«Das Wichtigste ist: Nicht nur das Virus ist ansteckend, sondern auch dein Verhalten»

Unser Menschenbild ist grundfalsch: Wir streben nicht nach Eigennutz, sondern suchen das Gute – behauptet der Historiker Rutger Bregman. Was bedeutet das in Zeiten der Pandemie?

Ein Interview von Daniel Graf, 19.03.2020

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«Das ist das Problem mit der Güte des Menschen – sie ist wahnsinnig langweilig»: Rutger Bregman. Stephan Vanfleteren

Es gibt zwei Momente aus dem Jahr 2019, die den nieder­ländischen Historiker Rutger Bregman weltberühmt gemacht haben. Erst las er in Davos der versammelten Wirtschaftselite die Leviten. Dann brachte er den TV-Host Tucker Carlson so auf die Palme, dass der völlig die Contenance verlor. Seither ist Rutger Bregman für viele dieser Typ, der den Mächtigen am WEF das Thema Steuern um die Ohren haute. Oder der, dem man bei Fox News ein erbostes «Go fuck yourself» an den Kopf warf – worauf Bregman seinem Gegenüber cool entgegnete, er komme wohl nicht gut mit Kritik zurecht.

Bei all dem geht fast vergessen, dass Bregman auch ein internationaler Bestseller­autor ist: klug, belesen und ein exzellenter Erzähler. Ausserdem hat er wenig Scheu vor grossen Themen. In seinem neuesten Buch, soeben auf Deutsch erschienen, liefert er «eine neue Geschichte der Menschheit». Darin tritt er den Beweis an, dass der Mensch zwar seit eh und je ein miserables Image unter seinesgleichen habe – aber eben doch «im Grunde gut» sei, wie es im Titel heisst. Für diesen Nachweis hat Bregman Forschungs­ergebnisse aus unter­schiedlichsten Disziplinen zusammen­geführt: von der Biologie über die Geologie bis zu Psychologie, Anthropologie, Soziologie, Philosophie und Geschichtswissenschaft.

Was folgt aus all dem für die Corona-Krise?

Wir haben Bregman zum Gespräch getroffen – wie es sich in diesen Tagen gehört: per Video­konferenz von Homeoffice zu Homeoffice.

Herr Bregman, der Mensch ist nicht egoistisch und böse, sondern im Grunde auf Kooperation und Altruismus ausgerichtet – sagen Sie in Ihrem neuen Buch. Würden Sie für die Corona-Krise dasselbe Fazit ziehen?
Ich glaube, ja. Es ist natürlich etwas früh für eine Einschätzung, aber die Situation erinnert mich sehr an das, was nach Natur­katastrophen geschieht. Die Soziologie untersucht das seit Jahrzehnten, und das, was man nach einem Erdbeben oder einem Tsunami in den Medien sieht, sind in der Regel Berichte über Plünderungen und Gewalt. Und gewisser­massen zeigt sich das auch jetzt: Wir sehen vor allem Bilder von Hamster­käufen. Diese sind zwar nicht besonders sozial, aber in manchen Fällen auch verständlich, etwa wenn man älter ist oder sich um Grosseltern oder Kinder kümmern muss.

Hamsterkäufe und das individuelle Horten von Atem­schutz­masken oder Desinfektions­mitteln sind also kein Gegen­beispiel dafür, dass der Mensch sich grundsätzlich solidarisch verhalten möchte?
Die Frage ist doch: Welches Verhalten herrscht mehrheitlich vor? Soziologinnen haben heraus­gearbeitet, dass in solchen Krisen­situationen vor allem eines passiert: eine wahre Explosion von Altruismus und Kooperation. Die Leute vernetzen sich, fragen sich gegenseitig: Kann ich helfen? Erinnern Sie sich an all die Berichte im Fall des Hurrikans Katrina über Plünderungen und Nutzniesser­tum, während in Wirklichkeit viele Menschen den ganzen Weg von Texas nach New Orleans machten, um zu helfen – eine ganze Armada von Unterstützern. Und wenn man auf die aktuellen Berichte aus China und Italien schaut: Da singen Leute auf den Balkonen, gründen Hilfs­gruppen auf Whatsapp und Facebook. Die überwältigende Mehrheit setzt auf gegenseitige Unter­stützung. Auch wenn es paradox klingen mag: Auf lange Sicht könnte eine Krisen­situation wie diese uns näher zusammenbringen.

