Als Ergebnis schlafloser Nächte entstanden: Lee Krasners «Polar Stampede», 1960. © The Pollock-Krasner Foundation

Die bessere Hälfte

Mit einem halben Jahrhundert Verspätung wird die amerikanische Kunst­geschichte neu erzählt. Endlich ganz. Die Malerin Lee Krasner tritt aus dem Schatten ihres Mannes Jackson Pollock. Eine beeindruckende Retrospektive in Bern.

Von Jörg Heiser, 27.02.2020

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Es war im November 2001 kurz nach den Angriffen des 11. Septembers, als ich «Pollock» mit Ed Harris in der Hauptrolle sah. Da war es noch einmal auf der Leinwand, jenes coole, künstlerische, selbst­bewusste Nachkriegs­amerika, das nun mit 9/11 endgültig an ein Ende gekommen war.

Jackson Pollock, der berühmte Erfinder des getropften Action-Paintings, on top of the world, im New York der 1940er- und 1950er-Jahre. Er verkörpert den amerikanischen Nachkriegs­traum, drahtig und spontan, abstrakt und körperlich. Jeans und T-Shirt, Kippe im Mund­winkel. Marlon Brando als Maler, 1949 landesweit berühmt gemacht durch eine Fotostrecke im «Life»-Magazin. Männlich und weiss, mit schütterem Haar und oft besoffen, aber irgendwie – Achtung, Klischee! – mit femininer Empfindsamkeit ausgestattet und mit dem afro­amerikanischen Jazz-Gefühl. Und unglücklich. Er erscheint im Film – Harris führte auch Regie – als der hilflos getriebene, depressive Schwerst­alkoholiker, der er im wirklichen Leben wohl war.

Das ist nun zwanzig Jahre her; ich habe mich absurder­weise vor allem an eine Szene lebhaft erinnern können. Vielleicht also die Schlüssel­szene: Pollock fährt Fahrrad auf Long Island, schon wieder betrunken und schlingernd, einen hölzernen Bierkasten auf dem Lenker balancierend. Wie blöd muss man sein! Ja, noch blöder: Er versucht, mit Kippe im Mundwinkel, eine der Bier­flaschen am Kastenrand aufzuschlagen, schafft es, trinkt – und fällt vornüber über den Lenker, die zerbrochenen Flaschen auf der Strasse, Pollock darüber drapiert. Jack the Dripper. Den Oscar als Regisseur oder Darsteller erhielt allerdings nicht Ed Harris, obwohl er sich so Mühe gegeben hatte: den ersten Teil des Films ganz drahtig, im letzten Drittel dann mit Kugelbauch, aufgedunsen, einen halben Zentner schwerer. Den Oscar erhielt Marcia Gay Harden, die Pollocks Frau Lee Krasner spielte.

«Wer bitte schön ist LK?!»: Lee Krasner, um 1938. Unbekannt

Zwei Jahrzehnte später habe ich den Film jetzt noch einmal gesehen. Und nun ist die Schlüssel­szene eindeutig eine andere. Weil Pollock mal wieder nicht rechtzeitig von einer Sauftour zurückgekehrt ist, versetzen er und Krasner Peggy Guggenheim, die zum Atelier­besuch gekommen ist. Die schwerreiche Sammlerin, wutschnaubend und tief gekränkt, will gerade wieder gehen, als die beiden endlich doch noch eintreffen. Lee gelingt es mit Engels­zungen, sie zum Bleiben zu überreden. Also noch einmal die fünf Stockwerke hoch in die kleine Wohnung. Peggy, genervt und ausser Atem, stapft zuerst ins Atelier­zimmer von Lee: «Wer bitte schön ist LK?! Ich will keine Bilder von LK sehen!! Wo sind Pollocks Bilder?!» Sie wird in Pollocks Raum geführt, und da, natürlich: «Genial!»

