Kiyaks Exil

Alle glücklich? Alles drauf?

Zum rassistischen Anschlag in Hanau liefert der deutsche Polit- und Medien­betrieb routiniert die neuste Ausgabe von «Entsetzen äussern und Massnahmen ankündigen». Die Sendekritik.

Von Mely Kiyak, 25.02.2020

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Es war irgendwann im Laufe des Vormittags, am Donnerstag, als bereits klar war, dass die neun Opfer, die am Abend zuvor in Hanau erschossen worden waren, das Werk eines Rassisten sind, der sein Volk und Land von «Ausländern» säubern wollte. Da stand Robert Habeck, Vorsitzender der Partei «Die Grünen», vor den Kameras und sprach den für diese Situationen üblichen Text, «Heute ist ein Tag der Trauer und des Zorns», etwas in dieser Art, «Gedanken, Mitgefühl, Angehörige». Man kennt diese Sätze, er kennt diese Sätze, alle kennen sie. Da verpasste es Phoenix, der Parlaments­kanal des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, die Übertragung zu unterbrechen, und sendete noch drei oder vier Sekunden weiter. Habeck beendete sein Statement, fiel zurück in seine normale Körper­haltung, verwandelte sich gewisser­massen vom Partei­chef Habeck zum Menschen Habeck und fragte gelangweilt routiniert in die Runde der Presse­vertreter, in deren Mikrofone er gerade gesprochen hatte: Alle glücklich? Alles drauf? Es waren genau die drei oder vier Sekunden, die alles zur Schau stellten; diese nur noch zum Ritual verkommene öffentliche Beileids­bekundung, die parlamentarische Pietät eines Trauer­protokolls, das sich niemals auch nur einen Hauch von der Beileids­bekundung beim Terrorakt zuvor unterscheidet, das perfekte Ineinander­greifen einer öffentlichen Übung namens «Entsetzen äussern und Massnahmen ankündigen».

Es war nicht nur Habeck, der an diesem Tag den Theater­text «Trauer» sprach, das gesamte Spitzen­personal, alle prominenten politischen Stimmen äusserten sich im Chor des immer gleichen weichgespülten rhetorischen Requiem­repertoires, gefällig und mehrheits­fähig. Sogar ein AfD-Abgeordneter, keine Ahnung, wie er heisst, war allen Ernstes schockiert und aufgewühlt, denn der Cousin seines Schwagers hat eine Katze, die lief an der Shisha-Bar, also einem der Tatorte vorbei, oder so ähnlich, mit anderen Worten, er kannte da welche, die welche dort kannten, und deshalb: Fassungslosigkeit.

Andere, wie Bundes­ministerin Julia Klöckner oder der hessische Minister­präsident Volker Bouffier, in dessen Bundes­land das Attentat geschah, versuchten die dramatische Dimension des Ereignisses zu betonen, indem sie daran erinnerten, dass das blutige Massaker «ausgerechnet an Weiber­fastnacht» stattfand. AUSGERECHNET AN WEIBERFASTNACHT!!

In Gedanken stellt man sich vor, wie man der Welt die kulturelle Praktik dieses Tages erklärt, auf die es nun gezwungener­massen zu verzichten gelte (rote Plastik­nase, Wuschel­perücke, astronomischer Bierpegel, nicht selten mit Begleit­erscheinungen wie gigantischen Kotz- und Piss­lachen auf öffentlichen Plätzen). Jedenfalls fiel der Hinweis auf Weiber­fasnacht noch öfter, sodass man langsam begriff, dass es ein Anschlag mit doppelter Wirkung und zwei Opfer­gruppen war. Neun Tote wegen Rassismus und keine Luftschlangen.

An diesem Donnerstag direkt nach der Tat, als der Täter bereits bekannt war, nicht aber die richtige Zuordnung der Opfer (Ausländer, Kurden, Türken, Fremde, Shishas – im Magazin «Focus» war nämlich die Rede von «Shisha-Morden»), an diesem Tag der permanenten quälenden Vermutung, dass unter den Opfern «unter Umständen sogar ausländische Staats­bürger» sind (dabei ist die Sache sehr einfach, die Toten waren ausnahmslos alle Hanauer Bürger), an diesem Tag also beschloss das hessische Parlament, seine Sitzung ausfallen zu lassen. Denn für diesen Tag, so die lange zuvor festgelegte Tages­ordnung, waren «harte Auseinander­setzungen» geplant gewesen, wie die Parlaments­korrespondentin auf Phoenix erklärte. Es sollte nämlich auch um Fragen der «Abgrenzungen nach rechts gehen» und das wäre vielleicht alles «etwas hart» und unpassend, so bemerkte die Sprecherin, und man begriff, dass die Abgrenzung nach rechts angesichts eines Attentats von stramm­rechts an einem solchen Tag doch nur dann als unangemessen gelten kann, wenn sie, wie an anderen Tagen und in anderen Jahren auch, von bestimmten Parteien nicht formulierbar und also nicht vorhanden ist.

