Die alles entscheidende Farce

Der Iran steht im Abseits, politisch, sozial, wirtschaftlich. Die Parlamentswahlen sind eine willkommene Gelegenheit für das Establishment, Normalität zu simulieren. Aber nicht nur.

Eine Analyse von Solmaz Khorsand, 20.02.2020

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Genehmigt vom Wächterrat: Kandidaten werben in Teheran für die Wahl ins iranische Parlament. Fatemeh Bahrami/Anadolu Agency/Getty Images

Im Wahlkampf ist jedes Mittel recht. Da zeigen auch schon einmal unantastbare Autoritäten ihre menschliche Seite, um Wähler zu mobilisieren. Im Iran versucht es Ali Khamenei, der Oberste Religionsführer, mit koketter Selbstreflexion: «Auch wenn ihr mich nicht leiden könnt, den Iran liebt ihr doch? Wenn ihr das tut, dann geht wählen!»

Wenn morgen Freitag, am 21. Februar, das iranische Parlament neu gewählt wird, geht es um nichts weniger als die Zukunft der Islamischen Republik. Für das Establishment ist die Wahl entscheidend: Der Urnen­gang soll beweisen, dass noch genug Menschen an das System glauben, egal, wie oft auf der Strasse das Gegenteil skandiert wird. Die Welt soll sehen, dass im Iran alles nach Plan läuft. Trotz allem.

Das Land steht im Abseits, politisch, sozial und wirtschaftlich. Knapp zwei Monate ist es her, dass nach dem US-Drohnen­angriff auf den General­kommandanten Qassim Soleimani und Irans unblutigem Vergeltungs­schlag auf amerikanische Truppen im Irak die Eskalation mit den USA ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Knapp einen Monat, dass wieder Tränengas gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt wurde, als herauskam, dass die Behörden den tödlichen Abschuss eines ukrainischen Passagier­flugzeugs mit 176 Insassen vertuschen wollten und sich daran die Wut der Strasse entzündete. Und wenig später aktivierten die Europäer den Schlichtungs­mechanismus im Atom­abkommen, was für den Iran in letzter Konsequenz die Wieder­einführung von Uno-Sanktionen zur Folge haben könnte.

Gesund, mit Master – und vor allem loyal

Ein düsterer Status quo. Die Parlaments­wahlen sind da eine willkommene Abwechslung, ein Hauch von Normalität. Auch wir können Demokratie, lautet die Botschaft. Auch unsere Leute können sich für ihre Volks­vertreter entscheiden. Auch sie haben die Wahl.

Irrtum.

Die 55 Millionen Wahl­berechtigten haben nicht die Wahl. Dafür sorgt der Wächterrat, so wie bei jedem Urnengang im Iran. Schon im Vorfeld siebte das Gremium – bestehend aus sechs Geistlichen und sechs Juristen, die wie alle entscheidenden Institutionen des Staates in letzter Instanz von Revolutions­führer Khamenei bestimmt werden – alle moderaten Kandidaten aus. Auf den ersten Blick erscheinen die Auswahlkriterien transparent: Gesund soll man sein, zwischen 30 und 75 Jahre alt, einen Master­abschluss vorweisen, ebenso ein tadelloses Leumunds­zeugnis, und sich vor allem loyal zeigen gegenüber der iranischen Verfassung und dem Konzept des welāyat-e faqih, der «Statthalterschaft des Obersten Rechts­gelehrten», dem religiös-ideologischen Fundament der Islamischen Republik.

Wie diese Loyalität genau zu verstehen ist, bestimmt der Wächterrat. Die zwölf Männer stecken den Interpretations­spielraum genau ab. Und er wird von Wahl zu Wahl enger. So kann es passieren, dass Abgeordnete, die seit vier Jahren im Parlament sitzen, plötzlich nicht mehr antreten dürfen. Dieses Jahr wurden 90 amtierende Parlamentarier disqualifiziert.

