Briefing aus Bern

Versäumnisse bei Pandemie-Vorsorge, Kurzarbeits­gesuche für 484’000 Arbeit­nehmer und mehr häusliche Gewalt

Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (94).

Von Philipp Albrecht, Andrea Arežina, Bettina Hamilton-Irvine, Carlos Hanimann und Christof Moser, 26.03.2020

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Waren Sie auch überrascht, wie schnell zu Beginn dieser Pandemie in der Schweiz von fehlenden Reserven und mangelnden Kapazitäten die Rede war?

Nun, die Politik verhält sich auch nicht anders als so viele von uns: In guten Zeiten denkt keiner gerne an die Not. Auch, weil Notvorsorge kostet.

Zwar haben die Schweizer Behörden bereits 1995 damit begonnen, sich für den Fall einer Pandemie zu rüsten. 2004 hat der Bund den ersten nationalen Pandemie­plan vorgelegt, der auflistet, welche Massnahmen ergriffen werden müssen. Der Plan wurde zuletzt 2018 aktualisiert. Doch jetzt zeigen sich die Versäumnisse in der Pandemie-Vorsorge:

  • Fehlende Betten: 4250 Krankenhaus­betten haben die Kantone nicht wie vorgeschrieben als Reserve für den Fall einer Epidemie in ihre Spital­planungen aufgenommen. Selbst bei Neubauten von Spitälern werden Bedürfnisse für Notlagen oder Katastrophen «nicht berücksichtigt».

  • Fehlende Medizinprodukte: Auch die Aufforderung des Bundes­amts für wirtschaftliche Landes­versorgung, einen «Minimal­stock» an Medikamenten, Medizin­produkten – wie zum Beispiel Masken und Schutz­kleidung – sowie Labor­materialien zu lagern, haben die Kantone «nicht oder nur unvollständig umgesetzt».

Die Erkenntnisse stammen aus einem Gutachten von Oktober 2018, verfasst im Auftrag des Verteidigungs­departements, das der Bundesrat Mitte Januar unbemerkt von der Öffentlichkeit publizierte. Entdeckt wurde es vergangene Woche von einem SRF-Journalisten, der weitere Versäumnisse recherchierte:

  • Notspitäler ohne Personal: 94 geschützte Spitäler hat der Zivilschutz. Sie sind auf dem technischen Stand der 1970er-Jahre und für eine Pandemie unbrauchbar. Ausserdem gibt es keine Zivil­schützer mehr, welche die Spitäler betreiben könnten: Der Sanitäts­dienst wurde 2004 abgeschafft.

  • Keines statt 4 Armeespitäler: 4 Militär­spitäler für den Krisenfall besitzt die Armee – 3 davon sind nicht einsatzbereit. Und das vierte, ein unterirdisches Spital in Einsiedeln, umfassend saniert und nach früheren Armee-Aussagen für eine Pandemie gerüstet – ist laut Armeechef Thomas Süssli «für Einsätze im Rahmen einer Infektion nicht geeignet».

Ein saniertes Militärspital, das im Pandemie­fall nicht gebraucht werden kann – wie ist das möglich? «Enge Platz­verhältnisse» und «aktuell ungenügender Ausbau­standard», begründet das VBS.

Klingt wie ein Schildbürger­streich? Sie kennen die Reaktion des Parlaments auf fehlende Sanitäter im Zivil­schutz noch nicht. Der Bundesrat wollte den Sanitäts­dienst 2018 mit der Totalrevision des Bevölkerungs- und Zivilschutzgesetzes wieder einführen. Doch die Sicherheits­politische Kommission des Nationalrats hat vor einem Jahr einstimmig beschlossen, den Passus wieder aus dem Gesetz zu streichen. Die Begründung: «Solange keine konzeptionellen Grund­lagen zur Aufrecht­erhaltung des Gesundheits­wesens in der Schweiz bei Katastrophen und Notlagen vorliegen, erscheint der Kommission eine solche Erweiterung nicht sinnvoll.»

Der National- und der Ständerat folgten dem Antrag der Kommission ohne Diskussion. Damit werden Spitäler des Zivil­schutzes modernisiert, die in Notlagen mangels Sanitätern nicht in Betrieb genommen werden können.

