In der Welt der Lügen

Warum die Wiederwahl­kampagne von US-Präsident Donald Trump alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt. Die neue Dimension der Desinformation, Teil 1.

Von McKay Coppins (Text), Bernhard Schmid (Übersetzung) und Kelsey Dake (Illustration), 19.03.2020

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Eines Tages im vergangenen Herbst setzte ich mich hin, um einen neuen Facebook-Account einzurichten. Ich wählte einen nichtssagenden Namen, schoss ein Profilfoto mit abgedunkeltem Gesicht von mir und klickte auf den offiziellen Seiten von Donald Trump und seiner Wahl­kampagne für eine zweite Amtszeit auf «Like». Facebooks Algorithmus drängte mich, auch gleich die rechte Kolumnistin Ann Coulter, Fox Business und einer Reihe von Fanseiten mit Namen wie «In Trump We Trust» zu folgen. Was ich auch tat.

Ausserdem gab ich der Trump-Kampagne meine Handy­nummer und trat einer Handvoll privater Facebook-Gruppen für eingefleischte «Make America Great Again»-Freaks bei – darunter eine, bei der gar eine Bewerbung erforderlich war, vermutlich um Stören­friede auszusondern.

Trumps Wiederwahl­kampagne befand sich gerade mitten in einem millionen­schweren Werbe­feldzug, der den Amerikanern zum rechten Verständnis des jüngst eingeleiteten Amts­enthebungs­verfahrens verhelfen sollte. Eine Flut zielgruppen­genauer Werbung überflutete das Internet, die Trump als heroischen Reformer darstellte, der mit korrupten Ausländern aufräumte, während die Demokraten einen Staats­streich planten.

Dass dieses Narrativ kaum etwas mit der Realität zu tun hatte, schien sogar noch zu seiner rascheren Verbreitung beizutragen; auf Trump-freundlichen Foren wimmelte es nur so von Verschwörungs­theorien. Rund um die grösste Story im Land begann sich ein Ökosystem der alternativen Informationen herauszubilden. Und das wollte ich mir von innen ansehen.

Die Story, die sich da die nächsten paar Wochen in meinem Facebook-Feed entfaltete, war bisweilen verwirrend.

Es gab Tage, da sah ich mir live im Fernsehen ein Impeachment-Hearing voll belastender Zeugen­aussagen an, nur um dann später auf meinem Telefon einen raffiniert zusammen­geschnittenen Videoclip zu finden, demzufolge dieselben Aussagen Donald Trump mittels völlig aus dem Zusammen­hang gerissener Ausschnitte entlasteten.

Augenblick mal, dachte ich mir mehr als einmal, so war das doch gar nicht, oder doch?

Jeder Wischer über mein Handy holte neue Trump-Propaganda auf das Display: «Das ist richtig, sagte der Anwalt des Whistleblowers: ‹Der Staatsstreich hat begonnen …›» Wisch. «Die Demokraten tanzen nach Putins Pfeife …» Wisch. «Zertreten, das ist das Einzige, was diese radikalen Sozialisten und Extremisten verstehen …» Wisch. «Nur einer kann diesem Chaos ein Ende machen …» Wisch, wisch, wisch.

Was mich vor allem überraschte, war die Wirkung all dessen auf mich. Ich war davon ausgegangen, meine Skepsis und meine Erfahrung im Umgang mit Medien würden mich gegen derlei verzerrte Darstellungen wappnen. Tatsache war jedoch, dass ich auch jede andere Schlagzeile infrage zu stellen begann. Nicht etwa weil ich glaubte, Trump und seine Werber würden die Wahrheit sagen. Es war vielmehr so, dass mir im Zustand verschärften Argwohns die Wahrheit an sich – über die Ukraine, das Amts­enthebungs­verfahren oder sonst etwas – immer schwieriger zu erkennen schien.

Mit jedem Wischer über das Display meines Handys rückte die Vorstellung von so etwas wie einer erkennbaren Realität ein Stück weiter in die Ferne.

