Strassberg

Verdammt wirklich!

Lange war die Überzeugung in Mode, alle sozialen Realitäten seien bloss Konstrukte. Das ist aus mehreren Gründen problematisch. Und in Zeiten der Corona-Krise ganz besonders.

Von Daniel Strassberg, 31.03.2020

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Ich stehe ziemlich unter Druck. Ich bin wohl der letzte Kolumnist, der sich noch nicht zur Corona-Krise geäussert hat, und allmählich geht der Vorrat an verfügbaren Meinungen zur Neige. Die Befürchtung: Man könnte merken, dass im Moment das Wissen von Epidemiologinnen, Infektiologen, Intensiv­medizinern, Ökonominnen und Logistikern und die Arbeit von Journalistinnen, Pflegern und Bäckerinnen ungeheuer wichtig, die Meinungen von Philosophinnen und Psycho­analytikern aber bestenfalls entbehrlich sind. Glücklicherweise habe ich noch eine Meinung gefunden, die offenbar vergessen gegangen ist:

Das Coronavirus ist wirklich.

Selbstverständlich ist es wirklich, wenden Sie zu Recht ein. Ist doch trivial, was soll es denn sonst sein? Nun, es könnte konstruiert sein. So wie das Geschlecht, die Rasse oder die Identität bloss gesellschaftliche Konstrukte sind. Beinharte Konstruktivisten haben sich auch schon zur Behauptung verstiegen, das Mycobacterium tuberculosis, das für die Tuberkulose verantwortliche Bakterium, habe vor Robert Koch nicht existiert.

Das Virus macht es also erforderlich, wieder einmal zu definieren, was Wirklichkeit ist. Meine Lieblings­definition stammt vom kanadischen Philosophen Charles Taylor (*1931).

Real ist das, womit man fertigwerden muss, was nicht allein deshalb verschwindet, weil es nicht den eigenen Vorurteilen entspricht. Aus diesem Grund ist das, was man im Leben unweigerlich in Anspruch nehmen muss, etwas Reales bzw. etwas so annähernd Reales, wie man es zurzeit erfassen kann.

Aus: Charles Taylor, «Quellen des Selbst», S. 117

Davon gibt es eine Populärversion von John Lennon: «Life is what happens to you while you’re busy making other plans.» Nach diesen Definitionen ist das Coronavirus ungemein wirklich. Wir müssen mit ihm fertig werden, obwohl wir andere Pläne hatten. Ich wollte beispiels­weise nach Peru reisen.

Nicht alles am Konstruktivismus ist falsch. Tatsächlich bestimmen gesellschaftliche Konventionen die Wahr­nehmung von und den Umgang mit Kategorien wie Geschlecht oder Rasse. Das ist ebenso richtig wie trivial. Um sie interessant zu machen, wurde die an sich richtige Behauptung so erweitert, dass sie anfing, für schlichtweg alles zu gelten. Plötzlich waren nicht nur Geschlecht oder Rasse, sondern auch Bäume, Viren und Bananen­schalen gesellschaftliche Konstrukte. Der Signifikant bestimmt das Signifikat, raunte man damals in Paris, das Zeichen bestimmt das Bezeichnete, und alle nickten ehrfürchtig (auch der Autor dieser Zeilen).

Das Problem des Konstruktivismus ist die Entgegen­setzung von «wirklich» und «konstruiert». In den 1960er- und 1970er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts galt: Was konstruiert ist, existiert nicht wirklich, sondern ist lediglich ein Diskurs­effekt – als ob eine Uhr nicht konstruiert und wirklich zugleich ist. Schizophrenie beispiels­weise gibt es nicht wirklich, hiess es, sie sei vielmehr ein gesellschaftliches Konstrukt, das geschaffen wurde, um unliebsame Menschen wegzusperren.

Diese Art des Konstruktivismus erzeugt einen absurden Andorra-Effekt: eine Stigmatisierung wird kritisiert, nicht weil sie eine Stigmatisierung ist – sondern weil sie nicht «echt» sein soll.

In Max Frischs Theaterstück «Andorra» wird der Junge Andri verfolgt, obwohl er kein Jude ist. Heisst das, die Verfolgung und die Ausgrenzung wären gerecht­fertigt gewesen, wenn Andri ein Jude gewesen wäre? Dürfte man schizophrene Menschen einsperren und demütigen, wenn es Schizophrenie tatsächlich gäbe? Wäre es in Ordnung, Frauen zu diskriminieren, wenn das Geschlecht biologisch wäre? Könnte man das Böse aus der Welt schaffen, wenn nur der Beweis gelingen würde, dass es ein Konstrukt ist?

An einen solchen Konstruktivismus kann man genau fünf Minuten glauben, erklärte der französische Wissenschafts­philosoph Bruno Latour süffisant, um dann hinzuzufügen, na, vielleicht sind es doch dreissig Minuten. Es ist tatsächlich zu hoffen, dass das Coronavirus diese Spielart des Konstruktivismus ein für alle Mal beerdigt.

