Binswanger

Europas Erpressbarkeit

Erdoğan kündigt den Flüchtlingspakt auf, Griechenland macht seine Grenzen dicht. Wie konnte es so weit kommen?

Von Daniel Binswanger, 07.03.2020

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Wir haben es zustande gebracht! Kaum zu glauben, aber wir haben es zustande gebracht, auf dem Rücken von schutz­bedürftigen Kindern, Frauen und Männern einen schäbigen Konflikt mit dem Autokraten Recep Tayyip Erdoğan auszutragen – und moralisch in einer noch anfechtbareren Position zu sein als der grosse türkische Verächter von Grund­rechten und Demokratie. Wir haben es tatsächlich geschafft, beinahe noch zynischer zu handeln als der autoritäre Kriegs­treiber vom Bosporus.

Sicherlich, Erdoğan spielt ein ruchloses Spiel: Seine Militär­operation gegen die kurdischen Verbände in Nordsyrien, seine Intervention in der Grenz­region von Idlib, sein Pakt mit den islamistischen Milizen, sein Widerstand gegen das feindliche Regime von Damaskus und das verbündete Russland sind nicht dem humanitären Engagement entsprungen. Sicherlich, indem er nun den Flüchtlings­pakt aufkündigt und Migranten an die Grenze karrt, versucht er, Europa zu erpressen.

Dennoch ist unbestreitbar, dass die Türkei mit Abstand die grösste Flüchtlings­last trägt und dass sie dem blutrünstigen Assad und seinem Komplizen Putin – seit Jahren bilden systematische Kriegs­verbrechen, die Bombardierung von Schulen, Spitälern und Wohngebieten, den eigentlichen Kern der syrisch-russischen Militärstrategie – wenigstens in Teilen der Konflikt­zone entgegentritt. Sehr im Gegensatz zu den anderen Nato-Partnern.

Die verstörenden Bilder von griechischen Patrouillen­booten hingegen, die Jagd auf voll besetzte Flüchtlings­schiffe machen, sie abdrängen, auf offenem Wasser attackieren und dabei Todes­opfer in Kauf nehmen – sie sind das Ergebnis unserer Politik. Wer sind «wir»? Die sogenannte europäische Werte­gemeinschaft. Und «wir» ist auch die Schweiz. Wir sind Teil des Schengen/Dublin-Raums. Für jeden zurück­gewiesenen Asylbewerber an der Schengen-Aussengrenze tragen wir die volle Mitverantwortung.

Heute ermessen wir, wie dramatisch sich das politische Klima in Europa verändert hat. Es mag auch daran liegen, dass der Normal­bürger gerade viel zu sehr damit beschäftigt ist, in seine Armbeuge zu niesen und Nudeln zu bunkern, als dass er sich auch noch um profane Dinge wie Menschen­rechte, die Wahrung des zwingenden Völker­rechts oder an der türkisch-syrischen Grenze erfrierende Kinder kümmern könnte.

Der Hauptgrund für die erstaunliche Indifferenz, mit der die Öffentlichkeit dem erneuten Flüchtlings­drama begegnet, ist jedoch politischer Natur. Die EU ist migrations­politisch weiterhin handlungs­unfähig, weil die Blockade durch einzelne Länder eine vertretbare gemeinsame Asylpolitik bislang erfolgreich verhindert. Noch viel bedrohlicher: Selbst die kooperativen Staaten sind zunehmend paralysiert, weil die Xenophobie so weit an Terrain gewonnen hat, dass die politisch Verantwortlichen zuallererst der Maxime folgen: bloss keine Erinnerung an 2015!

Der Deutsche Bundestag blockierte am Mittwoch die von den Grünen beantragte Aufnahme von 5000 Kindern, Schwangeren, allein reisenden Frauen und sonstigen besonders schutz­bedürftigen Flüchtlingen aus griechischen Lagern. Die Abgeordneten der Grossen Koalition lehnten den Antrag geschlossen ab. Angesichts der Gesamt­dimensionen der syrischen Flüchtlingskrise – geschätzte vier Millionen leben in der Türkei, rund eine zusätzliche Million in prekären Notlagern entlang der türkisch-syrischen Grenze – wäre die Zahl von 5000 Flüchtlingen eigentlich als symbolisch zu bezeichnen, ihre Aufnahme hätte aber immerhin einen Beitrag zur Verbesserung der Lage auf den griechischen Inseln leisten können. In der EU, die wirtschaftlich viel potenter und viel grösser ist als die Türkei, haben bislang rund eine Million Syrer Aufnahme gefunden, gross­mehrheitlich in Deutschland und Schweden.