Taktik der Demagogen und Diktatoren

Was ich da sah, war eine Strategie, die in illiberalen Regimen rund um den Globus zum Einsatz kommt. Statt abweichende Stimmen zum Schweigen zu bringen, haben Despoten die demokratisierende Kraft der sozialen Netzwerke zu nutzen gelernt – sie stören die Signale, stiften Verwirrung. Sie brauchen den lärmigen Dissidenten auf der Strasse erst gar nicht zum Schweigen zu bringen; sie haben ein Megafon zur Verfügung, das ihn übertönt.

Die Wissenschaft hat dafür einen Namen: Zensur durch Lärm.

Nach der Wahl 2016 machte man viel Aufhebens um die Gefahren für die amerikanische Demokratie durch Desinformation aus dem Ausland. In der Fantasie der Nation türmten sich Geschichten von russischen Troll­farmen und mazedonischen Fake-News-Fabriken auf. Aber noch während diese schemen­haften Kräfte Politiker und Journalisten beschäftigten, begannen Trump und seine heimischen Verbündeten mit dem Einsatz ebendieser Taktiken des Informations­kriegs, mit denen Demagogen und Diktatoren in aller Welt die Macht bewahren.

Kein US-Präsidentschafts­wahlkampf kommt ohne Meinungs­mache und Irreführung aus. Doch dieses Jahr erreicht das Ringen um die Macht eine neue Dimension. Aus Gesprächen mit Polit­strategen und anderen Fach­leuten ergibt sich für diese Wahl ein eher dystopisches Bild – geprägt von koordinierten Bot-Attacken, potemkinschen Lokalnachrichten-Websites, massgeschneiderter Panik­mache und anonymen Massen­texten.

Die Werkzeuge stehen beiden Parteien zur Verfügung. Doch vor allem in den Händen eines gewohnheits­mässigen Lügners, für den Verschwörungs­theorien eine Masche sind und der sich skrupellos der Hebel der Macht zu seinem eigenen Vorteil bedient, ist ihr Schadens­potenzial enorm.

Trumps Kampagne plant, mehr als eine Milliarde Dollar auszugeben; ihr wird eine weitläufige Koalition parteiischer Medien, ausser­parteilicher politischer Gruppen und rühriger unabhängiger Akteure zur Seite stehen. Diese Trump-freundlichen Kräfte stehen bereit, die umfassendste Desinformations­kampagne der amerikanischen Geschichte zu führen.

Ob sie zur Wiederwahl des Präsidenten führen wird oder nicht – irreparablen Schaden bringt sie allemal.

Der Boss im Todesstern

Geleitet wird die Kampagne aus dem 13. Stock eines schimmernden modernen Büroturms in Rosslyn, Virginia, wenige Kilometer vom Weissen Haus entfernt. Die fenster­gesäumten Konferenz­räume bieten einen Blick auf den Potomac River; im Haupt­arbeitsraum bestimmen lange Reihen eleganter Monitore das Bild. 2016 war es eine eher schlichte Operation, die Trump 2016 ins Weisse Haus brachte, eine bunte Truppe von Leuten aus der zweiten Reihe, die sich in einem unfertigen Büro im Trump Tower ins Zeug legte. Welch krasser Gegensatz: Die Kampagne von 2020 ist bestens finanziert, technologisch auf dem neusten Stand und mit Dutzenden von erfahrenen Fachkräften besetzt. In einer Anspielung auf «Star Wars» bezeichnete ein Stratege der Republikaner die Einrichtung mit einer gewissen Bewunderung als den «Todesstern».

Die Leitung der Operation hat Brad Parscale, ein Hüne von über zwei Metern mit rasiertem Schädel und Dreiecks­bart. Als Digitalleiter von Trumps erster Kampagne erreichte Parscale zwar nicht den Bekanntheits­grad von Steve Bannon und Kellyanne Conway, spielte aber dennoch eine wesentliche Rolle bei Trumps Einzug ins Oval Office; und seine Anstrengungen werden den Charakter der diesjährigen Wahl bestimmen.

