Binswanger

Ende der Schonzeit

Die Schweiz, gewappnet gegen alles – aber nicht gegen Pandemien. Das Coronavirus trifft die helvetische Identität ins Mark.

Von Daniel Binswanger, 28.03.2020

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Gott sei Dank haben wir eine Debatte jetzt nicht mehr zu führen: Die Tatsache, dass die Eidgenossenschaft in einem Zustand verblüffender Unvorbereitetheit in die grösste Epidemie-Krise seit hundert Jahren hineingeraten ist, darf als gesichert gelten.

Warum musste der ehemalige BAG-Direktor Thomas Zeltner im Dezember 2018 notgedrungen feststellen, dass die vorhandenen Spitalbetten-Reserven zwar weit zurückbleiben hinter den Vorgaben des nationalen Pandemieplans, dass aber die Kantone den notwendigen Ausbau der Kapazitäten «bislang nicht oder nur unvollständig umgesetzt» hätten?

Warum zeichnet sich heute ab, dass es bei der strategischen Reserve an lebenswichtigen Medikamenten – den sogenannten Pflichtlagern der Spital-Apotheken – gleich zwei Probleme gibt, wie das «Echo der Zeit» vom Donnerstag aufdeckte: Erstens sind sie nicht ordnungs­gemäss mit Antibiotika aufgestockt. Zweitens werden ihre regulären Schmerzmittel­bestände nicht ausreichen zur Bewältigung der Corona-Intensivfälle. Werden Pflichtlager nicht für Krisen­situationen konzipiert?

Warum arbeitet, wie die Republik recherchiert hat, das BAG mit einem veralteten Erfassungs­system für Fallzahlen, das ineffizient und lückenhaft ist? Warum müssen Freiwillige aushelfen, um das Meldewesen einigermassen in den Griff zu kriegen? Die Liste lässt sich verlängern.

Nein, wir sind nicht vorbereitet.

Es ist nicht der Moment für Schuld­zuweisungen, auch das ist klar. Es ist gerade herzlich egal, ob nun der Bundesrat, die Kantone, die Verwaltung, die Armee oder die institutionellen Akteure des Gesundheits­systems die Verantwortung dafür tragen, dass die gegebene Infra­struktur zur Bewältigung dieser Krise alles andere als optimal ist.

Es kommt einzig darauf an, dass wir mit allen zur Verfügung stehenden Ressourcen das Beste aus der Lage machen. Genau deshalb müssen Mängel und Engpässe tabulos diskutiert werden. Die Fallzahlen müssen abflachen, die Lernkurve aber muss hochschnellen. Es gilt auch anzuerkennen, dass beim Ausbau der Testkapazitäten und bei der Bereit­stellung von zusätzlichen Intensivbetten in kurzer Zeit grosse Fortschritte gemacht worden sind.

Schliesslich sind auch andere reiche Länder mit gut ausgebauten Gesundheits­systemen von Corona kalt erwischt worden – vom Total­versagen der Trump-Regierung wollen wir gar nicht erst reden. Aber wir sollten uns nicht täuschen: Im Hinblick auf den Umgang mit Jahrhundert­krisen und Gross­katastrophen ist die Schweiz eben nicht wie jedes andere Land. Das Coronavirus trifft die helvetische Identität ins Mark. Und um mit kühlem Kopf und heissem Herzen durch diese Epidemie zu kommen, müssen wir uns auch dieser Tatsache stellen.

Es sieht fast so aus, als würde eine 200-jährige historische Sequenz an ihr Ende kommen. Was ist die Schweiz in ihrem Innersten? Was ist die scheinbar unverbrüchliche Basis unserer Identität gewesen über die letzten zwei Jahrhunderte? Wir sind das Land, das verschont wird. Wir sind die Insel, die von historischen Gross­katastrophen vielleicht tangiert, aber niemals überspült wird. Wenn es hart auf hart kommt, sind wir in Sicherheit: Das ewige Reduit ist das Grundgefühl, das den helvetischen Sonderfall garantiert. Vom Virus wird es infrage gestellt.

Sicherlich, zu einem guten Teil war die helvetische Unversehrt­heit schon immer mehr ein Mythos als eine Realität. Bereits die Spanische Grippe, die rund 25’000 Todesopfer forderte in der Schweiz, liess keinen Zweifel daran, dass Viren auch an unseren Landes­grenzen nicht Halt machen. Doch gemessen an den Verheerungen des grossen Krieges erschien selbst diese Pandemie als ein nachgeordnetes Übel. Die Verschonung von Kriegen, von der die Eidgenossen­schaft seit dem Wiener Kongress immer wieder profitierte, hat sich durchgesetzt als prägendes Identitäts­merkmal.

Nicht zuletzt führt dieses Lebensgefühl zu einer exzessiven Kultur der Voraussicht und der Absicherung – die starke politische Effekte hat. Im Zweiten Weltkrieg war die Schweiz die Alpen­republik, die nicht überrannt wurde. Im Kalten Krieg war sie das Land mit dem höchsten Abdeckungs­grad an atombomben­sicheren Luftschutz­kellern. Wir sind die eingebunkerte Nation. Dass wir in der Vergangenheit verschont worden sind, soll um jeden Preis in die Zukunft verlängert werden – mit Stahlbeton und Notvorräten.

«Die Schutzräume sind Teil unserer Identität geworden», sagt die Historikerin Silvia Berger Ziauddin, die ihre Habilitation über die Schweiz als Bunkerland geschrieben hat. 2011 hätte bekanntlich die Verpflichtung fallen sollen, Wohn­häuser mit atombomben­sicheren Luftschutz­kellern auszustatten oder aber einen Beitrag an öffentliche Zivilschutz­bunker zu bezahlen. Als Reaktion auf die Fukushima-Katastrophe wurde der Bunker­zwang jedoch aufrechterhalten. Wie kann ein Land, das sich mit obsessivem Aufwand auf das Szenario einer Atom­katastrophe vorbereitet, die Pandemie­gefahr so leichtfertig vernachlässigen – obwohl es nur eine Frage der Zeit sein konnte, bis ein welt­umspannender Seuchenzug auch die Schweiz trifft? Das Mass an Irrationalität ist verblüffend.

Die einzigen Bunker, die uns in der aktuellen Notlage etwas nützen könnten, sind die Militärspitäler, von denen bis vor wenigen Jahren neun existierten. Fünf sind allerdings verkauft und stillgelegt worden, drei sind nicht betriebsbereit, und das Militärspital Einsiedeln, das einzige, das funktionsfähig wäre, soll nach Aussagen des Armee­chefs «für Einsätze im Rahmen einer Infektion nicht geeignet» sein. Rückzug ins Reduit ist diesmal keine Option. Der Kampf gegen das Virus beginnt mit der Einsicht, dass wir genauso verwundbar und ausgeliefert sind wie alle anderen Länder auch.

Es wird uns nicht einfach fallen. Wir sind süchtig nach der Illusion, es könne niemals wirklich schlimm kommen, da die Alpen­festung ja für alles vorbereitet und gerüstet ist. Aber dadurch, dass wir uns auf die Schultern klopfen, haben wir kein einziges zusätzliches Leben gerettet. Nur darauf kommt es jetzt an.

Illustration: Alex Solman

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