Das Drehbuch für den Konjunktur-Notfall

Wie man Volkswirtschaften behandelt, die von einem Virus befallen sind. Und welche heiklen Fragen sich stellen werden.

Von Simon Schmid, 23.03.2020

Kampagnen-Logo

Unabhängiger Journalismus lebt vom Einsatz vieler

Unterstützen auch Sie die Republik mit einem Abo: Einstiegsangebot nur bis 31. März 2024.

Wählen Sie Ihren Einstiegspreis
Ab CHF 120 für ein Jahr

Handle kühn, handle zielgerichtet, handle fair – und handle weitsichtig: An diesen Maximen sollte sich die Krisen­bekämpfung orientieren, wenn sie die Wirtschaft möglichst erfolgreich durch die Corona-Pandemie führen will.

Wie ist das den Staaten bisher gelungen? Und worauf kommt es in Zukunft an? Ein Drehbuch mit den verschiedenen Massnahmen gibt Antworten.

Phase 1: Das Finanz­system schützen

Zieht eine Krise auf, so sind Zentral­banken meist die ersten staatlichen Akteure, die reagieren. So auch in Phase 1 der Corona-Krise.

Aussergewöhnliche Zeiten erfordern ausser­gewöhnliche Handlungen.

Christine Lagarde, Präsidentin der EZB, am 19. März auf Twitter.

Bereits vor zwei Wochen senkte die Federal Reserve in den USA ein erstes Mal die Zinsen. Ihr Gouverneur Jerome Powell wurde dafür erst verspottet, doch bald zogen andere Länder nach. Die Europäische Zentralbank (EZB), die Bank of England und viele weitere Zentral­banken haben seither Massnahmen beschlossen, um das Finanz­system zu stützen und die Märkte zu beruhigen.

Wichtig sind diese Massnahmen aus zwei Gründen. Erstens, weil damit ein Signal gegeben wird: Die Geld­politik wird alles in ihrer Macht Stehende tun, um die Wirtschaft in der kommenden Krise zu unterstützen. Das fördert das Vertrauen und trägt dazu bei, dass die Finanz­märkte geregelt weiterlaufen.

Zweitens bringen sich Zentral­banken damit als lender of last resort, also als Kredit­geber letzter Instanz, in Stellung. Das ist wichtig, damit sich die realwirtschaftliche Krise nicht zu einer Finanz­krise auswächst. Um dieses Szenario zu verhindern, stellt die Zentral­bank den Geschäfts­banken etwa im Euroraum neue Kredit­linien zur Verfügung, auf die sie zugreifen können, um Unter­nehmen zu unterstützen oder um zu verhindern, dass sie selbst in Geld­knappheit geraten. Wie die Federal Reserve in den USA kauft auch die Europäische Zentralbank zusätzlich Anleihen von Staaten und Firmen.

Die Idee: Wenn irgend­jemand in der Wirtschaft aktuell Kredit benötigt, soll dies nicht daran scheitern, dass die Zinsen zu hoch sind oder dass zu wenig Liquidität, also zu wenig flüssige Mittel, im System vorhanden ist.

«Die Zentralbanken müssen den Finanz­sektor jetzt unterstützen», sagt Stefan Gerlach, Chefökonom der EFG Bank. «Wenn man es schafft, Banken dazu zu bewegen, ausstehende Kredite nicht zu kündigen, ist viel erreicht.»

Um die Banken zu stärken, reduziert in der Schweiz auch die SNB die Belastung durch den Negativ­zins (indem sie die Freibeträge erhöht) und überlegt sich, den sogenannten antizyklischen Kapital­puffer zu lockern. Diese Massnahmen verschaffen den hiesigen Instituten mehr Spielraum.

Die Zentralbanken haben ihren Teil der Arbeit rasch – und bis auf wenige Momente auch souverän – erledigt. Doch ihre Massnahmen allein genügen nicht, um die Corona-Krise erfolgreich zu bewältigen.

Phase 2: Den Unter­nehmen helfen

In einer solchen Krise braucht es auch die Regierungen. Damit beginnt Phase 2. In der Corona-Krise kam sie erstaunlich – und erfreulich – rasch.

Es ist die Bazooka.

Olaf Scholz, deutscher Finanzminister, am 13. März an einer Pressekonferenz.

Schon vor einer Woche preschten etwa in Deutschland Kabinetts­mitglieder vor, um ein staatliches Kreditprogramm von «unbegrenzter» Summe anzukündigen. Firmen, die wegen des Virus in Schwierigkeiten geraten, sollen über eine öffentliche Förderbank an Gelder kommen. Finanz­minister Olaf Scholz nannte dies in Anspielung auf geldpolitische Massnahmen während der Finanzkrise: die «Bazooka». Inzwischen hat die deutsche Regierung ein Preis­schild an ihr Programm geheftet: 600 Milliarden Euro. Auch in Frankreich, in den USA, in Italien, in der Schweiz und in weiteren Ländern wurden ähnliche Kredit­programme für Firmen vorgestellt.