Nicht einmal die eigene Biografie stimmt, wenn er davon erzählt: Brad Parscale bei einem Wahlkampfauftritt im September 2019 in Minneapolis. Evan Vucci/AP Photo/Keystone

In Ansprachen und Interviews stellt Parscale seine Biografie – mit trumpschen Ausschmückungen – gern als Erfolgsstory eines Mannes aus bescheidenen Verhältnissen dar. Er sei als schlichter «Bauernjunge aus Kansas» (lies: Sohn eines betuchten Anwalts aus einer Vorstadt von Topeka) aufgewachsen, der es auf eine Ivy-League-Uni (lies: Trinity University in San Antonio) geschafft habe. Nach dem College habe er bei einer Software­firma in Kalifornien angefangen, die allerdings aufgrund der wirtschaftlichen Folgen von 9/11 den Bach runtergegangen sei (zu schweigen von einer Klage, laut der Parscale und seine Eltern, denen die Firma gehörte, illegal Mittel abgezogen hätten; eine Behauptung, die die Familie freilich bestreitet). Pleite und verzweifelt, habe Parscale seine (von seinen drei Mietshäusern mal abgesehen) «letzten 500 Dollar» genommen und in Texas eine Einmann­firma für Webdesign aufgemacht.

Parscale Media kam dem Vernehmen nach anfangs gerade mal so über die Runden; als Werbe­massnahme sprach er Kunden in der Tech-Abteilung einer grossen Buchhandlung an. Mit der Zeit hatte er genügend Websites für Spengler und Waffen­geschäfte erstellt, um die Aufmerksamkeit grösserer Klienten zu erregen – einer von ihnen war die Trump Organization.

2011 wurde Parscale dazu eingeladen, eine Offerte für den Bau einer Website für die Immobilien­firma Trump International Realty einzureichen. Da er ein grosser Fan von Trumps TV-Serie «The Apprentice» war, bot er an, die Website für schlappe 10’000 Dollar zu erstellen, einen Bruchteil der tatsächlichen Kosten. «Ich habe mir einfach einen Preis ausgedacht», sagte er später der «Washington Post». «Mir war klar geworden, dass ich in San Antonio ein Nobody war, aber für die Trumps zu arbeiten, das wäre es.» Er bekam den Auftrag, womit eine lukrative Beziehung geboren war.

Im Lauf der nächsten vier Jahre machte er noch weitere Websites für Trump – für eine Kelterei, eine Kosmetik­linie und schliesslich für seinen Wahlkampf. Ende 2015 leitete Parscale – ein Mann ohne erkennbare politische Neigungen, geschweige denn Wahlkampf­erfahrung – die digitale Operation des republikanischen Spitzen­kandidaten von seinem Laptop aus.

Parscale fügte sich nahtlos in Trumps Umfeld ein; nicht nur war er billig und unprätentiös – die Blasiertheit anderer Polit­berater ging ihm völlig ab –, er litt darüber hinaus auch am selben Komplex wie der Kandidat. «Brad ist einer von denen, die das Establishment unbedingt ins Unrecht setzen und der Welt beweisen müssen, was er draufhat», sagt ein ehemaliger Kollege.

Das Entscheidende jedoch war vermutlich, dass er keine Vorbehalte gegenüber der Art von Kampagne zu haben schien, die Trump plante. Die Hetze gegen Ethnien und Einwanderer, der legere Umgang mit der Wahrheit – Parscale schien sich daran nicht zu stören. Während einige Republikaner die Hände verwarfen ob Trumps volks­verhetzender Messages, liess Parscale sich etwas einfallen, um sie effektiver unter die Leute zu bringen.

Mit Enthusiasmus – ohne Skrupel

Zunächst zeigte die Kampagne wenig Interesse an modernster Werbe­technologie, und eine ganze Weile war Parscales wertvollster Beitrag die Merchandising-Website für den Verkauf der «Make America Great Again»-Caps.

Das änderte sich jedoch nach Trumps Nominierung. Nachdem die Kampagne in Funk und Fernsehen ebenso ins Hinter­treffen geraten war wie bei den Wahlkampf­spenden, wandte deren Leitung sich Google und Facebook zu, wo die Anzeigen billig und die Schock­wirkung umso grösser war. Während die Kampagne zig Millionen in die Online-Werbung steckte – um Themen wie Hillary Clintons Kriminalität und die Bedrohung durch den radikalen Islamismus aufzublasen –, wuchs Parscales Team, das mittler­weile den Namen Project Alamo trug, auf sage und schreibe hundert Leute an.

