Strassberg

Darf man lügen, wenn es um Leben und Tod geht?

Kant bestreitet, dass eine Lüge in Notwehr erlaubt ist. Das ist absurd. Aber die Gründe, die er anführt, sind es nicht.

Von Daniel Strassberg, 03.03.2020

Journalismus kostet. Dass Sie diesen Beitrag trotzdem lesen können, verdanken Sie den rund 27’000 Leserinnen, die die Republik schon finanzieren. Wenn auch Sie unabhängigen Journalismus möglich machen wollen: Kommen Sie an Bord!

Im Jahre 1797 erscheint einer der verstörendsten Texte der Philosophie­geschichte. Die kurze Streit­schrift ist Immanuel Kants Antwort auf eine Polemik seines Lausanner Kontrahenten Benjamin Constant. Sie trägt den Titel «Über ein vermeintes Recht aus Menschen­liebe zu lügen» und geht um die Reichweite des kategorischen Imperativs: Jede Handlung muss moralisch daran geprüft werden können, ob sie als allgemeines Gesetz taugen würde, forderte Kant.

Um den kategorischen Imperativ ad absurdum zu führen, stellt Constant folgendes Gedanken­experiment an: Ein Mörder klopft an Ihre Tür und fragt, ob sich das Opfer, auf das er es abgesehen hat, in Ihrer Wohnung versteckt. Dürfen Sie lügen, um dem Flüchtenden das Leben zu retten, oder müssen Sie dem Mörder die Wahrheit sagen? Da niemand wollen kann, dass es ein Gesetz gibt, das zu lügen verlangt, darf auch derjenige, der dem Flüchtigen Asyl gewährt, nicht lügen.

Für Constant beweist dieses Beispiel die Absurdität des kategorischen Imperativs. Jedem einiger­massen vernünftigen und anständigen Menschen muss doch klar sein, dass man hier nicht nur lügen darf, sondern lügen muss.

Nicht so Kant. Mit trotzigem Pathos hält er an seiner Position fest:

Wer also lügt, so gutmütig er dabei auch gesinnt sein mag, muss die Folgen davon, selbst vor dem bürgerlichen Gerichts­hofe, verantworten und dafür büssen: so unvorher­gesehen sie auch immer sein mögen; weil Wahrhaftigkeit eine Pflicht ist, die als die Basis aller auf Vertrag zu gründenden Pflichten angesehn werden muss, deren Gesetz, wenn man ihr auch nur die geringste Ausnahme einräumt, schwankend und unnütz gemacht wird.

Es ist also ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch keine Konvenienzen einzuschränkendes Vernunft­gebot; in allen Erklärungen wahrhaft (ehrlich) zu sein.

Aus: Immanuel Kant, «Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen».

Allein schon die Möglichkeit, dass gelogen werden könnte, so Kants Argument, gefährdet eine Kommunikations­gemeinschaft. Damit man weiterhin miteinander reden kann, muss der Verfolgte ausgeliefert werden. Dass eine Gemeinschaft, in der Unschuldige aus blosser Prinzipien­reiterei denunziert werden, weit mehr gefährdet ist, kommt Kant offenbar nicht in den Sinn. Vielleicht, weil er die DDR noch nicht kannte.

Weshalb liess sich Kant zu einer solch hirnrissigen und lebens­fremden Behauptung hinreissen, fragt man sich seither. Die einen sehen darin den klaren Beweis dafür, dass die kantische Ethik nicht nur lebens­fremd, sondern auch bösartig ist. Die anderen versuchen mit allerlei Hirn­akrobatik, Kant und seinen kategorischen Imperativ doch noch zu retten. Die Dritten verstehen den Artikel als Ausrutscher eines störrischen und verbitterten alten Mannes, der von verlogenen Spielchen ganz einfach die Nase gestrichen voll hatte.

Zur letzten Gruppe gehörte auch ich. Bis zum 16. Januar 2020.

An diesem Tag war in der Zeitung zu lesen, dass unsere Justiz­ministerin Karin Keller-Sutter (FDP) dem Bundesrat den Vorschlag unterbreitet hatte, Kindern von Sozialhilfe­empfängern die Einbürgerung zu verweigern. Ich wiederhole: Kinder von ausländischen Sozialhilfe­empfängern könnten nicht Schweizer Bürger werden. Am nächsten Tag erfuhr man, dass der Vorschlag von Bundes­rätin Viola Amherd (CVP) abgeschossen wurde.

Der Vorschlag stammt notabene nicht von der Grööli-Partei vom Albisgüetli, sondern von jener Partei, die 1848 mit einer liberalen Verfassung die heutige Schweiz gegründet hat. Und er wurde von der Nachfolge­partei der Katholisch-Konservativen abgeschossen, jener Partei, die sich damals mit allen, sogar mit kriegerischen Mitteln gegen eine liberale Schweiz gewehrt hatte.

Mit einem Mal verstand ich Kant. Ihm ging es um etwas ganz anderes.

Daran, dass Staaten und ihre Organe fortwährend Recht brechen, haben wir uns längst gewöhnt. Noch vorletzte Woche kam ans Licht, dass unser Nachrichten­dienst illegal an der Sammlung von Daten beteiligt ist, und niemand scheint sich daran sonderlich zu stören. Doch was sich Keller-Sutter leistete, war von anderer Qualität: Ihr demokratisch erlassenes Gesetz hätte bei Inkraft­treten die Grund­festen unserer Rechts­ordnung angegriffen. Sippen­haftung läuft allem zuwider, was unser Rechts­staat eigentlich verteidigen sollte.