Auf Staatsebene sehen wir allerdings eher die egoistische Variante. Jeder Staat folgt seiner eigenen Agenda, oder?
Offenkundig gibt es kulturelle Differenzen zwischen den Ländern. Was im einen Land funktioniert, muss nicht die Lösung anderswo sein. Das scheint mir vernünftig. Aber schauen Sie, was China gemacht hat: Das Land hat schon Dutzende Ärzte nach Italien geschickt, und Hilfsmittel obendrein.

Man könnte aber auch sagen, die Corona-Krise ziehe alle Aufmerksamkeit auf sich und lenke uns von anderen Problemen ab, etwa der Migrations­krise an der europäischen Aussen­grenze. Ist das nicht ein Egoismus auf einer höheren Ebene – bei gleichzeitig grosser Solidarität im Inneren?
Klar, diesen Punkt kann man machen. Ich wäre der Letzte, der sagte, Menschen wären Engel. Das sind wir nicht. Das Einzige, womit ich in diesem Zusammen­hang aufräumen möchte, ist die verbreitete Vorstellung, dass in Krisen­situationen wie dieser in jedem von uns die Bestie erwacht und wir zurückfallen in unsere wahre Natur, die egoistisch und triebhaft ist. Das trifft einfach nicht zu. Die Mehrheit dessen, was wir über die ganze Gesellschaft hinweg beobachten können, ist prosoziales Verhalten.

Warum braucht es erst eine Katastrophe, um das Beste aus uns herauszulocken?
Historiker haben vielfach gezeigt, dass Krisen auch gesellschaftliche Wende­punkte sein können. Oft sind das die Momente, in denen Wandel geschieht. Es ist, als befänden wir uns gegenwärtig in einem Historien­film; und es ist noch zu früh für eine Prognose, aber ich hoffe, dass dieser Moment ein Wende­punkt sein und das Ende dessen markieren wird, was man das neoliberale Zeitalter nennen könnte, in dem wir vor allem auf Wettbewerb und Individualismus gepolt sind. Vielleicht können wir in ein neues Zeitalter der Kooperation eintreten, auf der Grundlage eines positiveren Menschen­bildes. Wie ich in meinem Buch schreibe: Was Sie anderen Menschen unterstellen, ist oft auch das, was Sie von ihnen bekommen. Wenn man davon ausgeht, dass die meisten Leute nur an ihren Eigennutz denken, dann errichtet man auch die eigene Gesellschaft gemäss diesem Prinzip: alle Institutionen, Schulen, Arbeits­plätze, die Demokratie, was auch immer Sie wollen. Aber wenn wir umgekehrt Institutionen auf der Vorstellung aufbauen würden, dass Menschen zwar keine Engel, aber letztlich ziemlich anständig sind, dann bekämen wir eine ziemlich andere und wohl auch bessere Gesellschaft.

Wenn wir schon von Wende­punkten sprechen: Kennen Sie die Novelle «Das Erdbeben in Chili» von Heinrich von Kleist? Auch da geht es um einen Wende­punkt, wenn nach der grossen Katastrophe eine riesige Solidaritäts­welle einsetzt, ein geradezu Rousseau-hafter utopischer Zustand. Nur: Dann kommt der nächste Wende­punkt, und es endet damit, dass sich Menschen bestialisch abschlachten.
Hm!

Was stimmt Sie optimistisch, dass die gegenwärtige Krise eine nachhaltigere Wende zum Guten hervorbringt?
Hier sehen Sie, warum man bei literarischen Werken manchmal skeptisch sein muss. In meinem Buch gibt es eine Geschichte über einen anderen berühmten Roman, «Herr der Fliegen». Auch da beginnt es zunächst idyllisch: Kinder, die schiff­brüchig auf einer Insel landen, bauen eine Demokratie auf – und am Ende massakrieren sie sich auch da. Das Problem ist nur: Das ist Literatur. Wenn man den einzigen realen «Lord of the Flies»-Fall ansieht, den ich ausfindig machen konnte, ist das eine erbauliche Geschichte von sechs Jungen, die für fünfzehn Monate allein auf einer Insel zusammen­gelebt haben und bis heute miteinander befreundet sind. Allerdings wäre es schwer, daraus einen spannenden Roman zu machen. Das ist das Problem mit der Güte des Menschen: Sie ist wahnsinnig langweilig, hat keinen Nachrichten­wert. Nehmen wir das Reality-TV: Da geht es immer um Leute, die furchtbare Dinge tun. Doch was die Macher dieser Sendungen heraus­fanden, als sie vor dreissig Jahren damit anfingen, ist: Wenn man Leute auf eine unbewohnte Insel bringt oder in ein Herren­haus steckt und sich selbst überlässt, dann passiert gar nichts. Sie trinken einfach Tee, tauschen sich aus, haben eine gute Zeit. Das ist natürlich fatal für die Einschalt­quote, wer will das schon sehen. Was also tust du als Produzent? Nun, du gibst ihnen Alkohol, belügst sie, fängst an, sie zu täuschen und gegen­einander auszuspielen.