Unter seinen Kollegen war Parscale durchaus beliebt; sie haben ihn als kompetent und ungemein konzentriert in Erinnerung. «Er war der Mann für Ergebnisse», sagt A. J. Delgado, einer seiner Mitarbeiter. Und was vielleicht nicht weniger wichtig war: Er hatte Talent, sich bei den Trumps beliebt zu machen. «Er war vielleicht besser, wenn es darum ging, nach oben zu buckeln», sagt Kurt Luidhardt, der die Kampagne beriet. Er sorgte dafür, die Anerkennung für seine Arbeit mit Jared Kushner, dem Schwieger­sohn des Kandidaten, zu teilen, und besonders gut war er, wenn es darum ging, sich Trumps digitale Ignoranz zunutze zu machen, um ihm zu schmeicheln. «Parscale kam rein und sagte Trump, die Umfragen bräuchten ihn nicht zu kümmern, seinen eigenen Berechnungen nach würden sie mit sechs Punkten Vorsprung gewinnen», sagt ein ehemaliger Mitarbeiter aus dem Stab der Kampagne. «Ich dachte mir: ‹Du kannst doch einen alten Lügensack wie den nicht verarschen.›» Aber Trump schien es ihm abzukaufen. (Parscale selbst war zu einem Interview für diesen Artikel nicht bereit.)

Von James Barnes, den Facebook zur engen Zusammen­arbeit mit der Kampagne abstellte, ist zu erfahren, dass Parscale gerade seines Mangels an politischer Erfahrung wegen offen für Experimente mit den neuen Tools der Plattform war. «Wo einem ein angegrauter Wahlkampf­stratege, der das schon x-mal gemacht hat, womöglich gesagt hätte: ‹Ach was, das funktioniert nie›, tendierte Brad eher zum ‹Ja, probieren wirs doch.›» Von Juni bis November schaltete Trumps Kampagne auf Facebook 5,9 Millionen Anzeigen – im Gegensatz zu den gerade mal 66’000 der Clinton-Kampagne. Trump wurde, wie jemand aus Facebooks Führungs­regie später in einem geleakten Memo schreiben sollte, «gewählt, weil er die beste digitale Werbe­kampagne geführt hat, die ich in der Werbe­branche je gesehen habe».

Obwohl einige Strategen die Bedeutung dieser Anzeigen infrage stellen, pries man Parscale für Trumps überraschenden Sieg. In der Presse bezeichnete man ihn als «Genie» und «Geheimwaffe» von Trumps Wahl­kampf, und so sah er sich denn auch 2018 mit der Wiederwahl­kampagne betraut. Man sah in dieser Beförderung allenthalben einen Hinweis darauf, dass die Strategie des Präsidenten für 2020 auf ebendiese von Parscale gemeisterten digitalen Taktiken bauen würde.

Bei alledem zeigte der Stratege eine konsequente Präferenz für die Fiktion gegenüber der Wahrheit. So beglückte Parscale im Mai vergangenen Jahres in Miami ein Publikum aus Spenderinnen und Aktivisten mit der Geschichte seines Aufstiegs. Als ein Reporter von «ProPublica» ihn mit den zahlreichen Ungereimtheiten in seinem Bericht konfrontierte, tat er dessen Fakten­check achselzuckend ab: «Wenn ich eine Rede halte, tue ich das gern als Story. Und meine Geschichte ist meine Story.»

Paradebeispiel Philippinen

In seinem Buch «This Is Not Propaganda» erzählt Peter Pomerantsev, derzeit Visiting Fellow an der London School of Economics, von einem Polit­berater, einem jungen Mann auf den Philippinen, den er P. nennt. Am College befasste sich P. mit dem «Little-Albert-Experiment», bei dem Forscher 1920 ein knapp einjähriges Kind darauf konditionierten, haarige kleine Tiere zu fürchten, indem sie für unangenehm laute Geräusche sorgten, wann immer es in Kontakt mit einer weissen Labor­ratte kam.

Das Experiment brachte P. auf eine Idee.