Es ist seltsam und perfid: Der Film zeigt ganz richtig, wie LK alias Lee Krasner ihren Mann Jackson Pollock im November 1941 regelrecht entdeckte, seine künstlerische Einzig­artigkeit erkannte. Wie sie ihn förderte und unterstützte, ihn bekannt machte mit einfluss­reichen Kritikern wie Clement Greenberg und experimentier­freudigen Malern wie Willem de Kooning. Und dabei doch stets ihre eigene malerische Arbeit weiter­verfolgte. Aber Letzteres erzählt der Film nur halbherzig, eigentlich fast gar nicht: Er zeigt zwar die Arroganz und die Vorurteile von Peggy Guggenheim, verlängert diese aber gewisser­massen, indem er selber Krasners Schaffens­prozess als komplette Neben­sache behandelt. Der Film endet mit dem Auto­unfall, bei dem der betrunkene Pollock und eine unbeteiligte Dritte sterben (seine Geliebte, die Malerin Ruth Kligman, überlebt). Zu diesem Zeitpunkt ist Lee in Europa. Wie fühlt sie, als sie per Telefon von Pollocks Tod erfährt? Was ist mit ihr danach passiert? All das interessiert den Film nicht mehr.

Aber es interessiert uns heute. Es hat zunehmend die Kunst­geschichts­schreibung interessiert. Und die Museen. Endlich begreifen wir, mit mehr als einem halben Jahrhundert Verspätung und nachdem es uns feministische Pionierinnen der Kunst­geschichts­schreibung schon lang genug gesagt haben, dass wir immer nur die halbe Geschichte kannten, das heisst erzählt bekommen haben. Dass Krasner schon zu Lebzeiten Pollocks ein grosses, eigen­ständiges Werk produziert hatte. Dass sie nach seinem Tod erst recht noch einmal ihr Schaffen auf eine andere Ebene hob. Diese bislang oft missachtete, wenn nicht bessere, so doch ebenso interessante Hälfte der Geschichte ist nun endlich gross und prächtig in Bern zu sehen, in einem der Hangar-grossen Bögen des Paul-Klee-Zentrums: das malerische Werk Lee Krasners in voller, verstörender, verzückender Entfaltung.

Unverschämt deutlich

Sie wird 1908 als Lena Krassner in Brooklyn geboren. Ihre Eltern sind jüdische Einwanderer, die wenige Jahre vorher aus einem Schtetl im zaristischen Russland geflohen sind, wo zu jener Zeit antisemitische Pogrome und Massaker um sich griffen. Vater und Mutter betreiben einen kleinen Markt­stand mit Fisch, Gemüse und Obst. Sie arbeiten hart, verdienen wenig. Die Tochter wächst auf und lernt hebräische Schrift­zeichen, ohne sie zu verstehen. Ein Morgen­gebet, das sie lernt und hasst, endet für Männer auf die Zeile: «… danke Dir, oh Herr, dass Du mich nach Deinem Ebenbild geschaffen hast», und für Frauen: «… danke Dir, oh Herr, dass Du mich geschaffen hast, wie es Dir gefällt.»

1920 ist das Jahr, in dem die Amerikanerinnen das uneingeschränkte Frauen­wahlrecht erringen. Mit dreizehn ist Lena Krassner bereits fest entschlossen, Künstlerin zu werden. Die Eltern unterstützen sie darin nicht aktiv, legen ihr aber auch keine Steine in den Weg. Im New York der 1920er-Jahre gibt es Colleges wie das Cooper Union, wo auch Arbeiter­kinder ohne teure Gebühren studieren können: von Haushalts­lehre bis Kunst. 1927, mit neunzehn also, lässt sie sich als Lee Krasner eintragen; damals war es üblich, dass Einwanderer ihre Namen anglisierten, ihr Spitzname wurde zum Künstler­namen. Ein frühes Selbst­porträt von 1928 – es bildet den Auftakt in Bern – zeigt Lee Krasner, ernst und mit rosigen Wangen, in einem Hain stehend, blaues Arbeiter­hemd und helle Latzhose, Pinsel und Lappen in der Hand. Die Anlehnung an das Selbst­porträt Maler Vincent van Goghs von 1887/88 ist unverschämt deutlich und gewollt.

Strotzend vor Selbstbewusstsein: Selbstbildnis, ca. 1928. © The Pollock-Krasner Foundation

Armut und Selbstbewusstsein bestimmen zu gleichen Teilen das Leben der jungen Künstlerin. Der Börsen­crash von 1929 tut ein Übriges. Nichts ist mehr, wie es war, in der Great Depression. Künstler in New York tauschen Kunst­werke gegen eine warme Mahlzeit oder eine Zahn­behandlung. Krasner schlägt sich als Cocktail­kellnerin durch. Doch der 1932 zum Präsidenten gewählte Franklin Delano Roosevelt legt in den folgenden Jahren den New Deal auf, der den Amerikanern mit Beschäftigungs­programmen in der Not die Hand reicht. So auch den Künstlern: Wie viele andere – auch ihr späterer Mann – erhält Krasner vom Public Works of Art Project, einem staatlichen Künstler­beschäftigungs­programm, das mehr als 3700 Künstler in Lohn und Brot setzte, Aufträge für Kunst an und in öffentlichen Gebäuden. 1942 erhielt Krasner die Aufgabe, im Staats­auftrag zwanzig Schau­fenster von Kaufhäusern in Manhattan und Brooklyn zu gestalten, mit denen für kriegsbedingte Zivilschutz­kurse geworben werden sollte.