Die Versuchsanordnung wird manipuliert?
Es wird manipuliert und manipuliert und manipuliert. Bis irgendwann eine Kleinigkeit passiert, die man filmen und aus dem Kontext reissen kann. Aber das ist wirklich schwer! Man müsste den Leuten, die das machen, Beifall klatschen. (lacht) Es ist nämlich verdammt schwer, aufregendes Fernsehen zu machen, wenn man den Dingen ihren natürlichen Lauf lässt.

Glauben Sie, wenn wir die Corona-Krise als das wirklich realistische Reality-TV betrachten, dass unser Menschen­bild danach ein besseres sein wird?
Ganz ehrlich, ich glaube, das geschieht bereits. Wenn man aktuell auf Facebook und Twitter schaut, da trendet #Coronahelp, Tausende Hilfs­gruppen werden gegründet, Menschen bieten einander Hilfe an. Es ist einfach, alle Aufmerksamkeit auf die Hamster­käufe zu lenken, aber ich glaube, auf jeden Panik­käufer da draussen kommen tausend Kranken­pfleger und Ärztinnen, die rund um die Uhr arbeiten. Und es gibt Tausende Bürger, die ihr Bestes tun, um das Virus an der schnellen Ausbreitung zu hindern.

Wenn das so ist, warum ist dann ein negatives Bild vom Menschen immer noch so tief in uns verankert? Woher kommt das eigentlich?
Okay, das ist jetzt die lange Geschichte! Ich habe vier Erklärungen für Sie. (lacht) Die erste und oberflächlichste davon betrifft die Informationen, die wir täglich erhalten, also die Nachrichten. Diese drehen sich ganz überwiegend um das Schlechte: Korruption, Gewalt, Terrorismus, all diese Dinge. Wenn man also sehr viele News konsumiert, erleidet man das, was Psychologinnen das «Gemeine-Welt-Syndrom» nennen. Man entwickelt eine ziemlich negative Sicht auf die menschliche Natur und Geschichte. Das ist der erste Grund.

Verzeihung, dass ich unterbreche, aber Sie würden wohl nicht empfehlen, keine Nachrichten zu schauen?
Ich glaube, man muss unterscheiden zwischen News und Journalismus. Derzeit ist es offenkundig sehr wichtig, die Nachrichten zu verfolgen. Denn wie gesagt, wir befinden uns quasi mitten in einem Historien­film. Aber in normalen Zeiten müssen wir hier wirklich unterscheiden. Gute Journalisten versuchen die grossen Zusammen­hänge zu sehen, die strukturellen Kräfte, die unsere Gesellschaft lenken. Manchmal wird das «konstruktiver Journalismus» genannt, also nicht nur auf ein Problem zu schauen, sondern auch nach Lösungen zu suchen. Was nicht gleich­bedeutend ist mit erbaulichen, guten Nachrichten, das interessiert mich genauso wenig. Aber sich um einen ausgewogeneren, differenzierteren, weitsichtigeren Blick auf die Welt zu bemühen, das ist es, wobei guter Journalismus uns hilft. News sind dabei nicht immer sonderlich hilfreich. Ein zweiter, tieferer Grund für unser negatives Menschen­bild liegt darin, dass die Vorstellung vom selbst­süchtigen Menschen seit über zweitausend Jahren tief in unserer westlichen Kultur verankert ist. Manche Biologen nennen das «Fassadentheorie».

Ein Begriff, den Frans de Waal geprägt hat, in kritischer Absicht.
Genau. Nach dieser Vorstellung ist die menschliche Zivilisation nur eine dünne Schicht, und sobald etwas passiert wie eine Natur­katastrophe oder eine Epidemie, zeigt sich das Animalische in uns. Diese Vorstellung ist überall in unserer Geschichte anzutreffen. Schon Thukydides, der antike griechische Historiker, sprach davon, ebenso die christlichen Kirchen­väter wie Augustinus, auch die Philosophen der Aufklärung. Man würde doch denken, die Aufklärung würde mit dem orthodoxen Christentum endgültig brechen, aber hinsichtlich des Menschen­bildes ist eher die Kontinuität frappant. Oder lesen Sie die amerikanischen Gründer­väter. John Adams schrieb einen Essay mit dem Titel «All men would be tyrants if they could». Und auf einer tieferen Ebene – das ist dann Erklärung Nummer drei – ist ein düsteres Menschen­bild ganz im Interesse der Mächtigen. Denn wenn wir einander nicht trauen können, brauchen wir sie, um uns zu kontrollieren. Weil sonst der Krieg aller gegen alle herrschen würde.