Doch auch angesichts der eskalierenden Lage war die von den Grünen geforderte Humanitäts­geste nicht möglich. Selbst den kleinen Finger will die Bundes­regierung nicht mehr rühren – oder nur unter der Bedingung, dass auch andere EU-Länder mitziehen. Das Droh­potenzial der AfD ist zu gross geworden.

Stattdessen überflog EU-Kommissions­präsidentin Ursula von der Leyen im Hubschrauber das türkisch-griechische Grenzgebiet, versprach der griechischen Regierung Finanzhilfe in Höhe von 700 Millionen Euro sowie Frontex-Unterstützung und dankte dem Land dafür, der «europäische Schild» zu sein. Die Metapher war sicherlich gut gemeint, aber aussage­kräftiger als vermutlich intendiert: In Frankreich legitimieren Geschichts­revisionisten das Vichy-Regime damit, dass es der «Schild» gewesen sei, eine unverzichtbare Ergänzung zum «Schwert» der Résistance des Général de Gaulle. Welches Verbrechen gegen die Menschlichkeit lässt sich nicht dadurch rechtfertigen, dass man ihm eine leider Gottes unverzichtbare Schutz- und Schild­funktion zuschreibt?

Der «europäische Schild» besteht im Wesentlichen darin, die Europäische Menschenrechts­konvention und die Genfer Flüchtlings­konvention «auszusetzen». Eine völlig neue Rechtsauffassung: Offenbar will die EU das zwingende Völker­recht nur noch nach freiem Gusto anwenden. Natürlich versuchen die griechischen Behörden – und die Kommission, die den Entscheid stützt –, «besondere und unvorher­gesehene Ereignisse» geltend zu machen, welche die Sicherheit des Landes gefährden und drastische Massnahmen rechtfertigen sollen.

Allerdings müssen das Non-Refoulement-Prinzip und die damit einher­gehenden Verfahrens­garantien auch in einer Ausnahme­situation gültig bleiben. Und vor allem: Die vorliegenden Zahlen sind weit davon entfernt, einen Notstand plausibel zu machen. Am Grenz­fluss Evros zwischen Griechenland und der Türkei sollen etwa 13’000 Flüchtlinge auf den Grenz­übertritt warten, auf die östlichen Ägäis-Inseln setzen seit Erdoğans Grenz­öffnung täglich etwa 1000 Migranten über. Das ist längerfristig ohne Zweifel eine unhaltbare Situation – ganz einfach deshalb, weil die bestehenden griechischen Lager ohnehin schon hoffnungslos überlastet sind. Eine nationale Notlage aber sieht anders aus.

In einem hat von der Leyen recht: Europa muss sich endlich solidarisch zeigen mit Griechenland. Dass heute rechtsradikale Mobs auf Lesbos Journalisten und NGO-Mitarbeiter verprügeln, hat selbstredend auch damit zu tun, dass man die Flüchtlinge auf den Inseln unter fürchterlichen Bedingungen einfach festsetzte, anstatt sie nach einem fairen Schlüssel unter den Dublin-Ländern zu verteilen. Es wird zu einer existenziellen Bedrohung für die EU, dass sie sich von den Visegrád-Staaten hat paralysieren lassen. Dass sie heute von Erdoğan auf so billige Weise erpresst werden kann, hat sie nur sich selber zuzuschreiben. Wofür steht das europäische Projekt noch, wenn es nicht mehr für die Menschenrechts­konvention und das Völker­recht steht?

Die Erkenntnis ist nicht neu – aber seit dem Herbst 2015 ist die europäische Migrations­politik nur noch ein Trauer­spiel des Zögerns und des Verschleppens. Findet die EU den Willen und den politischen Spielraum, um endlich zu handeln? Oder wird sie damit fortfahren, das Fundament ihrer eigenen Rechts- und Wertebasis zu zerstören? Nur schon die Frage scheint absurd. Aber sie stellt sich heute mit dramatischer Dringlichkeit.

Illustration: Alex Solman

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