In Bern sind die dafür entstandenen Collagen, die heute nur noch als Fotografien dokumentiert sind, als Projektion zu sehen: Sie offenbaren Krasners Fähigkeit, im Stil der russischen Konstruktivisten Fotografie, Konstruktions­zeichnung und Typografie in griffigen Collagen zu verschränken, die beispiels­weise für Kurse über Kryptografie oder die «Chemie von Spreng­stoffen» werben. Etwa zu dieser Zeit besucht Krasner auch selbst Kurse, Grund­lektionen in abstrakter Malerei, die der deutsche Maler Hans Hofmann erteilte. Seine «Push-and-Pull»-Technik der Gestaltung malerischer Flächen sollte eine ganze Generation amerikanischer Künstler mitprägen.

Erhalten sind aus dieser Zeit Aktzeichnungen, in denen Krasner mit kubistischer Verve die Körper umreisst, zerlegt, zuspitzt; Hofmann fiel zu ihren Arbeiten laut Krasner folgender Spruch ein: «Das ist so gut, man würde gar nicht denken, dass es von einer Frau gemalt wurde.» Man hört den Nachhall solchen Denkens manchmal noch bis in die jüngere Gegenwart. Der deutsche Maler Georg Baselitz konstatierte beispiels­weise mehrfach, Frauen könnten «einfach nicht malen», was er – ganz ausgefuchst – am durchschnittlich deutlich niedrigeren Kunst­markt­wert festmacht («Der Markt lügt nicht»).

Ins Dachzimmer verbannt

Aber heute sind in den Museen nicht zuletzt Frauen am Drücker, Leute wie Eleanor Nairne, Kuratorin am Barbican-Kunst­zentrum in London (wo die Ausstellung im vergangenen Sommer zuerst zu sehen war), oder ihre Kolleginnen Ilka Voermann von der Frankfurter Schirn Kunsthalle (dort im vergangenen Herbst) und Fabienne Eggelhöfer vom Zentrum Paul Klee, die massgeblich diese Ausstellung konzipiert und auf den Weg gebracht haben (sie wandert anschliessend noch ins Guggenheim Bilbao). Und so sind mit dem Frühwerk Krasners im Paul-Klee-Zentrum die Koordinaten umrissen, unter denen sich in den folgenden Jahren, nach 1945, eine langsame Revolution vollzieht, die erst heute wirklich begriffen und künstlerisch eingeordnet ist: die Orientierung am unbedingten expressiven Authentizismus eines van Gogh im frühen Selbst­porträt; die Foto-Collagen der Schaufenster-Auftrags­arbeit als Bruch genau mit der Vorstellung eines unversehrt authentischen Bildes; und nicht zuletzt der schwung­volle, beinahe brutal entschlossene Gestus der frei­händigen Linien in den frühen Zeichnungen.

Jackson Pollock und Lee Krasner im August 1953 bei der Scheune, die dem Künstler als Atelier diente. Tony Vaccaro/Hulton Archive/Getty Images

Die Ausstellung ist ein Parcours durch die Phasen, die Krasners Werk, ausgehend von diesen Grund­koordinaten, durchmacht. 1945 heiraten Pollock und Krasner und ziehen aus New York heraus nach East Hampton, an den beschaulichen Ostzipfel von Long Island, wo sie mit einem Darlehen von Peggy Guggenheim ein bescheidenes Anwesen gekauft haben. Hier, so der Plan, sollte Pollock weniger oft in Versuchung kommen zu saufen und sich dafür endlich als Künstler voll entfalten. Er nimmt die grosse Scheune als Atelier, sie begnügt sich mit dem kleinen Dachzimmer des Hauses. Während Pollock ab 1947 seine berühmte Tropf­technik entwickelt, um und über die am Boden liegende Leinwand tänzelnd, arbeitet Krasner zeitgleich an ihren «Little Images».