Er richtete eine Reihe von Facebook-Gruppen für Filipinos ein, in denen sich der Alltag ihrer jeweiligen Gemeinschaften diskutieren liess. Waren die Gruppen – mit etwa 100’000 Mitgliedern – gross genug, begann er Kriminal­berichte aus der jeweiligen Gegend zu posten und liess seine Mitarbeiter Kommentare dazu verfassen, welche die schauerlichen Schlag­zeilen mit Drogen­kartellen in Verbindung brachten. Die Foren explodierten schier vor verängstigtem Geschnatter; Verschwörungs­theorien begannen zu wuchern. Für viele der Beteiligten wurden mit einem Mal alle Straftaten zu Straftaten aus dem Drogenmilieu.

Was die Diskussions­teilnehmer nicht wussten: Die Facebook-Gruppen zielten darauf ab, Rodrigo Duterte Auftrieb zu geben, einem eher chancen­losen Kandidaten bei den philippinischen Präsidentschafts­wahlen, der mit dem Versprechen auf ein gnadenloses Vorgehen gegen Drogen­kriminelle angetreten war. (Duterte prahlte einmal damit, als Bürger­meister von Davao City mit dem Motorrad durch die Stadt gefahren zu sein und persönlich Dealer exekutiert zu haben.)

P.s Experiment war nur ein Element einer grösser angelegten «Desinformations­architektur», zu der sowohl Influencer aus den sozialen Netzwerken gehörten, die man für die Verhöhnung gegnerischer Kandidaten bezahlte, als auch von ehemaligen Call­centern aus operierende Söldner­trolle. Alles in allem waren die Fachleute sich einig, dass diese Methode dazu beigetragen hat, Duterte an die Macht zu bringen. Seit er 2016 das Amt übernahm, intensivierte dieser seine Anstrengungen Berichten zufolge und hat nun Tausende ausser­gerichtlicher Exekutionen zu verantworten.

Wer nicht mitlacht, lebt gefährlich: Der philippinische Präsident Rodrigo Duterte (rechts) prahlt damit, dass er selbst schon Kriminelle erschossen habe. Bullit Marquez/Ap Photo/Keystone

Die Kampagne auf den Philippinen war das beste Beispiel für die Heraus­bildung einer Art Lehrwerk in Sachen Propaganda, das den uralten Zielen der Autokratie neue Werkzeuge bot. Der Kreml zeigt sich auf diesem Gebiet seit langem schon ausgesprochen innovativ. (Ein Handbuch für russische Staatsdiener von 2011 verglich die Methoden mit einer Art «unsichtbarer Strahlung», die ihre Wirkung tut, «ohne dass die Bevölkerung spürt, dass da auf sie eingewirkt wird».) Aber angesichts der technologischen Fortschritte der letzten zehn Jahre und der explosions­artigen weltweiten Zunahme von Smart­phones erzielen Regierungen überall auf der Welt Erfolge mit dem Einsatz der vom Kreml verfeinerten Techniken gegen das eigene Volk.

Microtargeting für massgeschneiderte Botschaften

In den Vereinigten Staaten neigen wir dazu, in solchen Werkzeugen der Unterdrückung ferne Probleme eher brüchiger Demokratien zu sehen. Aber die Leute, die an Trumps Wieder­wahl arbeiten, verstehen die Macht dieser Taktiken. Sie mögen sich einer weniger brutalen Terminologie befleissigen – sie sorgen für Verwirrung, legen alternative Fakten vor –, aber Tatsache ist, dass sie mit dem Aufbau einer Maschinerie befasst sind, die bei der Ausbeutung ihrer ausladenden Desinformations­architektur helfen soll.

Zentral für diese Anstrengungen der Kampagne ist der Einsatz des Micro­targeting – der Prozess, die Wählerschaft in deutlich zu unterscheidende Gruppen aufzuteilen, um sie dann mit massgeschneiderten digitalen Botschaften anzusprechen. Die Vorteile dieses Ansatzes liegen auf der Hand: Ein Aufruf zur Streichung der Mittel für eine Organisation für Familien­planung wie Planned Parenthood könnte bei einem grossen nationalen Publikum auf gemischte Reaktionen stossen – es kommt aber durchaus an, wenn es über Facebook an 800 römisch-katholische Frauen in Dubuque, Iowa, verschickt wird. Mussten Kandidaten ihre Wahl­versprechen einst lautstark von einer Orangen­kiste aus verkünden, erlaubt das Micro­targeting ihnen heute, auf Millionen von Wählern zuzugehen, um ihnen auf sie ganz persönlich zugeschnittene Botschaften ins Ohr zu raunen.