Aktuell sind die Behörden jetzt damit beschäftigt, die Versäumnisse in der Vorsorge möglichst aufzuholen. «Es ist klar, dass es Manöver­kritik braucht. Der richtige Zeitpunkt dazu ist aber nach der Krise», sagt Heidi Hanselmann, Präsidentin der Gesundheitsdirektorenkonferenz, gegenüber Radio SRF.

Und damit zum Briefing aus Bern.

Kurzarbeit: Bereits Gesuche für fast 500’000 Angestellte

Worum es geht: Wegen der Auswirkungen der Corona-Krise seien beim Bund bereits Gesuche um Kurzarbeits­entschädigung für 484’000 Angestellte oder 9,5 Prozent aller Beschäftigten eingegangen, sagte Wirtschaftsminister Guy Parmelin an der gestrigen Medienkonferenz.

Warum Sie das wissen müssen: Weil der Bundesrat Restaurants, Läden und Sport­anlagen geschlossen hat, sind viele Menschen vorübergehend arbeitslos. Daneben brechen vielen weiteren Firmen die Aufträge ein. Die Regierung hat deshalb ein inzwischen rund 40 Milliarden Franken schweres Hilfspaket geschnürt. Als eine der darin enthaltenen Massnahmen hat sie die ansonsten strengen Regeln für Kurzarbeit gelockert. So wurde etwa die Wartezeit aufgehoben und das Antragsformular vereinfacht. Zudem müssen nicht mehr zuerst Überstunden abgebaut werden. Neu profitieren auch Lernende und Selbstständige von Kurzarbeit.

Wie es weitergeht: Nachdem die kantonalen Arbeits­ämter seit mehr als einer Woche mit Kurzarbeits­gesuchen überhäuft werden, flacht die Welle nun ab. Ob alle Gesuche auch bewilligt werden, ist noch nicht gesichert. Zur Frage, wie lange die Kurzarbeit gilt, hat der Bundesrat heute eine Antwort gegeben: Die Bewilligungsdauer von Kurzarbeit wird von bisher 3 Monaten auf 6 Monate verlängert.

Bundesrat beantragt ausserordentliche Session

Worum es geht: Der Bundesrat hat am vergangenen Freitag eine ausserordentliche Parlaments­session beantragt. Bundesrats­sprecher André Simonazzi sagte gegenüber CH Media, der Bundesrat habe dem Parlament den Antrag geschickt.

Warum Sie das wissen müssen: Nachdem das Parlament seine Frühlings­session am 15. März abgebrochen hat, konzentriert sich die politische Macht beim Bundesrat, der per Notrecht entscheidet. Dieser will das Parlament nun aber wieder aktivieren. Gleichzeitig verlangen auch 28 Ständeräte, gestützt auf das Parlamentsgesetz, eine ausserordentliche Session, wie sie am Mittwoch mitteilten. Die Parlamentarierinnen sind geteilter Meinung: Während einige gern ihre Macht zurückhätten, plädieren andere dafür, frühestens im Mai wieder zusammenzukommen. Der Bundesrat stellt sich indes auf den Standpunkt, «mit Hygienemassnahmen und Social Distancing» sei eine Sondersession kein Problem. Bewilligen soll das Parlament die dringlichen Notkredite, welche der Bundesrat im Zusammenhang mit der Corona-Krise gesprochen hat. So ist es im Finanzhaushaltgesetz vorgesehen. Nachdem die Finanz­delegation des Parlaments die Kredite am Montag gutgeheissen hat, kann der Bundesrat jedoch das Geld bereits ausgeben.

Wie es weitergeht: Das Datum der ausserordentlichen Session soll vom Parlament heute Donnerstag bekannt gegeben werden. Geplant ist, dass die Session innerhalb von drei Wochen nach dem Ja der Finanz­delegation zum Rettungs­paket stattfindet.

Kriminalstatistik: Häusliche Gewalt nimmt zu

Worum es geht: Im Jahr 2019 wurde weniger eingebrochen als im Jahr zuvor (–6,3 Prozent), häufiger betrogen (+8 Prozent), und die Gewalt in den eigenen vier Wänden nahm zu (+6 Prozent). Das geht aus der Anfang Woche veröffentlichten Kriminal­statistik des Bundes hervor.