Die Serie zeugt von grosser Intensität, einem Aufblühen von Krasners Werk. Sie arbeitet ebenfalls mit Tropf­technik, die sich wie eine intensive Kalligrafie – das rein optische Schreiben hebräischer Schrift­zeichen aus der Kindheit Krasners kommt in den Sinn – auf den kleinen Formaten manifestiert, eine Form von All-over-Painting also, die die gesamte Leinwand mit einer Struktur bedeckt, ohne zentrale Form. Die Bilder zeugen aber auch davon, wie vermeintlich rein ästhetische Entscheidungen sich im Nach­hinein als Ausdruck einer Ökonomie – einer Geschlechter­ökonomie – entpuppen. Für grössere Formate – im Stil des All-over-Paintings ihres Mannes – hätte Krasner damals schlicht nicht den Atelier­raum gehabt.

«Abstract No. 2», 1946–1948. © The Pollock-Krasner Foundation

Im Oktober 1951 – Pollock ist zu dieser Zeit längst berühmt – hat Krasner, nach vielen Gruppen­ausstellungen, ihre erste Solo-Schau in der New Yorker Galerie Betty Parsons. Mit 43 Jahren. Und: Es wird ein schmerz­hafter Misserfolg. Die Zeitungs­kritiken sind wohl­wollend, aber kein einziges Bild wird verkauft. Mit dämlich unverdienter Genug­tuung würde ein deutscher Maler sagen: Der Markt lügt nicht. Dabei ist es ein offenes Geheimnis vieler Galerie­ausstellungen, dass nicht alles, was gut ist, auf Anhieb Käufer findet. Im Gegenteil. Bei Andy Warhol hat man beispiels­weise später Legenden daraus gestrickt, wie unverkauft gebliebene Suppen­dosen-Bilder schamhaft vom Galeristen selbst gekauft wurden – und dieser damit später ein Vermögen machte. Und die Bilder in Pollocks Ausstellung einen Monat später, ebenfalls bei Parsons, verkauften sich ebenfalls nicht wie geschnitten Brot – und das trotz der Tatsache, dass Clement Greenberg ihn zum «besten Maler einer ganzen Generation» erklärt hatte, während er sich zu Lee – mit der er doch die anregenderen Gespräche über Kunst führte – ausschwieg.

1952 wechselt Pollock, unzufrieden mit den Verkäufen bei Parsons, zur Galerie Sidney Janis, was dazu führt, dass Parsons auch mit Krasner nicht weiter arbeiten will. Pollock will ein Kind von Krasner; sein Alkoholismus wird nicht besser; er flirtet offensiv vor Lees Augen mit anderen Frauen, betrügt sie. Ihre Arbeiten zeigen die Konsequenzen: Nach Monaten, in denen sie nichts zustande bringt, zerlegt und zerschneidet sie die meisten der bei Parsons gezeigten Bilder. Und macht sie zum Ausgangs­material neuer, gross­formatiger Bilder in Collagetechnik.

Den Zufall unter Kontrolle: «Bald Eagle», 1955. © The Pollock-Krasner Foundation

Diese Phase, die bis Mitte der 1950er-Jahre andauert, nimmt einen zentralen Raum ein in Bern. Die Bilder sind zum Bersten voll mit wider­streitenden Kräften: Das Ausgerissene und Ausgeschnittene vermengt und verschränkt sich zunehmend mit dem Gemalten. «Bald Eagle» (1955) ist ein Bild, in dem man, wenn man unbedingt will, den titel­gebenden Weisskopf­adler – bekanntlich Wappen­tier der USA – in beigen und dunkel­braunen flügel- und schnabel­artigen Ausrissen vor Orange, Rosa, Ocker erkennen mag. Doch viel wichtiger ist, wie souverän Krasner mit dem Zufall operiert, die Ausschnitte und Farben zueinanderfügt, als führte sie einen Pinsel und nicht Schere und Klebstoff.

Endlich Raum für sich

Doch kaum hat man sich ein wenig an diese kraft­vollen Bilder gewöhnt, kommt wieder ein Bruch. Er teilt, im Nach­hinein betrachtet, Krasners Leben in zwei Teile. «Prophecy» von 1956 ist ein fleisch­farbenes Trauma, eine einzige verwundete Bild­fläche von verschlungenen Körper­fragmenten in Pink, Rot, Gelb und Schwarz, sexuell und gewalttätig. Der Tod Pollocks steht kurz bevor, das Bild bleibt auf der Staffelei, während Krasner alleine durch Europa reist. Als sie zurück­kehrt, muss sie ihren Mann begraben, wenig später stirbt ihre Mutter.