Bis 9/11 galt die Auffassung, dass nur formale Kriterien über die Legitimität eines Gesetzes entscheiden. Gesetze, die formal korrekt erlassen wurden, sind legitim. Punkt. Ethischen oder ideologischen Über­legungen darf kein Platz eingeräumt werden. Ob ein Gesetz gerecht, sinnvoll oder zielführend ist, darf keine Rolle spielen, nur, ob es formal korrekt ist. Zur Veranschaulichung: Sie können die schweizerischen Asylgesetze in Strassburg nur anfechten, wenn Sie darlegen können, dass sie übergeordnetem Recht wider­sprechen; aber nicht, wenn Sie sie für ungerecht erachten. Und das ist gut so.

Diese vom österreichisch-amerikanischen Juristen Hans Kelsen (1881–1973) begründete und Rechts­positivismus genannte Auffassung war als liberales und demokratisches Bollwerk gegen die von Carl Schmitt (1888–1985) formulierte faschistische Rechts­lehre gedacht, wonach das Recht ein Macht­instrument ist. Berühmt wurde Schmitts Ausspruch «Souverän ist, wer über den Ausnahme­zustand entscheidet», der besagt, dass ein Gesetz Recht aufheben darf, wenn es der Macht dient.

Nach der positivistischen Ansicht kann ein Gesetz gar nicht Recht brechen, weil das Recht nichts anderes als die Gesamtheit aller Gesetze ist. Nach der schmittschen Auffassung ist das Recht aber der Ausdruck der Macht und ihrer Ideologie. Entsprechend kann und darf ein Gesetz Recht brechen. Die Folgen von Schmitts Rechts­auffassung wurden am 24. März 1933 deutlich, als das Ermächtigungs­gesetz die Demokratie abschaffte, und dann wieder, als im September 1935 die Nürnberger Rassen­gesetze den Antisemitismus zur Staats­doktrin erklärten.

Nach 9/11 haben sich diese beiden Doktrinen in unseliger Weise vermischt. Oder besser gesagt: Die faschistische Rechts­auffassung hat sich ein demokratisches Mäntelchen angezogen. Der war on terror, den George W. Bush damals ausrief, stellt bestimmte Interessen – Kant nennt sie Konvenienzen – über geltendes Recht, allerdings demokratisch dadurch legitimiert, dass Ausnahmen von einer gewählten Instanz beschlossen werden müssen.

Über dem Recht steht seither namentlich das Bedürfnis nach Sicherheit oder, wie es der italienische Philosoph Giorgio Agamben nennt, das nackte Leben. Der Schutz des Lebens erlaubt nicht nur, wie in Kants Beispiel, zu lügen, sondern seit 2001 auch Telefon­überwachung, flächen­deckende Gesichts­erkennung, ethnic profiling – bestimmte Bevölkerungs­gruppen unter besondere Beobachtung zu stellen –, intensive Befragungs­methoden wie Water­boarding oder die Einschränkung der Pressefreiheit.

Es dauerte auch nicht lange, bis nicht nur das nackte Leben, sondern auch bestimmte Lebens­weisen geschützt werden durften, auch wenn dadurch eigentlich die Grund­lagen der Rechts­ordnung ausser Kraft gesetzt worden sind. Die einzige Bedingung ist, dass das entsprechende Gesetz von einer demokratisch gewählten Instanz erlassen wird. Mit der Begründung, eine Lebens­weise zu schützen, wurde in Polen die Gewalten­teilung, in Ungarn die Presse­freiheit, in Russland die Menschen­rechte ganz allgemein abgeschafft … und in der Schweiz beinahe die Sippen­haftung wieder eingeführt.

Nein, nein, höre ich die liberale Leserin, den liberalen Leser einwenden, so haben wir das nicht gemeint, solche Einschränkungen würden wir niemals dulden. Es ist lächerlich, uns dies zu unterstellen, nur weil wir Kants Rigorismus empörend finden.

Ist dem tatsächlich so? Im Moment wird die Revision des Sexual­strafrechts diskutiert, die den Tatbestand der fahrlässigen Vergewaltigung einführen will mit dem Argument, die Sicherheit und das Leben von Frauen zu schützen. Das ist ein lobens­wertes Ziel, wer wollte da nicht einstimmen. Doch wird mit diesem Gesetz die Beweislast umgekehrt und die Unschulds­vermutung ausser Kraft gesetzt. Faktisch ist es das Ende der liberalen Rechts­ordnung. Wieder im Namen des Schutzes des Lebens.

Vielleicht lohnt es sich also doch, Kants Artikel fertigzulesen. Dann stösst man nämlich auf folgenden Satz:

Das Recht muss nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Recht angepasst werden.

Aus: Immanuel Kant, «Über ein vermeintes Recht aus Menschen­liebe zu lügen».

Darum ging es Kant eigentlich.

Illustration: Alex Solman

Wenn Sie weiterhin unabhängigen Journalismus wie diesen lesen wollen, handeln Sie jetzt: Kommen Sie an Bord!