Noch nie war der Wächterrat so rigide in seinem Ausschluss­verfahren wie dieses Mal. So sind 230 der 290 zu vergebenden Sitze im Parlament de facto längst beschlossene Sache. So ist für 160 Sitze aus den insgesamt 208 Wahl­bezirken jeweils exakt nur ein Kandidat zugelassen – und zwar von den Konservativen. Für 70 weitere Plätze im Parlament treten zwar mehrere Personen an, die jedoch alle dem Revolutions­führer genehm sind. Es ist ein Rennen unter Gleichen, Reformer sind da kaum zu finden. Von den 762 Moderaten, die sich beworben haben, dürfen gerade einmal 44 kandidieren. Die genaue Zahl, wie viele es am Ende tatsächlich auf die Liste schaffen, wird erst am Wahltag ersichtlich sein.

Konservative und Reformer: Entlang dieser zwei grob definierten Lager lassen sich die politischen Parteien im Iran einordnen. Zu den Reformern zählen jene Gruppen rund um den ehemaligen Präsidenten Mohammed Khatami, der 1997 mit überwältigender Mehrheit gewählt wurde. Khatami war damals ein unbekannter Geistlicher. Er versprach mehr Bürger­rechte, die Einschränkung des Wächterrats und einen «Dialog der Zivilisationen», mit dem sich der Iran gegenüber dem Westen öffnen sollte. Bis 2005 konnte sich Khatami im Amt halten – und kaum eines seiner Versprechen einlösen.

Dennoch gilt er vielen bis heute als Lichtgestalt. Und der Staatsführung als Reizfigur. Ebenso wie die zwei ehemaligen Präsidentschafts­kandidaten von 2009, Mir Hossein Moussavi und Mehdi Karroubi, die nun seit fast zehn Jahren unter Hausarrest stehen. Ihnen gemein ist, dass sie an den Grund­säulen der Islamischen Republik festhalten, sie aber innerhalb der Grenzen des Systems reformieren möchten, um das Überleben des Gottes­staates zu ermöglichen.

Der Revolutions­führer als Mikromanager

Auf der anderen Seite des politischen Spektrums stehen jene Parteien, die dem obersten Religions­führer Khamenei treu ergeben sind. Zur wichtigsten Gruppe zählt die «Vereinigung der kämpfenden Geistlichkeit». Sie stellt Irans klerikale Elite. «Es gibt keine Gruppe im Iran, die mit dieser Organisation mithalten kann», sagt der Politologe Mehrzad Boroujerdi, Direktor der School of Public and International Affairs an der US-Universität Virginia Tech. Seit Jahren forscht Boroujerdi zur iranischen Parteien­landschaft. Die «Vereinigung der kämpfenden Geistlichkeit» sehe in Religions­führer Khamenei die irdische Verkörperung des Mahdi, des verschollenen zwölften Imams, der sich gemäss dem schiitischen Dogma zu erkennen gibt, wenn die Welt am Abgrund steht, um sie zu retten.

Zu den wichtigsten Mitgliedern der Organisation zählt neben Khamenei selbst der Fundamentalist Mesbah Yazdi, der ideologische Ziehvater des ehemaligen Hardliner-Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad. Ihm und seinen Anhängern widerstrebt jegliches demokratische Gebaren, und sei es nur zum Schein. «Sie sagen: Wir brauchen keine Republik oder Verfassung. Der Koran ist unsere Verfassung», sagt Boroujerdi.

Revolutionsführer Ali Khamenei schwebt über allem und jedem: Präsident Hassan Rohani auf dem Weg zu einer Pressekonferenz (16. Februar 2020). Abedin Taherkenareh/EPA/Keystone