Parscale hat diese Praxis mitnichten erfunden – Barack Obamas Kampagne hat sich ihrer bereits 2012 bedient, und jene von Clinton tat es ihr nach. Doch Trumps Kampagne 2016 war sowohl vom Ausmass als auch von ihrer Unverfrorenheit her beispiellos. Um nur ein Beispiel zu nennen: Trumps Team versuchte in den letzten Tagen der Kampagne von 2016 schwarzen Wählern in Florida den Urnen­gang zu vergällen, indem man ihnen über ihren Facebook-Newsfeed Anzeigen mit dem Titel «Hillary Thinks African-Americans Are Super Predators» (Hillary hält Afroamerikaner für Super-Raubtiere) zukommen liess. Ein nicht näher genannter Mitarbeiter der Kampagne brüstete sich «Bloomberg Businessweek» gegenüber, es handle sich beim «Super-Raubtiere»-Spot um eine von «derzeit drei grossen Operationen zur Wählerabschreckung» (die anderen beiden zielten auf junge Frauen und weisse Liberale).

«Die Saat für einen Aufstand»

Bahnbrechend für den Einsatz des Micro­targeting als Waffe waren die Daten­wissenschaftler bei Cambridge Analytica gewesen. Die Firma begann als Tochter eines unparteiischen privaten Militär­dienstleisters, der mittels digitaler psychologischer Kriegs­führung (PSYOPS) Terror­netzwerke und Drogen­kartelle ins Visier nahm. In Pakistan war sie mit dem Durchkreuzen von Rekrutierungs­bemühungen der Jihadisten befasst; in Südamerika wiegelte sie mit Desinformationen Drogen­händler gegen ihre Bosse auf.

Der Akzent von Cambridge Analytica verschob sich, als der konservative Milliardär Robert Mercer einen grossen Anteil daran erwarb und Steve Bannon als seine rechte Hand einsetzte. Mithilfe eines immensen – durchgehend ohne die Einwilligung der Nutzer gewonnenen – Daten­schatzes von Facebook und anderen Quellen arbeitete man an der Entwicklung detaillierter «psychografischer Profile» für praktisch sämtliche Wähler der USA. Dazu wurden bestimmte Charakter­eigenschaften benutzt, damit Paranoia und Bigotterie geschürt werden konnten. In einer Finger­übung fragte die Firma zum Beispiel «weisse Männer», ob sie der Heirat ihrer Tochter mit einem Mexikaner ihren Segen gäben; bei denen, die mit Ja antworteten, hakte man mit einer Frage nach, die darauf abzielte, eine unwillige Reaktion gegen politische Korrektheit zu provozieren: «Hatten Sie das Gefühl, das sagen zu müssen?»

Christopher Wylie, Forschungs­direktor bei Cambridge Analytica, der später vor dem Kongress gegen die Firma aussagte, legte offen, dass Leute, die gewisse psychologische Züge aufwiesen, «mit den Stupsern» zu immer extremeren Überzeugungen und sogar zu konspirativem Denken zu verleiten waren. «Anstatt Daten dazu einzusetzen, gegen den Radikalisierungs­prozess anzuarbeiten, war Steve Bannon in der Lage, diesen Prozess anzufeuern», sagt Wylie. «Wir brachten im Prinzip die Saat für einen Aufstand in den Vereinigten Staaten aus.»

Cambridge Analytica wurde 2018 aufgelöst, kurz nachdem der CEO der Firma – unwissentlich – auf Band damit geprahlt hatte, auch mit Bestechung und Sexfallen zu arbeiten, wenn es für seine Kundschaft von Nutzen sei. (Die Firma bestritt, jemals derlei Taktiken angewandt zu haben.) Einige Politik­wissenschaftler haben seither die Effektivität der «psychografischen» Ansprache der Firma infrage gestellt. Doch Wylie, der inzwischen von London aus für die Modemarke H&M tätig ist, sagt, die Arbeit der Firma 2016 sei nur ein bescheidener Probelauf für das gewesen, was da noch kommen könnte.