Warum Sie das wissen müssen: Täter und Opfer leben sehr oft im gleichen Haushalt. Im vergangenen Jahr wurden 63 Prozent der Tötungs­delikte zu Hause begangen. Von der Polizei verzeichnet wurden fast 20’000 Straf­taten häuslicher Gewalt. Doch die Dunkel­ziffer dürfte viel höher liegen. Gemäss Schätzungen werden nur 10 bis 15 Prozent aller Taten angezeigt. Von Basel weiss man, dass rund 20 Prozent aller Meldungen zu häuslicher Gewalt aus der Nachbarschaft kommen, so die Leiterin der Fachstelle häusliche Gewalt.

Wie es weitergeht: In China, wo sich das Corona­virus zuerst ausbreitete, verdreifachte sich die Gewalt in der Quarantänezeit. In der Schweiz gehen Bund, Kantone, Frauen­häuser und Polizisten ebenfalls davon aus, dass die häusliche Gewalt in den nächsten Wochen zunehmen wird. Erleben Sie oder jemand in Ihrem Umfeld häusliche Gewalt? Im Covid-19-Uhr-Newsletter vom vergangenen Freitag lesen Sie, was Sie tun können.

Asylverfahren: Pause – aber nur für eine Woche

Worum es geht: Staatssekretär Mario Gattiker hat am Samstag via «Blick» die Öffentlichkeit informiert, dass die Asyl­verfahren in der Schweiz für eine Woche ausgesetzt werden. Dies, nachdem zahlreiche NGOs wegen der Corona-Krise ein Entscheidmoratorium gefordert hatten.

Warum Sie das wissen müssen: Asyl­suchende sind auch sonst in ihrer Bewegungs­freiheit eingeschränkt. In der jetzigen «ausserordentlichen Lage» ist der Zugang zu Rechts­beratungen für viele noch schwieriger geworden, weil Anlauf­stellen schliessen mussten. Amnesty International Schweiz, die Schweizerische Flüchtlingshilfe und andere NGOs haben deshalb in den vergangenen Tagen gefordert, dass das Staats­sekretariat für Migration (SEM) die Asylverfahren sistiere: Die Rechtswege seien nicht garantiert, Anhörungen könnten nur unter Missachtung der Social-Distancing-Regeln vollzogen werden, die Asylsuchenden würden grossen Ansteckungs­risiken ausgesetzt, Ausschaffungen könnten derzeit sowieso nicht vollzogen werden. Das SEM reagierte nun in einem Interview: Das Asylsystem müsse weiter­laufen wie immer. Man werde aber Anhörungen für eine Woche aussetzen, um etwa Trenn­scheiben aus Plexiglas in den Befragungs­räumen zu installieren. Ein Zusammen­schluss von NGOs kritisierte Gattikers Entscheid als «unverantwortlich». Das SEM bringe Asylsuchende in Gefahr.

Wie es weitergeht: Wie wenn nichts wäre.

Die Lockerung der Woche

Vergangenen Freitag beschloss der Bundesrat, die Ruhe­zeiten für das Spital­personal aus dem Gesetz zu kippen. Natürlich nur so lange, wie wegen des Corona­virus die «ausserordentliche Lage» bestehe. Das sei ein Bedürfnis der Kantone gewesen, sagte Boris Zürcher vom Staats­sekretariat für Wirtschaft (Seco) dazu. Und schob nach, dass das aber die Vorgesetzten nicht davon entbinde, «die Ressource Personal adäquat zu schonen». Angesprochen auf die Situation beim Pflege­personal, machte Bundesrat Guy Parmelin dann die schöne Nicht­aussage: «Das Ziel muss sein, dass die Arbeit­nehmenden gesund bleiben.» Die Kantone würden prüfen, dass sich die Arbeit­geber an die Vorschriften hielten. Und damit beisst sich die Katze dann derart schön in den eigenen Schwanz, dass man sich fast auf den Balkon stellen und klatschen möchte.

Illustration: Till Lauer

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