Das heisst, auch wir haben ein Interesse an dieser Konstellation? Wir könnten sonst ja auch versuchen, die Mächtigen loszuwerden. Warum geschieht das nicht?
Es ist in unserer heutigen Zeit sehr schwer geworden, die Mächtigen zu stürzen, weil dann Gewalt droht. Gewalt spielt eine zentrale Rolle in der Geschichte von Hierarchie und Macht. In meinem Buch zeige ich, dass es über Jahrtausende hinweg, als wir noch als nomadische Jäger und Sammler lebten, quasi keine Kriege gab. Dann wurden wir sesshaft, begannen mit Landwirtschaft und dem Bauen von Dörfern und Städten – und das war in gewisser Weise der grosse Fehler. Damals haben wir angefangen, Hierarchien aufzubauen, die wir später nicht mehr loswurden. Es entstand das Patriarchat, die Gesundheit verschlechterte sich, und wir bekamen all diese Infektions­krankheiten wie jetzt Corona. Wegen der Zivilisation. Die längste Zeit über war Zivilisation etwas Grauenhaftes. Wir haben das nur vergessen, weil wir in den vergangenen paar Jahrzehnten so ausser­ordentlichen Fortschritt erlebt haben, den wir nur begrüssen können. Wir sind gesünder und wohlhabender denn je. Aber das ist eine hochgradige Ausnahme, wenn man auf die gesamte Zivilisations­geschichte blickt. Und schliesslich müssen wir, auf der tiefsten Erklärungs­ebene, anerkennen: Wir selbst haben eine Tendenz, uns auf das Schlechte und Böse zu konzentrieren. Die Psychologie nennt das unseren negativity bias. Vieles deutet darauf hin, dass das evolutionäre Vorteile brachte: besser einmal zu viel Angst haben als einmal zu wenig und dann getötet werden. Aber in einer Welt beständiger Nachrichten­flut ist es ungleich schwieriger, sich klarzumachen, dass das Schlechte zwar stärker ist, das Gute aber überwiegt. Das übrigens ist die einzige Chance, die das Gute hat: in der überwältigenden Mehrheit zu sein.

Es klang eben schon an: Ihr Buch ist auch die Geschichte eines philosophischen Streits, man könnte sagen zwischen Team Thomas Hobbes und Team Jean-Jacques Rousseau. Sie halten es eindeutig mit Rousseau. Weshalb?
Das war wirklich faszinierend! Als ich Geschichte und Philosophie studierte und all diese Texte las, hatte ich immer das Bild von Rousseau als dem durchgeknallten Revolutionär im Kopf, der sich die Fakten so hindreht, wie es zu seiner Weltsicht passt – und dass Archäologen und Anthropologinnen zu ganz anderen Ergebnissen kommen. Für ihn war die Zivilisation das Schreck­gespenst überhaupt. Bevor es sie gegeben habe, seien wir gut gewesen und hätten ein gutes Leben geführt. Als ich dann anfing, mein aktuelles Buch zu schreiben, hatte ich schon eine Ahnung, dass die Menschen nicht so schlecht sind, wie wir immer glauben, aber ich dachte, eine grosse Konzession würde ich machen müssen: dass die Jäger und Sammler tatsächlich gewalttätig waren und sich die meiste Zeit im Krieg befanden. Ich hatte nämlich den ganzen Steven Pinker gelesen. (Anm. d. Red.: Gemeint ist hier insbesondere Pinkers umfangreiches Sachbuch «Gewalt».) Aber wenn man in die akademische Literatur schaut, die Bücher, die nicht die Schlag­zeilen machen, stellt man fest, dass Rousseau im Grunde recht hatte. Ich habe sogar daran gedacht, mein Buch «Rousseau hatte recht» zu nennen. Denn es gibt eine riesige Schnitt­menge zwischen seiner Sicht und den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen der Anthropologie und der Archäologie.

