfassen – und wir werden vieles wohl erst im Rückblick wirklich verstehen. Klar ist: Er hat nicht nur viele Menschen reicher gemacht (nicht alle im gleichen Mass). Sondern auch die Welt nervöser, fragiler und krisen­anfälliger als je zuvor.

Das hat mit einer schlichten Tatsache zu tun, auf die etwa Physikerinnen und Risiko­experten seit langem hinweisen: Die Weltwirtschaft ist ein sogenannt komplexes System. Um den Planeten zieht sich ein Netzwerk aus Milliarden von Menschen, Beziehungen, Erwartungen, Entscheiden und Abhängig­keiten. Dieses System ist das, was die heutige globalisierte Wirtschaft so faszinierend macht. Doch es ist gleich­zeitig ihre Achilles­ferse: Ein komplexes System ist wegen seiner vielen Wechsel­wirkungen komplett unberechenbar. Es entwickelt eine Art Eigenleben.

Das bedeutet: Die Wahrscheinlich­keit einer unvorhergesehenen Kata­strophe ist gross. Und sie wird in immer höherem Tempo grösser – mit jeder neuen Vernetzung, jeder Handels­beziehung, jeder zusätzlichen Milliarde an Geldern, die im weltweiten Finanz­system zirkuliert.

Krisen sind also keine Ausnahme­erscheinung. Sie sind zu erwarten.

Business über alles

Diese Erkenntnis wurde in den Wirtschafts­wissenschaften lange ignoriert.

1995, also acht Jahre, bevor er in Washington das vorläufige Ende aller Gross­krisen verkündete, hatte Robert E. Lucas den Wirtschafts­nobelpreis erhalten. Er hatte vorgerechnet, wie die Erwartungen von Menschen ihr Verhalten in Märkten beeinflussen – und dass, weil diese Erwartungen immer rational sind, letztlich auch der Markt vernünftig ist. Dass also, wie die «Financial Times» später spottete, «der Markt immer recht hat».

Lucas war ausserdem Vorsteher des Wirtschafts­departements der Universität Chicago, der «Hohen Priesterschaft der Mathiness» (der weltfremden Mathe­verliebtheit), zu der auch der noch bekanntere Milton Friedman gehörte. Und die seit den 1960ern bis vor wenigen Jahren die Wirtschafts­wissenschaften dominierte. Sie vertrat zwar nie die einzig mögliche Perspektive in der Ökonomie, und insbesondere in den Jahren seit der Finanz­krise hat sich viel verändert. Doch sie hält insbesondere in den USA bis heute die Deutungshoheit über Denken und Politik.

Die Grundidee der Chicago School, stark vereinfacht: Business über alles. Der Markt schafft, sofern in Ruhe gelassen, immer wieder von alleine ein optimales Gleich­gewicht. Darum reicht es, überall funktionierenden Wettbewerb zu schaffen (wenn nötig künstlich). Und alles wird gut.

Dieses Bild eines automatischen harmonischen Gleich­gewichts erinnert nicht zufällig an die mechanischen Grundsätze von Isaac Newton: Es geht bis heute zurück auf die «unsichtbare Hand» des ersten grossen Wirtschafts­philosophen Adam Smith. Der lebte nur wenige Jahre nach Newton und war von dessen Ideen nachweislich beeindruckt.

Das Problem ist nur, dass eben nicht einfach alles gut wurde. Sondern im Gegenteil manches sehr schlecht: Die USA ist eines der wenigen Länder, in dem die Lebenserwartung stagniert, die Einkommensungleichheit wächst und die allgemeine Zufriedenheit der Menschen sinkt. Dazu kommt in manchen Land­strichen «ein richtig­gehender Nieder­gang», wie der Ökonom David Dorn sagt, der als einer der ersten die Auswirkungen des Handels mit China auf die Situation der amerikanischen Arbeit­nehmer erforschte. Mehr Menschen als in irgend­einem anderen reichen Land (rund 16 Prozent) haben in den Vereinigten Staaten keine Gesundheits­versicherung.