Sexuell und gewalttätig: «Prophecy», 1956. © The Pollock-Krasner Foundation

Jetzt passiert etwas, das die Ausstellung buchstäblich in Höhe mal Breite aufzeigen kann. Ab 1957 bezieht Krasner die verwaiste Pollock-Scheune und beginnt, grosse Breitwand­formate zu malen, in langen Nächten – wie viele Trauernde hatte sie mit Schlaf­losigkeit zu kämpfen. Ein erster Höhe­punkt ist «The Eye Is the First Circle» von 1960: In Umbra­tönen ist die Lein­wand wie mit Hieben übersät, die jedoch – als wären sie ein Fisch­schwarm oder eine kaleidoskopische Spiegelung Hunderter Augen – einer hoch beweglichen, tänzerischen Ordnung folgen. Krasner malte diese Bilder tatsächlich mit schnellem, heftigem, körperlichem Gestus, allerdings an der Wand und nicht wie Pollock am Boden.

Ironie der Geschichte: Das Bild wurde wenige Tage vor Eröffnung der ersten Station der Ausstellung in London bei Sotheby’s für 11,6 Millionen Dollar versteigert – unter der Auflage, dass es in dieser Retro­spektive enthalten sein könne. Ein Auktions­rekord für Krasner. 2006 war ein Pollock vom schwer­reichen Musik­magnaten David Geffen für 140 Millionen Dollar verkauft worden – jene Sorte selbst­erfüllende Prophezeiung, die noch einen Baselitz umtreibt. Das war damals nicht abzusehen; Clement Greenberg sagte gar eine geplante Ausstellung mit Krasner ab, weil er die neue Richtung nicht gutheissen wollte. «Assault on the Solar Plexus» von 1961 scheint schon im Titel diese Schmach zu meinen – ein Angriff, der einem die Luft nimmt.

Dennoch, Krasners Bilder sind nun in jener Liga angekommen, in der grosse Museen und Sammler eigentlich keine Zweifel am Stellen­wert mehr haben. Und das vielleicht auch, weil die Bilder von einer wütenden, trauernden Energie getragen sind, die nicht zuletzt angetrieben scheint vom Aufbegehren gegen das Schicksal, die Missachtung. Und die Ökonomie. Denn, so fragt man sich natürlich, was wäre gewesen, hätte Krasner 1945 die Scheune bezogen und nicht Pollock? Wie krass ist eigentlich, dass sie grosse Bilder erst machen kann, als sie schlicht den Platz dafür hat, nach dem Tod des Mannes?

So hätte es ewig weitergehen können: «Siren», 1966. © The Pollock-Krasner Foundation

So oder so blüht Krasners Kunst in den 1960er-Jahren in ungeahnter Weise auf, ihre Gross­bilder werden zugleich heftiger («Another Storm» von 1963 ist eine einzige monumentale, schäumende Gischt von Weiss und Rot) und kontrollierter, auf eine seltsam geometrisch-dynamische Art: «Siren» von 1966 umreisst in Grün auf dem ungrundierten Beige der Leinwand (ein Beige, das sie dazu mit Farbe wiederholt und so die Schichten gekonnt verunklärt) ein so erotisches wie unfigürliches Programm von Formen und Schwüngen. So hätte es ewig weitergehen können, tat es aber nicht. Krasner, das macht die Berner Ausstellung auf schöne und unverblümte Weise deutlich, ist im Grunde eine historische Vorläuferin von Malern wie beispiels­weise Albert Oehlen, die sich spätestens alle fünf, sechs Jahre mit sich selbst zu langweilen beginnen und ihr eigenes Werk einer radikalen Selbst­befragung unterwerfen. Und dann etwas ganz anderes machen, ausprobieren, experimentieren. In den 1970er-Jahren macht Krasner grosse Formate, die auf den ersten Blick wirken wie Collagen, wie ausgeschnitten aus grossen Farbflächen, aber gemalt sind in cooler, poppiger, geometrischer Abstraktion.