Können Sie das näher erläutern?
Wir haben über Jahrtausende als nomadische Jäger und Sammler gelebt, und zwar ziemlich egalitär. Ich sage immer, das waren die Proto-Feministen, Gleichheit zwischen den Geschlechtern spielte eine grosse Rolle. Dann wurden wir sesshaft, und es gibt diese berühmte Passage in Rousseaus «Abhandlung über den Ursprung und die Grund­lagen der Ungleichheit unter den Menschen», wo er sagt: Tut das nicht! Als der erste Mensch sich niederliess und sagte, «das hier ist meins», hätten die Menschen rufen sollen: Nein, du bist verrückt, das wird nicht gutgehen. Aber das geschah nicht. So wurde der Mensch sesshaft, und es folgte eine Katastrophe auf die andere. Epidemien sind eine relativ moderne Katastrophe, ein Produkt des engen Zusammen­lebens von Menschen und der Domestizierung von Tieren. Wir haben unsere Städte zu Petrischalen für die Entwicklung aller möglichen Viren und Bakterien gemacht. Und tatsächlich entspricht das den Ergebnissen der heutigen Wissenschaft: In den Städten kam es immer wieder zum Aussterben weiter Bevölkerungs­teile. Bei nomadischen Jägern und Sammlern gab es das nicht, und auch nicht die ganzen Kriege. Die archäologische Forschung zeigt: Für Kriege in der Zeit von vor etwa 12’000 Jahren findet man keine Anzeichen.

Aber heisst das, dass es auch keine gab? Möglicher­weise ist ja erst die Zivilisation der Grund, dass es Tradition und die Überlieferung von Zeugnissen gibt.
Natürlich ist es ausgesprochen schwierig, Aussagen über das Leben unserer Vorfahren von vor dreissig- oder vierzig­tausend Jahren zu treffen. Andererseits gibt es einige meiner Meinung nach ziemlich überzeugende Indizien, zum Beispiel Höhlen­malereien. Wenn der Krieg aller gegen alle geherrscht hätte, dann würde man doch annehmen, dass das irgendwo in einem Bild festgehalten wurde. Wir haben aber kein einziges gefunden. Erst ab der Zeit der Sesshaftigkeit findet man zahlreiche Höhlen­malereien, die Kriegs­szenen zeigen. Ich glaube, man braucht keinen Doktor­titel, um zu der Schluss­folgerung zu kommen: Möglicher­weise hat sich da etwas verändert. Die Kriegs­archäologie untersucht die Spuren von Gewalt an Skeletten. Die über dreitausend Skelette, die man aus der Zeit vor der Land­wirtschaft kennt, liefern quasi keine Hinweise auf Gewalt und Krieg. Wenn wir wirklich so eine gewalt­tätige Spezies wären, müsste es sie doch geben.

Nehmen wir an, Rousseau und Sie haben recht, und die ganze Misere begann, als …
Also Rousseau ging ein bisschen weiter, als ich das je tun würde! Im Grunde sagt er, der Mensch sei von Natur aus gut. Das ist nicht meine Position. In meinem Buch beschäftige ich mich auch ausführlich mit der dunklen Seite des Menschen. Wir haben auch dieses Stammes- und Gruppen­denken. Oft ist das kein grosses Problem, bei einem Fussball­spiel zum Beispiel, wenn wir «unser» Team und andere eben «ihres» unterstützen. Und auch als Jäger und Sammler war das keine grosse Sache, weil es offene Netzwerke gab und die Menschen zwischen den Gruppen wechselten. Im Zeitalter der Zivilisation aber, mit all diesen Staaten, Siedlungen, Nationen und Imperien, die immer von Hierarchien bestimmt sind, ist der Gruppen­instinkt plötzlich ausser Kontrolle geraten. Und das ist eine wichtige Erklärung für den Ausbruch von Kriegen.

Mit Ihren Recherchen der vergangenen Jahre sind Sie zu einem Experten für menschliches Verhalten in Extrem­situationen geworden. Was ist Ihre wichtigste Empfehlung in der Corona-Krise?
Puh … schwierig. Ich glaube, das Aller­wichtigste ist: Nicht nur das Virus ist ansteckend, sondern auch dein Verhalten. Jetzt ist wirklich die Zeit, in der wir die besten Seiten unseres Wesens zum Vorschein bringen müssen. Wir sollten uns bewusst machen: Jedes einzelne Mal, wenn wir jemandem helfen, kann das jemanden anders inspirieren und immer weitere Kreise ziehen, wie bei einem Kiesel­stein, den wir in den Teich werfen. Was wir tun, beeinflusst die Menschen um uns herum. Also zeigen wir uns doch von unserer besten Seite.

Zum Buch

Rutger Bregman: «Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit». Aus dem Niederländischen von Ulrich Faure und Gerd Busse. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2020. 480 Seiten, ca. 38 Franken.

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