Sinn und Zweck dieser Programme ist, eine plötzliche Welle von Insolvenzen zu verhindern. Betriebe aus der Gastronomie, aus dem Tourismus, dem Detail­handel, dem Kultur­bereich, dem Dienst­leistungs­sektor oder aus anderen Branchen, denen während der nächsten Monate Einnahmen wegbrechen, sollen nicht in Konkurs gehen. Denn das würde einerseits zu hoher Arbeits­losigkeit führen und andererseits bewirken, dass bestehende Kredite an diese Firmen abgeschrieben werden müssten – was wiederum Stress im Finanz­system und im schlimmsten Fall eine Banken­krise auslösen könnte.

Dass der Staat in Phase 2 klotzt und nicht kleckert, ist vernünftig – sofern keine kleine Konjunktur­delle droht, sondern eine breite Rezession. Dies ist momentan der Fall: Die Corona-Krise wird als sudden stop beschrieben. Praktisch über Nacht ist die Wirtschaft lahmgelegt – auf unbestimmte Zeit.

In solchen Situationen ist beherztes Einschreiten nötig. Die Wissenschaft geht davon aus, dass etwa die Grosse Depression der 1930er-Jahre weniger schmerzhaft ausgefallen wäre, wenn die Regierungen und Noten­banken anfänglich keine restriktive Geld- und Fiskal­politik betrieben hätten. Ein Konsens ist auch, dass die Finanz­krise von 2008 noch länger anhaltende Folgen gehabt hätte, wenn die Staaten die Wirtschaft nicht gestützt hätten.

Während der Finanzkrise wurden je nach Land Konjunktur­programme in der Grössen­ordnung von 1,5 bis 12 Prozent des damaligen Brutto­inland­produkts (BIP) aufgelegt. Um ähnliche Dimensionen geht es auch heute: In den USA spricht die Regierung etwa davon, eine Billion Dollar in die Wirtschaft zu pumpen. Das entspricht ungefähr 5 Prozent des dortigen BIP. In der Schweiz wurden am Freitag insgesamt 42 Milliarden Franken angekündigt. Das ist eine beispiel­lose Summe: Sie entspricht rund 6 Prozent des hiesigen BIP. Der grösste Teil des Geldes wird via Geschäfts­banken als Kredit an Betriebe und Selbst­ständige ausbezahlt. Ein Teil davon wird vollständig vom Bund verbürgt.

Ein Vorteil solcher Massnahmen ist, dass Gelder rasch in jene Branchen gelangen, die am stärksten betroffen sind. Die Summen sind dabei bewusst hoch angesetzt – gut möglich, dass sie am Ende nicht ausgeschöpft werden.

Je länger die Corona-Krise andauert, desto grösser wird aber auch die Wahrscheinlichkeit, dass Betriebe trotz Notkrediten schliessen – weil es keinen Sinn ergibt, sich immer mehr zu verschulden. Was dann geschieht, ist offen: Vor allem die Kantone werden sich überlegen müssen, ob sie bestimmte Firmen auch mit nicht rückzahlbaren Geldern stützen wollen.

Klar ist auch, dass ein Teil der Mittel, die jetzt zur Verfügung gestellt werden, ohnehin à fonds perdu ist. Es wird Firmen geben, die trotzdem pleitegehen.

«Die Triage zwischen unterstützungs­würdigen und eigentlich insolventen Unter­nehmen ist in einer solchen Situation unglaublich schwierig», sagt Rudolf Minsch, Chefökonom des Wirtschafts­verbands Economiesuisse. «Es ist daher unvermeidlich, dass es auch zu Kredit­ausfällen kommen wird.»

Um dieses Risiko zu minimieren, ist nicht nur der Staat gefordert. Auch private Akteure müssen Verantwortung übernehmen. Zum Beispiel Immobilien­besitzer, indem sie Gewerblern beim Mietzins entgegenkommen.

Phase 3: Die Einkommen stabilisieren

Konjunkturpolitik besteht nicht nur aus grossem Tamtam, sondern auch aus stabilisierenden Mechanismen, die ohne besonderen Beschluss automatisch einsetzen. Um sie geht es in der Phase 3, die ebenfalls bereits begonnen hat.

Wir müssen nicht nur die Pandemie­kurve, sondern auch die Rezessions­kurve abflachen.