«Was passiert, wenn Nordkorea oder der Iran da weitermacht, wo Cambridge Analytica aufgehört hat?», fragt er und schiebt nach, dass eine ganze Reihe von Akteuren in aller Welt nach Möglichkeiten sucht, Einfluss auf die diesjährige Wahl zu nehmen. «Es gibt zahllose feindliche Staaten, die über mehr als ausreichende Kapazitäten verfügen, im Hand­umdrehen zu wiederholen, wozu wir in der Lage waren … und das auch noch zu verfeinern.» Es ist gut möglich, dass diese Anstrengungen nicht aus dem Ausland kommen: Eine Gruppe ehemaliger Angestellter von Cambridge Analytica hat eine neue Firma gegründet, die, der Associated Press zufolge, mit Trumps Kampagne zusammen­arbeitet. (Die Firma selbst bestreitet dies, und ein Sprecher der Kampagne lehnte jeden Kommentar dazu ab.)

Whistleblower: Christopher Wylie berichtete den Demokraten im Kongress von den Vorgängen bei Cambridge Analytica (April 2018). Alex Brandon/AP Photo/Keystone

Nach den Schlagzeilen um den Skandal von Cambridge Analytica sah Facebook sich heftig kritisiert für seinen Umgang mit Nutzer­daten und die Komplizenschaft bei der Verbreitung von Fake News. Mark Zuckerberg versprach sich zu bessern und leitete eine ganze Reihe von Reformen ein.

Vergangenen Herbst jedoch verhalf Zuckerberg lügenden Politikern zu einem wichtigen Sieg: Kandidaten, so sagte er, dürften weiterhin falsche Anzeigen auf Facebook schalten. (Kommerzielle Werbe­kunden sind im Gegensatz dazu zum Faktencheck verpflichtet.) In einer Rede an der Georgetown University führte Facebooks CEO ins Feld, dass seine Firma unmöglich zum Richter über politische Ansichten gemacht werden könne, und bei all der prüfenden Aufmerksamkeit, die politische Anzeigen schon jetzt fänden, würden Journalisten und Aufsichts­behörden Kandidaten zur Rechenschaft ziehen, die sich für die Lüge entschieden.

Zur Untermauerung seiner Sache wies Zuckerberg auf die jüngst ins Leben gerufene – öffentlich zugängliche – «Bibliothek» hin, in der Facebook jede Anzeige archiviere, die je geschaltet wurde. Das Projekt hat einen gewissen demokratischen Appeal: Warum sollte man falschen oder toxischen Content zensieren, wenn ein bisschen Licht denselben Effekt haben kann? Aber wenn man sich dann die Zeit nimmt, sich durch das Archiv von Trumps Anzeigen im Rahmen seiner Kampagne zur Wiederwahl zu scrollen, sieht man schnell, dass diese Transparenz ihre Grenzen hat.

Flüsterbotschaften per SMS

Die Kampagne schaltet zu einem bestimmten Zeit­punkt nicht nur eine Anzeige zu einem bestimmten Thema. Sie schaltet Hunderte von Variationen – passt die Sprache an, die Musik, selbst die Farben für die «Spende»-Buttons. Allein in den zehn Wochen nach der Einleitung der Untersuchung für das Amts­enthebungs­verfahren schaltete die Trump-Kampagne etwa 14’000 unterschiedliche Anzeigen, in denen das Wort Impeachment vorkam. Es ist praktisch unmöglich, sich die alle anzusehen.

Beide Parteien werden dieses Jahr auf per Micro­targeting mass­geschneiderte Anzeigen bauen, aber der Präsident dürfte hier aller Wahrscheinlichkeit nach entschieden im Vorteil sein. Das Republican National Committee, die für die Kampagne und deren finanzielle Ausstattung verantwortliche Organisation, und die Kampagne selbst haben Berichten zufolge durchschnittlich 3000 Daten­punkte über jede US-Wählerin zusammengetragen. Sie haben Jahre mit der Verfeinerung ihrer Botschaften experimentiert, nicht nur hinsichtlich Geschlecht und Wohnort, sondern auch dahingehend, ob jemand eine Waffe besitzt oder Golf Channel guckt.