Kurz: Die amerikanische Gesell­schaft ist denkbar schlecht gerüstet für die Heraus­forderung, die die Corona-Krise an jedes einzelne Land stellen wird. Denn die «Hohepriester der Mathiness» haben sich geirrt: Ein möglichst wilder Cowboy-Kapitalismus löst nicht einfach alles. Wieso auch? Der erste Job von Unter­nehmen ist es, Produkte und Dienst­leistungen anzubieten und dabei möglichst schlau zu wirtschaften. Er ist anspruchsvoll genug.

Eine resiliente Gesell­schaft, ein intaktes Ökosystem oder eine Zukunft für möglichst viele sind weder die Aufgabe noch die Kern­kompetenz von Unternehmen. Auch nicht die langfristige Stabilität der Volkswirtschaft.

Genau dafür braucht es Politik.

Was Nationen erfolgreich macht

Die beiden Ökonomen Daron Acemoğlu und James A. Robinson haben sich in über 15 Jahren Recherche­arbeit die Schicksale von Dutzenden Staaten zu unterschied­lichen Zeit­punkten der Welt­geschichte angeschaut. Sie wollten wissen, was genau darüber entscheidet, ob ein Staat langfristig Erfolg hat oder untergeht. Ihre Ergebnisse publizierten sie 2012 in einem 500-Seiten-Buch mit dem Titel «Why Nations Fail» (Wieso Nationen scheitern). Und das Fazit war klar.

Mit Ländern verhält es sich ähnlich wie mit den Familien in Lew Tolstois «Anna Karenina»: Jede unglückliche Nation ist auf ihre eigene Weise unglücklich. Alle glücklichen Nationen aber gleichen einander: Sie haben und hatten alle etwas gemeinsam, das Acemoğlu und Robinson «inklusive Institutionen» nennen: einen Rechts­staat mit Eigentums­rechten, Gewalten­teilung und einer Regierung, die ihren Bürgern Rechen­schaft ablegen muss, sowie ein politisches System, das möglichst vielen Menschen ermöglicht, sich einzubringen und aufzusteigen.

Die klassischen Ökonomen liegen richtig, wenn sie für die Innovations­kraft der Wirtschaft auf die Cleverness jedes Einzelnen bauen statt auf die Heils­pläne von Bürokraten. Doch sie irren sich, wenn sie glauben, dass es verordneter Wettbewerb und eiserne Härte sind, die Menschen ermächtigen.

Das Fundament ist ein Staat, der seine Bürgerinnen ernst nimmt und ernst nehmen muss – erst dann kommt der wirtschaftliche Erfolg.

Das «antifragilste Land»

In der Schweiz haben das die Bürgerinnen immer verstanden – und ihren Auftrag zur System­stabilität wahrgenommen. Über die Jahr­zehnte haben sie sich allerlei Bockig­keiten geleistet, von denen die «Hohe Priester­schaft der Mathiness» ausdrücklich abgeraten hätte. Und die dem Land jetzt zugute­kommen.

Sie weigerten sich etwa, das Gesundheits­system oder andere öffentliche Infra­strukturen komplett zu privatisieren – selbst dann, als solche Vorhaben en vogue waren. Sie hielten stets stur an der Berufs­lehre fest, statt alle jungen Menschen auf Universitäten zu schicken, und schützten die Löhne ihrer Handwerkerinnen und Klein­unternehmen mit den flankierenden Massnahmen zur Personen­freizügigkeit.

Unter anderem deswegen hat die Schweiz eine beeindruckende Dichte an Unternehmen: eines pro 14 Einwohnerinnen. 99 Prozent davon sind mittlere und kleine Unternehmen. Die Schweiz steht weltweit nach Japan auf Platz 2 des «Economic Complexity Index», der die unter­nehmerische Vielfalt von Volks­wirtschaften beschreibt. Das heisst: die Schweiz produziert und exportiert nicht wenige, einfache Güter wie beispiels­weise nur Stahl oder Kautschuk, sondern viele verschiedene und fein ziselierte Güter: Uhren, Präzisions­instrumente, pharmazeutische Wirkstoffe und Medikamente.