Da die «Vereinigung der kämpfenden Geistlichkeit» nicht als Partei registriert ist, geniesst sie viele Privilegien. So kann sie etwa ausserhalb der offiziellen Wahlkampf­zeiten werben. Ihr wichtigstes Propaganda­tool sind neben regelmässigen Auftritten im staatlichen Rundfunk, der von Hardlinern kontrolliert wird, die wöchentlichen Freitags­gebete. «Das ist eine riesige Infrastruktur, organisiert aus Khameneis Büro heraus», sagt Boroujerdi. Die Predigten sind inhaltlich bis aufs letzte Komma mit dem Religions­führer abgestimmt. So wird gewährleistet, dass Khameneis Botschaft auch in den entlegensten Winkeln des Landes ankommt. «Khamenei ist ein Mikro­manager», sagt Boroujerdi. Über die Jahre hat er sich einen Staat im Staat aufgebaut, mit Vertretern aus seinem Büro in allen Institutionen, Organen, Wahl­bezirken, bis ins letzte Dorf.

Dabei geniesst Khamenei laut Verfassung ohnehin uneingeschränkte Macht. Er besetzt wichtige Positionen wie diejenigen der Chefs von Justiz­behörden, Geheim­diensten, Revolutions­garden und Rundfunk. Er legt die iranische Aussen- und Atompolitik fest, kann jedes Gesetz durchwinken oder blockieren und sogar sein eigenes Kontroll­organ beeinflussen: den Expertenrat. Dieses 88-köpfige Männer­gremium prüft Entscheidungen des obersten Religions­führers und bestimmt seine Nachfolge. Formell wird der Expertenrat ebenfalls von der Bevölkerung gewählt. Doch auch hier kommen, wie bei der Parlaments­wahl, nur jene Personen auf die Kandidaten­liste, die Khameneis Wächterrat zulässt.

«Was bringt das Parlament überhaupt?»

Wie wird ein Parlament aussehen, das faktisch nur aus jenen besteht, die Khamenei huldigen? Macht es einen Unterschied, wem Präsident Hassan Rohani, der zu den moderaten Kräften gezählt wird, in den letzten zwei Jahren seiner Amtszeit gegenüber­steht? Und welche Auswirkungen hat es auf die internationalen Beziehungen?

«Rohani und die Reformer werden von einem Parlament voller Hardliner viel stärker angegriffen werden, ebenso die USA. Aber das Parlament hat keinen wesentlichen Einfluss auf Irans Innen- oder Aussenpolitik», sagt Sadegh Zibakalam. Der 71-jährige Professor der Universität Teheran gehört zu den profiliertesten Politik­wissenschaftlern des Landes. Trotz Einschüchterungs­versuchen ist er einer der wenigen Experten im Iran, die ausländischen Medien immer wieder Interviews geben. Im Juni 2018 wurde er mit dem «Freedom of Speech Award» ausgezeichnet. Ein paar Monate zuvor hatte ihn ein iranisches Gericht zu 18 Monaten Haft verurteilt, nachdem er in einem Interview mit der Deutschen Welle über Missstände in seinem Heimat­land gesprochen hatte. Er betreibe «Propaganda» gegen die Islamische Republik und verbreite Lügen, so der Vorwurf.

Tasnim News Agency
«Ich glaube, dass die Zukunft des Iran kurzfristig in den Händen der Revolutions­garden, der Hardliner und der Ahmadinejads liegt.»
Sadegh Zibakalam, Politologe

Seinem Mitteilungs­bedürfnis tat das keinen Abbruch. Nach wie vor meldet sich der Professor über soziale Netzwerke und in offenen Briefen zu Wort, in denen er die Führung kritisiert – zuletzt wegen der unbegründeten Verhaftung von Studentinnen auf dem Universitätsgelände.

Was Irans politische Institutionen betrifft, fallen seine Analysen ernüchternd aus. Die Rolle des Parlaments dürfe nicht überwertet werden, meint er. Abdollah Ramezanzadeh, einstiger Regierungs­sprecher von Reformer-Präsident Khatami, twitterte unlängst, dass sein Lager selbst dann nichts ausrichten könnte, wenn alle 290 Sitze des Parlaments von Reformern besetzt würden.