Auch wenn diese Anzeigen zur Überzeugung unentschiedener Wähler eingesetzt werden können, in der Regel setzt man sie zum Spenden­sammeln ein oder dazu, die Getreuen zu motivieren – und Trumps Berater sind davon überzeugt, dass die aktuelle Wahl durch die Mobilisierung von Wählern, nicht durch deren Überzeugung entschieden wird. Um die Basis an die Urnen zu bekommen, will die 2020-Kampagne auf vertraute Themen zurückgreifen: die Bedrohung durch «illegale Ausländer» – ein Begriff, zu dem Parscale Trump geraten hat – und die Korruption des «Sumpfs».

Über Facebook hinaus verlässt sich die Kampagne auf eine Texting-Plattform, die es ihr erlaubt, anonyme Nachrichten direkt auf die Telefone von Millionen von Wählern zu schicken – ohne deren Einwilligung, versteht sich. Bis vor kurzem mussten die Leute sich durch ein bewusstes «Opt-in» dazu bereit erklären, dass eine Wahl­kampagne sie mit ihren Massen­texten eindecken kann. Mit den neuen «Peer-to-Peer»-Texting-Apps – darunter eine von Gary Coby, einem der engsten Berater Trumps – kann ein Freiwilliger Hunderte von Messages in der Stunde verschicken, indem er das Gesetz dadurch umgeht, dass er jede Nachricht einzeln abschickt. Vor allem aber müssen diese Nachrichten nicht zu erkennen geben, wer hinter ihnen steckt – sofern sie die von der Bundes­wahl­kommission 2002 festgelegte Länge von 160 Buchstaben nicht überschreiten.

Die Mehrheit der Fachleute geht davon aus, dass diese Regelungen irgendwann nach 2020 überarbeitet werden. Für den Augenblick jedoch beschicken beide Parteien so viele Handys wie nur irgend möglich, und laut Parscale wird die SMS im Zentrum von Trumps Strategie zur Wiederwahl stehen. Die Möglichkeiten des Mediums, Wähler zu erreichen, sind beispiellos: Während automatisierte Anrufe auf die Voicemail gehen und Rundmails der Spamfilter abfängt, werden gemäss Angaben von Peer-to-Peer-Texting-Firmen mindestens 90 Prozent ihrer Nachrichten geöffnet.

Die Textmessages der diesjährigen Trump-Kampagne konzentrieren sich bis jetzt auf Spenden­aufrufe («Die haben NICHTS! Das IMPEACHMENT IST VORBEI! SPRENGEN wir jetzt unser MONATSZIEL!»). Aber das Potenzial für den Missbrauch durch Aussen­stehende liegt auf der Hand – und zwielichtige politische Akteure entdecken im Augenblick, wie einfach es ist, eine nicht zurück­zuverfolgende Flüster­kampagne per SMS zu führen.

Als 2018 in Tennessee die ersten Vorentscheidungen für die Gouverneurs­wahl in Gang kamen, erhielten immer mehr Wähler plötzlich Text­nachrichten, welche die konservative Legitimation der Kandidaten in Zweifel zogen. Die Texte, im umgangs­sprachlichen Plauderton gehalten, als kämen sie von einem Bekannten, waren nicht signiert, und die Leute, die zurückzurufen versuchten, erhielten ein Besetzt­zeichen. Die Lokal­zeitungen berichteten über die Schmutz­kampagne; man erstattete Anzeige.

Doch die Herkunft der Texte blieb ungeklärt.

Dieser Beitrag erschien am 10. Februar 2020 unter dem Titel «The Billion-Dollar Disinformation Campaign to Reelect the President» im US-Magazin «The Atlantic».

Zum zweiten Teil

Lesen Sie in Teil 2: Die systematische Verbreitung von Lügen soll nicht nur Donald Trumps Wiederwahl sichern, das ist die Vernichtung der Medien. Wie sollen die Demokraten damit umgehen? Darauf hoffen, dass sich die Wahrheit irgendwann doch durchsetzt? Oder Feuer mit Feuer bekämpfen, um so am Rad der Zerstörung mitzudrehen? Teil 2: «Krieg gegen die Wahrheit».

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