Pierre-Olivier Gourinchas, Wirtschafts­professor aus Berkeley, am 13. März auf Twitter.

Der wichtigste automatische Stabilisator ist die Arbeitslosenversicherung. Sie ermöglicht Menschen, die ihre Arbeits­stelle verloren haben, weiterhin ein Einkommen zu beziehen und dieses auch auszugeben. Das trägt dazu bei, den Wirtschafts­kreislauf aufrecht­zuerhalten und die Konjunktur zu stützen.

Die Kurzarbeit setzt noch eine Stufe früher ein. Über dieses Instrument zahlt der Staat einen Teil der Löhne aus, während die Beschäftigten noch bei einer Firma angestellt sind – auch wenn sie gar nicht mehr arbeiten. Dadurch soll verhindert werden, dass die Firma in einer Flaute überhaupt Personal abbaut.

In der Schweiz haben sich diese beiden Mechanismen gut bewährt. In den Jahren 2009 und 2010 flossen über die Arbeitslosen­versicherung zusätzlich gegen 3,5 Milliarden Franken zu den Erwerbs­tätigen. Über Kurzarbeit waren es nochmals 1,5 Milliarden Franken. Das ist rund dreimal so viel, wie während der damaligen Krise über explizite Konjunktur­programme mobilisiert wurde.

Ähnlich wie die Schweiz kennt auch Deutschland die Kurzarbeit. Frankreich führt ein ähnliches System nun ad hoc ein. Weniger ausgebaut ist die soziale Sicherheit dagegen in den USA. Die dortigen Arbeitslosen­zahlen sind letzte Woche bereits nach oben geschossen. Die Regierung überlegt sich deshalb bereits, jedem US-Bürger einfach einen Scheck auszustellen – zum Beispiel, wie Parlamentarier vorschlagen, 1000 Dollar pro Person. Man könnte dies je nach Ausgestaltung als Form von «Helikopter­geld» oder «bedingungs­loses Grund­einkommen» ansehen. Es wäre ein weiterer möglicher Beitrag zur Konjunktur­stützung – wenn auch einer mit sehr grossem Streuverlust.

Wichtig ist in Phase 3, dass die Verwaltung effizient arbeitet. Speziell für kleine Unter­nehmen, Selbst­ständige und Freelancer ist unbürokratische Unter­stützung wichtig. Hier hat der Bundesrat am Freitag Abhilfe geschaffen: Neu können auch diese Erwerbsgruppen Kurzarbeit beantragen.

Wichtig ist in dieser Phase auch, dass sich die Regierungen nicht durch steigende Staats­defizite – die es zwingend geben wird – aus der Ruhe bringen lassen und auf Sparpolitik umschwenken, wie es in der Eurokrise geschah. Die Gefahr dafür ist gerade in hoch verschuldeten Ländern wie Italien gross.

«Die Rezession wird in Südeuropa viel stärker ausfallen als im Norden», sagt Volker Grossmann, Wirtschafts­professor an der Universität Fribourg. «Es wäre fatal, wenn Italien in dieser Situation zum Sparen gezwungen würde.»

Krisen wie die Corona-Pandemie erfordern also auch, dass die Solidarität nicht nur innerhalb, sondern auch zwischen den Staaten spielt. Konkret: Wenn der italienische Ministerpräsident die Europäische Union um Hilfe fragt, dann sollte diese Hilfe für das krisen­gebeutelte Land auch kommen.

Phase 4: Neue Entwicklungen anstossen

Je länger die Krise dauert, desto tiefer werden die finanziellen Wunden, desto heikler werden die Entscheidungen und desto mehr Kreativität muss die Politik an den Tag legen. Phase 4 zeichnet sich bereits am Horizont ab.

Airline-Aktionäre brauchen keinen Bail-out.

Thomas Philippon, Ökonom an der New York University, am 17. März auf Twitter.

Als im Januar erstmals klar wurde, dass Fabriken in China wegen des Virus schliessen mussten, machte die Idee von einer V-förmigen Rezession die Runde. Das Corona­virus würde einen temporären Produktions­einbruch bewirken, nach Wieder­öffnung würde sich die Wirtschaft aber rasch erholen, und auf der BIP-Grafik entstünde schliesslich eine V-förmige Kurve.

Inzwischen sagen viele: Es gibt keine V-förmige, sondern eine U- oder gar eine L-förmige Rezession – also einen längeren, nicht aufzuholenden Verlust an Güter- und Dienstleistungs­produktion und damit auch an Einkommen.