Der Beweis dafür ist längst angetreten. Unter Reformer-Präsident Khatami war das Parlament in der Hand seiner Kräfte. Alle Gesetzes­initiativen, die unter anderem mehr Presse­freiheit vorsahen und die Macht des Wächterrats hätten einschränken sollen, wurden blockiert – vom Wächterrat.

«Das Parlament spielt keine bedeutende Rolle. Welche Rolle spielte es im Atom­abkommen? Keine. Welche Rolle bei Irans Syrien-Politik? Keine. Welche in den Beziehungen zu den USA? Keine. Welche bei der Inhaftierung von Leuten? Keine», fasst Sadegh Zibakalam zusammen. «Daher fragen sich viele Menschen: Was bringt das Parlament überhaupt?»

Mikromillimeter vom Establishment entfernt

Und doch gehen die Leute an die Urnen. Die Wahl­beteiligung liegt in der Regel bei 60 bis 70 Prozent. Solange sie eine Wahl haben, wählen die Iranerinnen. Und sie wählen zumeist jene Kandidaten, die vom Establishment am weitesten entfernt sind, auch wenn es sich lediglich um Mikro­millimeter handelt. Bei den Präsidentschafts­wahlen 1997 war es nicht unbedingt eine Wahl für den Reformer Khatami, sondern eine Anti-Wahl gegen dessen Konkurrenten Ali Akbar Nateq Nuri, den Religions­führer Khamenei als Wunsch­kandidaten präsentiert hatte.

Bei Hassan Rohani war es ähnlich, als die Hardliner mit Ebrahim Raisi einen Khamenei-Vertrauten ins Rennen schickten. Und selbst Hardliner Mahmoud Ahmadinejad war eine Denkzettel­wahl: Er kam 2005 an die Macht, weil er trotz seinem Stallgeruch als Revolutions­gardist als einfacher Mann aus dem Volk wahrgenommen wurde, während man seinen Kontrahenten, Ex-Präsident Ali Akbar Hashemi Rafsanjani, als Bonze des Regimes sah.

Bei dieser Parlamentswahl hat der Wächterrat selektioniert wie nie zuvor. Mittler­weile fürchtet das Establishment selbst, dass man vielleicht zu weit gegangen ist. Im grössten Wahlbezirk Teheran mit 30 Sitzen gibt es keinen einzigen Reformer. Ein Skandal, selbst für iranische Verhältnisse. Präsident Rohani appellierte an den Wächterrat, doch mehr Diversität zuzulassen: «Die grösste Gefahr für eine Demokratie ist, wenn Wahlen zu einer reinen Formalität werden. Das heisst, wenn Kandidaten zuvor ernannt und danach die Menschen rein aus formalen Gründen zu den Urnen geschickt werden.»

Den Boden bereiten für 2021

Für Rohani ist es entscheidend, mit wem er die nächsten zwei Jahre zu tun hat. Längst hat er sein politisches Kapital verspielt. Mit dem Ausstieg der USA aus dem Atomdeal ist sein politisches Vermächtnis Geschichte. Nun sehen auch die meisten Iraner in ihm jene lame duck, als die ihn die Hardliner seit Beginn seiner Amtszeit karikierten.

Laut dem Politologen Sadegh Zibakalam wollen die Konservativen mit einem Parlament voller Hardliner den Boden für die nächste Präsidentschafts­wahl bereiten, die 2021 ansteht. Dann soll wieder einer der ihren führen, einer vom Kaliber eines Mahmoud Ahmadinejad, der mit seinen Aussagen zur Vernichtung Israels und zu Irans nuklearen Ambitionen das Land zunehmend isolierte.

«Es ist durchaus möglich, dass die Hardliner auf eine Rückkehr von Ahmadinejad drängen», sagt Zibakalam. Selbst wenn ihn der Wächterrat disqualifiziere – was er schon einmal getan hat –, werde ein Ahmadinejad-Verschnitt seinen Platz einnehmen im nächsten Rennen: «Ich glaube, dass die Zukunft des Iran kurzfristig in den Händen der Revolutions­garden, der Hardliner und der Ahmadinejads liegt.»

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