Da war man als Zuschauerin doch etwas betrübt. Weil man natürlich etwas naiv davon ausging, dass, wenn ein deutscher Rechts­extremist Bürger aufgrund ihrer Haar- und Haut­farben tötet, die Frage nach Abgrenzungen gegen rechts eigentlich ziemlich einfach und dringend zu beantworten ist. Wenn nicht an diesem Tag, wann dann?

Am Abend schliesslich, in der politischen Talkshow des ZDF, sass ausnahms­weise mal nicht das übliche Personal, woraufhin sich Parlaments­präsidentin Claudia Roth freudig dafür bedankte, «dankenswerter­weise mal nicht im Schützen­graben zu sein». Normalerweise sind stets die ganzen Rechtsaussen-Show­elemente aus dem bürgerlich-extremistischen Lager dabei, wenn über Türken, Muslime, Araber, Islam, Flüchtlinge, Integration, Shisha-Bars diskutiert wird. Und wieder schaute man, dachte man vor sich hin und lernte: Merke, der Moslem muss erst tot sein, damit auf Thilo Sarrazin, Hans-Georg Maassen, Wolfram Weimer, Wolfgang Bosbach, Philipp Amthor, Rainer Wendt und dieses ganze Personal verzichtet wird, dessen Kompetenz darin besteht, erstens gegen den Moslem und zweitens gegen Merkel zu sein.

Und das versteht man doch irgendwie gar nicht. Niemals gibt es im deutschen Fernsehen eine Diskussion über «Araber und Migranten», ohne dass nicht einer von denen dabei ist und von Koran­exegese bis Altarabistik das ganze Feld beherrscht – und da verzichtet man ausgerechnet an einem solchen Tag auf deren Expertisen? Schreiben sie nicht seit Jahren Kolumnen und Gast­beiträge für Springers «Die Welt», treten in deren Fernseh­kanal auf und wissen immer zu berichten, dass sich in Shisha-Bars kriminelle Muslime aufhalten? Wir wissen so wenig über die Opfer. Warum lässt man jetzt nicht Rainer Wendt sprechen, vielleicht weiss der was! Waren das Kriminelle? Haben die das vielleicht verdient?

Wie irritierend! Da haben sie sich in den Medien seit Jahren einen Experten­pool aufgebaut, dessen Mitglieder über alle Aspekte eines Ausländer­lebens Bescheid wissen, und dann will man an so einem Abend deren Expertisen nicht zur Kenntnis nehmen?

Denn andere Frage: Worin besteht der qualitative Unterschied zwischen dem Denken des Attentäters, der Muslime als minder­wertige Rasse erachtete und sich vor einer Umvolkung, also der Abschaffung Deutschlands, fürchtete, und einem Thilo Sarrazin, der in seinem durch «Spiegel» und «Bild»-Zeitung mit Vorabdrucken gewürdigten Standard­werk findet, dass sich Deutschland abschaffe, also umvolke, indem es tatenlos zusehe, wie minder­wertige Muslime ihre minder­wertige DNA vermehren? Wo ist der Unterschied?, frage ich. Wo? Hätte Sarrazin an diesem Abend nicht die Position des Attentäters etwas heraus­arbeiten und erklären können? Ja, sogar müssen? Warum sollte an diesem Tag keinen Bestand haben, was sonst Gültigkeit hat? Müsste nicht gerade jetzt zwingend einer von den Neofaschisten, Rassisten und anderen Bescheid­wissern mitdiskutieren? Ansonsten gern diskutierte und gesendete Aspekte sind nun fehl am Platz, weil die, über die man seit Jahrzehnten «Islam­kritik» betreibt, jetzt tot sind?

«Wohltemperierte Grausamkeit», paraphrasiert Björn Höcke in seinem Buch, es bedürfe im Umgang mit muslimischen Minderheiten einer «wohl­temperierten Grausamkeit». Warum dürfen er und seine Kollegen an diesem Tag nicht bei Maybrit Illner über temperierte Grausamkeit diskutieren?

Die Sicherheits­behörden sprechen von 30’000 Rechts­extremisten, die Hälfte gewalt­bereit, viele in organisierten, bewaffneten Strukturen. Sie sind überall. In der Armee, in der Polizei, im Verfassungs­schutz, in den Sicherheits­behörden. Gerade letzte Woche wurde die «Gruppe S» verhaftet. Ein ehemaliger Polizist – oder wie die «Bild»-Zeitung ihn nannte: «der Terror­nazi mit dem Sepplhut», als handle es sich um einen Neonazi-Comic –, der ehemalige Polizist also plante mit anderen zusammen Anschläge auf Moscheen mit Betenden darin. Davor wurde ein anderer Polizist verhaftet. Und davor ein anderer. Und davor ein anderer. Und so ist das immer. Man verliert sogar als politischer Beobachter langsam den Überblick.

Aber das Theater, das muss man bewundernd anerkennen, funktioniert. Sparsamer Trauer­modus. Sie haben es einfach drauf, die Medien und die Parteien, das muss man ihnen lassen. Innerhalb von Minuten schalten sie auf den Drama-Modus. Das funktioniert alles vorzüglich. Und mehr gibt es im Moment nicht zu sagen.

Selam.
Ihre Kiyak

Illustration: Alex Solman

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