Die grosse Herausforderung in einer solchen Situation ist, den Pessimismus nicht überhand­nehmen zu lassen. Negative Zukunfts­erwartungen können sich verselbst­ständigen: Firmen, deren Absatz einbricht, zeigen typischer­weise auch eine sehr niedrige Investitions­bereitschaft. Das wiederum schadet dem Geschäft von Zuliefer­firmen und am Ende der ganzen Wirtschaft. Haushalte, die sich Sorgen um die Zukunft machen, neigen ebenfalls dazu, wenig Geld auszugeben, was die Nachfrage schwächt.

Regierungen müssen sich deshalb Gedanken machen, wie sie zusätzliche Impulse erzeugen können. Diese könnten in einer späteren Phase, wenn die Quarantäne­massnahmen gelockert werden, den Aufschwung unterstützen.

Die Ideen dafür liegen im Grunde bereits auf dem Tisch. In der EU hat die Kommission zum Beispiel einen «Grünen Deal» ins Leben gerufen. Es würde Sinn machen, die Mittel für dieses Umwelt­programm massiv aufzustocken.

Grüne Konjunkturpolitik kann bedeuten, Haus­besitzer bei Sanierungen ihrer Liegenschaften zu unterstützen. Es kann heissen, dass der Staat den Aufbau der Elektro­mobilitäts-Infrastruktur beschleunigt, dass er Investitionen beim Schienen­verkehr vornimmt oder die Herstellung grüner Treibstoffe vorantreibt. Viele weitere klima­freundliche Massnahmen sind vorstellbar. Ziel dieser Massnahmen wäre, mit dem Aufschwung zugleich einen Entwicklungs­impuls in eine Richtung zu setzen, die ohnehin wünschbar ist.

«Investitionen sollten jetzt nicht in Technologien der Vergangenheit erfolgen», sagt Claudia Kemfert, Umwelt­expertin am Deutschen Institut für Wirtschafts­forschung in Berlin. «Sondern in jene der Zukunft.»

Weitere Bereiche, die gestärkt werden könnten, sind die Bildung und die Gesundheit. Dass die Baubranche bald lahmgelegt sein wird, zeichnet sich bereits ab. Ob sie nach der Krise rasch wieder in Gang kommt, ist fraglich. Staatliche Aufträge, um Schul­häuser zu renovieren oder Spitäler zu modernisieren, könnten in vielen Ländern deshalb ein probates Mittel sein. Höhere Löhne im Gesundheits­bereich wären ein weiterer, einfacher Weg, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen – die Corona-Pandemie ist nicht der schlechteste Zeitpunkt, um das Gesundheits­wesen aufzuwerten.

Anders als automatische Stabilisatoren, die nach dem Giesskannen­prinzip funktionieren, sollten Impuls­programme aber stets zielgerichtet sein.

Epidemiologen haben in den letzten Tagen aufgezeigt, dass Social Distancing und weitere Massnahmen noch ein Jahr oder länger nötig sein könnten, damit die Lage nicht eskaliert. Die Politik muss sich gut überlegen, welche Branchen sie in dieser Zeit wie stark unterstützt. Ein heikler Bereich ist zum Beispiel die Luftfahrt: Die Swiss hat in der Schweiz bereits nach staatlicher Hilfe gerufen. Weltweit fordern Airlines 200 Milliarden Dollar ein.

Doch wie sinnvoll ist es, einen Wirtschafts­zweig am Leben zu erhalten, der nur dank massiven Subventionen – dazu zählen Zuschüsse für die Flughafen­infrastruktur ebenso wie Steuer­befreiungen und eine fehlende Bepreisung der CO2-Emissionen im Luftverkehr – überhaupt so gross werden konnte? Welche Bedingungen werden an Hilfen geknüpft? In welcher Form steigt der Staat ein? Diese Fragen werden schon bald nach einer Antwort verlangen.

Konjunkturpolitik ist eine Aufgabe, bei der man leicht Fehler machen kann. In der letzten Finanz­krise wurden Milliarden in die Banken eingeschossen, während die einfachen Leute sich von der Politik vergessen fühlten. Dies kam den westlichen Gesellschaften über die letzten Jahre teuer zu stehen.

Wenn es hingegen gelingt, Krisen­politik mit sinnvollen Zielen zu verbinden, hat die Politik nicht nur dazu beigetragen, dass nach der Krise wieder alles so ist wie vorher. Sondern sie hat erreicht, dass die Wirtschaft der Gesellschaft noch besser dient als vorher. Noch ist die Chance für ein solches Szenario da.

Kampagnen-Logo

Unabhängiger Journalismus lebt vom Einsatz vieler

Artikel wie diesen gibt es nur, wenn genügend Menschen die Republik mit einem Abo unterstützen. Kommen Sie bis zum 31. März an Bord!

Wählen Sie Ihren Einstiegspreis
Ab CHF 120 für ein Jahr