Kurzfristig und im Detail macht diese starke internationale Vernetzt­heit das Land anfälliger für Ausfälle. Insgesamt und auf lange Sicht macht sie die Volks­wirtschaft resilient – wenn etwas scheitert, fällt nicht gleich die ganze Produktion in sich zusammen.

Auch den Freihandel betrieb die Schweiz nie radikal. Sie war insbesondere immer stur in Bezug auf die Landwirtschaft. Wir bauen 60 Prozent von dem, was wir essen, selber an – trotz Mikro­flächen, Berghängen und hohen Kosten. Die Bürgerinnen haben den Schutzzaun aus Zöllen und Subventionen um ihre Bauern über die Jahr­zehnte hinweg mit Zähnen, Klauen und Heugabeln verteidigt.

Aus Effizienz­sicht eine grosse Dummheit – aus Sicht der Resilienz, also der Robustheit der ganzen Gesell­schaft, möglicherweise ganz und gar nicht.

Die Schweiz ist nicht das turbo­kapitalistische Land, als das sie manchmal gezeichnet wird. Genau das ist ihre Stärke. Der notorisch unhöfliche Autor Nassim Nicholas Taleb, der seine Bücher der Unberechenbar­keit von Krisen widmet, bezeichnet sie als das «antifragilste Land des Planeten».

Trotzdem: Die Aufgabe ist auch in der Schweiz nicht erledigt.

Sie hat gerade erst begonnen. Und die Corona-Krise wird zeigen, wo die Bürger möglicher­weise noch viel, viel stärker bocken sollten.

Der Job der Politik

Ein Beispiel. In den Jahren 2017 und 2018 fehlten in der Schweiz, einem der reichsten Länder der Welt, zahlreiche Medikamente. Keine exotischen, sondern Alltagsware wie beispielsweise Schmerzmittel, Antibiotika oder Impfstoffe. Immer wieder kommt es deswegen in Spitälern zu Engpässen.

Die Hauptursache benennt das Bundesamt für wirtschaftliche Landes­versorgung in bezaubernder Aufrichtigkeit:

Die Globalisierung der vergangenen Jahre hatte zur Folge, dass einerseits bei den Anbietern und andererseits bei den Produktionsstandorten weltweit eine Konzentration stattfand. Gleichzeitig wurden die Lagermengen aus Kostengründen auf allen Stufen abgebaut. Die Versorgungsketten von Heilmitteln sind dadurch entsprechend anfälliger geworden.

Quelle: Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung.

In einem Bericht hält das Amt zudem fest, dass Versorgungs­störungen kaum die innovativen Produkte betreffen würden, sondern hauptsächlich jene, bei denen die ökonomischen Anreize für die lokale Produktion zu klein seien.

Mit anderen Worten: In der Schweiz, einem der wichtigsten weltweiten Pharma­standorte, fehlen Medikamente, weil die Hersteller – in fast allen Ländern vom öffentlichen Gesundheits­wesen subventioniert – sie aus Profit­gründen nur noch in Asien produzieren. Dasselbe gilt für manche Medizinal­produkte.

Hier, beispielsweise, braucht es die Politik.

Denn selbstverständlich sorgen individuelle Unter­nehmen immer gegen Engpässe vor. Sie optimieren ihre Liefer­ketten – und diversifizieren nach Corona vielleicht etwas mehr als zuvor. Aber sie tun es haupt­sächlich dort, wo es sich für sie lohnt. Wie gesagt: Das ist schliesslich ihr erster Job.

Die Aufgaben von Politik hingegen sind das Wohl und die Zukunft der ganzen Gesellschaft. Wie der Bundesrat darauf zu vertrauen, dass «der Markt» die Medikamente schon irgendwie bescheren werde, und man sonst im Notfall immer noch handeln könne, ist naiv. Der Notfall steht – zum Beispiel bei Antibiotika – längst vor der Tür.

In den nächsten Monaten werden es einmal mehr die Bürgerinnen sein, die in der Krise gemeinsam die Wirtschaft auffangen – nicht umgekehrt. Darum ist es nicht nur unser Recht, Bedingungen zu schaffen, die das System stabilisieren.

Es ist auch unsere Pflicht.

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