Doch das Problem mit der Wirklich­keit hat sich damit nicht erledigt. Sie wird zwar nicht mehr konstruktivistisch wegerklärt, aber sie wird technisch überwunden. Eine Definition der Technik, die Taylors Definition der Wirklich­keit ernst nimmt, müsste nämlich lauten: Technik ist der Versuch, die Wirklich­keit zum Verschwinden zu bringen.

Die übliche Erklärung für die Entstehung von Technik lautet: Sie wurde erfunden, um den Menschen die Arbeit zu erleichtern oder Arbeiten zu ermöglichen, die mit Muskel­kraft allein nicht zu bewältigen sind. Entsprechend sind Maschinen Prothesen, die menschliche Organe verbessern oder ersetzen, der Hammer eine Armprothese, der Computer eine Hirnprothese. Diese Erklärung scheint im ersten Augenblick plausibel. Doch schaut man genauer hin, leuchtet sie nicht mehr so recht ein: Welche Arbeit erleichtert ein Grammofon, welches Organ ersetzt eine Playstation? Die machen doch eher Arbeit, als dass sie Arbeit abnehmen.

Nein, es geht um viel mehr als um Arbeits­erleichterung. Technik soll die Grenzen zum Verschwinden bringen, denen wir als körperliche Wesen ausgesetzt sind: Die Schwer­kraft drückt uns zu Boden – wir erfinden das Flugzeug; die Stimme trägt nur wenige Meter weit – wir erfinden das Telefon; Muskeln können nur lächerlich wenig Gewicht stemmen – wir erfinden Kräne; Bilder zerrinnen – wir erfinden die Fotografie; Beine ermüden schnell – wir erfinden das Automobil. Maschinen werden an unserer statt mit der Wirklich­keit fertig. Im Sci-Fi-Film «Surrogates» (USA 2009, deutsche Version: «Mein zweites Ich») hat jeder Mensch seinen direkt an das Gehirn angeschlossenen Avatar, der für ihn lebt, während der biologische Besitzer, auf einer Couch liegend, das Leben ungefährdet geniesst.

Der Film, übrigens recht spannend, ist eine perfekte Allegorie auf die technische Wirklichkeit: Maschinen leben für uns. «Die hölzernen Zwerge, indem sie spielen, über­nehmen gewisser­massen unser Leben. Sie werden wirklicher als wir, und es kommt zu Augen­blicken eigentlicher Magie; wir sind, ganz wörtlich, ausser uns», notiert Max Frisch nach dem Besuch eines Puppenspiels in sein Tagebuch. Er könnte dasselbe von Maschinen schreiben.

Die Technik übernimmt, verbessert und ersetzt die meisten unserer körperlichen Funktionen, weil Maschinen meist schneller, genauer, unermüdlicher, stärker, emotions­loser und für uns sicherer als der menschliche Körper sind. Schauen Sie sich nur einmal Ihre Küchen­geräte an, wie sie für Sie schneiden, rühren, schlagen, reiben usw. Dieses disembodiment, diese Entkörperlichung, muss ironischerweise im Fitness­center künstlich rückgängig gemacht werden, damit der Körper nicht zugrunde geht. Im Fitness­center wird unser Körper zum Surrogat des Surrogats.

Die Sprache spiegelt die Verlagerung der Wirklich­keit in die Maschinen wider. Die technische Welt ist von Begriffen durchsetzt, die der Natur entstammen: Apple, Black­berry, Drohne, Roboter­arm und eben – Virus. Wenn jemand vor vier Monaten geklagt hat, er habe ein Virus erwischt, dachte jeder und jede an ein Computervirus. Wenn heute jemand sagt, sie habe ein Virus, denkt man zuerst an Corona. Diese Rückkehr der ursprünglichen Bedeutung zeigt an, dass der Glaube an das disembodiment erschüttert ist, daran also, dass die Technik unsere Abhängig­keit vom Körper überwinden kann.

Dies ist um Gottes willen keine Mahnung, das Coronavirus als Zeichen zu verstehen, kein technik­kritischer Aufruf zur Rückkehr zur Natur, auch nicht dieses merkwürdige Salbadern von der Läuterung der Menschheit durch Corona. Das ist alles pseudo­religiöser Quatsch, die Natur mahnt nicht, und sie sendet auch keine Zeichen, sie hat gerade anderes zu tun. Und Menschen ändern sich nur schwer. In ein paar Monaten erzählt man sich lustige Geschichten aus der Quarantäne und macht weiter wie bisher – ausser diejenigen, die ihre Liebsten verloren haben.

Nein, dies war vielmehr ein Versuch, darauf aufmerksam zu machen, dass die Technik manchmal die Illusion erzeugt, die Wirklich­keit vollständig absorbieren zu können, selbst bei ausgewiesenen Technik­kritikern. Doch es wird immer etwas geben, womit wir und nicht die Maschinen fertigwerden müssen. So wie das Coronavirus. Vor Corona war es das Ladegerät des Smartphones, das wir zu Hause vergessen hatten.

Illustration: Alex Solman

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