Poppige Abstraktion: «Palingenesis», 1971. © The Pollock-Krasner Foundation

Im Frühjahr 1984 geht es Krasner nicht gut genug, um an der Eröffnung ihrer eigenen Retrospektive in San Francisco teilzunehmen. Sie stirbt am 19. Juni. Am 19. Dezember ist die Schau im Museum of Modern Art in New York zu sehen. Erst die derzeitige Retrospektive führt das Werk in dieser Tiefe und Fülle nach Europa. Und das ohne Leihgaben aus dem MoMA. Denn dort wurde im vergangenen Sommer die Sammlung auf deutlich erweiterter Fläche neu gehängt und den Frauen der New Yorker Avantgarde des Abstrakten Expressionismus – als da wären Joan Mitchell oder Helen Frankenthaler, um nur zwei besonders Herausragende zu nennen – endlich mehr und gebührender Platz eingeräumt. Und dabei durfte Krasner nicht fehlen.

Die Wirkung ist paradox. Denn einerseits wird nun, fünf Jahr­zehnte nach dem Erscheinen des bahn­brechenden Essays der Kunst­historikerin Linda Nochlin mit dem bitter ironisch sprechenden Titel «Why Have There Been No Great Women Artists?», endlich die Antwort gegeben, ganz offiziell: Es «gab» keine «grossen» Künstlerinnen, weil wir sie nicht wahrhaben und anerkennen wollten. Und andererseits bleiben ja all die anderen Werke der Männer nicht verbannt, im Gegenteil. Wie der amerikanische Kunst­kritiker Hal Foster über die Neuhängung des MoMA jüngst schrieb, würde den Bildern von Pollock über Willem de Kooning bis Mark Rothko und Barnett Newman erst durch die nun gezeigte Nähe zu Werken von Joan Mitchell und Lee Krasner neues Leben eingehaucht. Es ist also eine Bereicherung, keine Beschneidung, wie manche defensiv denkenden Zeit­genossen argwöhnen, wenn es um die Neubefragung der musealen Gewohn­heiten geht unter dem Aspekt, dass man offenbar allzu lange die Werke all derer, die nicht weiss und männlich sind, ignoriert und entweder erst gar nicht gekauft oder unter Wert weggeschlossen hat.

Dieser frische Wind eines rekonstruierten Gedächtnisses im Umgang mit den Pionierinnen zeigt sich übrigens aktuell auch in der Schweiz: Zeitgleich mit Krasner ist beispiels­weise im assoziierten Kunst­museum Bern die Solo-Schau der japanischen (und in Bern lebenden) Malerin Teruko Yokoi zu sehen, die, ähnlich wie Krasner Teil der New Yorker Szene, mit dem Maler Sam Francis verheiratet war – und über die Jahrzehnte ein solides, respektables Werk zwischen japanischer Tradition und amerikanischer Abstraktion entwickelte. Im Muzeum Susch wiederum ist die Schau «After Carolee Schneemann» zu sehen, in der der Pionierin der modernen Body-Art mitsamt ihren malerischen Wurzeln und ihren zeit­genössischen Nach­folgerinnen und Nachfolgern die gebührende Ehre erwiesen wird.

Lee Krasner, 1972. Irving Penn/© The Irving Penn Foundation

Krasner war eine Frau, die geradeheraus sagte, was sie dachte, keine Angst vor wort­gewaltigen Macho­kritikern oder schweig­samen Malern hatte. Entsprechend darf man es ihr abnehmen, wenn sie in einem Interview aus den 1970er-Jahren sagt (es ist als Video in Bern zu sehen), dass Pollock «stolz wie ein Pfau» gewesen sei, als Krasner mit ihren Collage-Bildern 1955 eine erfolgreiche und viel beachtete Galerie-Ausstellung in New York absolvierte. Er war also immerhin nicht von der Sorte Hoden-Künstler, die sich kastriert fühlen von einer starken Künstlerin. Aber wie viel weiter sind wir heute, 2020?

Es ist ein mühsames Geschäft mit dem amerikanischen Traum. Denn er war immer einer, der allen nicht weissen, nicht christlichen, nicht männlichen Zeit­genossen zum Albtraum werden konnte, die sein Versprechen von Freiheit und Chancen­gleichheit beim Wort nahmen. Krasner ist trotz all dem ein Hoffnungs­schimmer, denn sie steht dafür, dass künstlerische Unbeirrbar­keit und Resilienz irgend­wann einmal belohnt wird. Und sei es posthum. Von nun an sollten wir nicht so lange warten.

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Zum Autor

Jörg Heiser ist Direktor des Instituts für Kunst im Kontext der Universität der Künste in Berlin. Er war knapp zwanzig Jahre Redaktor der britischen Kunstzeitschrift «Frieze».

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