Am Gericht

Der Lööli im Dorf

Zündstoff in Knonau: Ein Rentner bringt Behörden und Nachbarn an den Rand der Verzweiflung und verstrickt sich immer mehr in juristische Gefechte. Die Chancen auf ein Happy End schwinden.

Von Brigitte Hürlimann, 19.02.2020

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Der Konflikt schwelt seit vielen Jahren, und je länger er andauert, desto mehr verhärten sich die Fronten. Eine gütliche Einigung scheint weiter entfernt denn je. Da ist Karl, 73 Jahre alt, der unter einer krankhaften Sammelwut leidet, sämtliche Dinge auftürmt und hortet, die ihm in die Hände geraten. Messie nennt man ihn im zürcherischen Knonau, er ist den Behörden und Dorfbewohnern ein Dorn im Auge. Die Republik berichtete im Frühjahr 2019 in der Podcast-Serie «Zündstoff» ausführlich über den Fall. Wie also umgehen mit diesem Sonderling, der unter prekären Bedingungen auf dem Grundstück seines niedergebrannten Hauses lebt?

Die Gemeinde fühlt sich von Karl bedroht, stört sich an der Brandruine mitten im Dorf und vor allem am chaotischen Sammelsurium, das ein beängstigendes Ausmass angenommen hat. Der zusehends isolierte Rentner wiederum beklagt behördliche Übergriffe – und die Untätigkeit der Strafverfolger, was die Brandstiftung an seinem Haus betrifft. Das Feuer hätte ihn fast das Leben gekostet. Doch darum geht es am Zürcher Obergericht nicht, sondern um Todesdrohungen. Karl sitzt auf der Anklagebank.

Ort: Obergericht, Zürich
Zeit: 14. Februar 2020, 8 Uhr
Fall-Nr.: SB190439
Thema: Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte, Drohung

«Was wollen Sie mit Ihrer Berufung erreichen?», fragt Oberrichter Daniel Bussmann gleich zu Beginn der Verhandlung.

Vor ihm sitzt Karl, im karierten Hemd und mit der markanten Brille auf der Nase. Die Schirmmütze hat er artig abgenommen und vor sich aufs Pult gelegt. Wer ihm auf der Strasse begegnen und mit ihm einen Schwatz beginnen würde, der käme zu folgendem Urteil: ein witziger, charmanter Senior mit Schalk in den Augen; ein Kreativer, ein Künstler, ein Nonkonformist, liebenswert und aufgeschlossen. Einer, der über Gott und die Welt redet, gerne spintisiert und fantasiert. Aber auch einer, der mehr essen sollte. Die Kleider schlottern an seinem mageren Körper.

«Ich will einen vollständigen Freispruch», antwortet Karl dem Gerichtsvorsitzenden, ohne zu zögern. «Und ich will, dass die Schuldigen drankommen.»

Wer sind die Schuldigen? In diesem Strafverfahren, an diesem Prozess auf jeden Fall nicht jene, die der 73-Jährige im Kopf hat. Vor dem Zürcher Obergericht geht es nicht um die ungeklärte Brandstiftung am historischen Wohnhaus, das mitten in Knonau stand und jahrzehntelang das Daheim der vierköpfigen Familie von Karl war. Vom stattlichen Gebäude aus dem Jahr 1450 sind nur ein paar Grundmauern übrig geblieben. Das Feuer war nachts ausgebrochen, als Karl und sein Hund schliefen. Mit viel Glück wachten die beiden noch rechtzeitig auf und konnten sich nach draussen retten.

Es geht auch nicht um die Kesb, die ihn seiner Meinung nach nicht korrekt behandelt und die Wurzel allen Übels ist (er hat einen Beistand); ebenso wenig um die drohende Zwangsverwertung des Grundstücks, auf dem der Rentner seit dem Brand in einem Wohnwagen haust: umringt von seinen Schätzen, seinen Fundstücken, die er mehr liebt als alles andere auf der Welt. Ein Graus für die Behörden und Nachbarn, eine Belastung für die Familie, für Karl ein wahrer Schatz – alles, was er noch hat.

Die Sammelwut hat einen Namen: «pathologisches Horten», schreibt die Gerichts­psychiaterin in ihrem Gutachten. Das sei eine psychische Störung, die bei Karl chronifiziert und in einer schweren Ausprägung auftrete. Und was sie auch erwähnt: Beim Patienten fehle es an einer Krankheits­einsicht.

Das Sammeln und Horten hat Karl schon mehrfach in die Fänge der Strafjustiz getrieben. Die Nachbarn reklamieren, die Gemeinde führt Zwangs­räumungen durch, die Polizei muss geholt werden, der Sammler widersetzt sich den behördlichen Anordnungen. Konkret geht es um drei Vorfälle, für die sich Karl im laufenden Verfahren verantworten muss: eine Drohung sowie Gewalt und Drohung gegen Beamte. Der schlimmste Vorwurf betrifft Todesdrohungen, die der Rentner im Frühling 2018 gegenüber dem damaligen Gemeinde­präsidenten von Knonau und einem weiteren Gemeinderats­mitglied geäussert haben soll.

Er richtete die Drohungen nicht direkt an die Betroffenen, sondern erwähnte sie im Gespräch mit seiner Gastfamilie, die ihm nach der Brandstiftung Unterschlupf geboten hatte. Die Gastgeber waren ob der wüsten Worte derart erschrocken, dass sie die Behörden­mitglieder informierten. Die beiden Betroffenen nahmen die Drohungen ernst, lagen sie sich doch schon seit Jahren mit dem renitenten Rentner in den Haaren. Die Gemeindeverwaltung Knonaus wurde wegen der Drohungen mehrere Tage lang geschlossen. Karl wanderte für ein halbes Jahr in Untersuchungs­haft und wurde dort psychiatrisch begutachtet.

Die beiden weiteren Vorwürfe der Staatsanwaltschaft betreffen die Festnahme Karls vor der Untersuchungs­haft. Er wollte sich von den Polizisten partout nicht auf den Posten führen lassen, sondern zuerst den Hund zum Tierarzt bringen und danach allein zur Polizei gehen. Er wisse schon, wo der Posten sei, er habe jetzt anderes zu tun. Das akzeptierten die zwei Polizisten und die Polizistin selbstredend nicht, sie ergriffen den Widerspenstigen, Karl trat, trampelte und kratzte – und drohte damit, den Polizeiposten mit einer Bombe in die Luft zu jagen. Bei der noch gleichentags erfolgten polizeilichen Einvernahme schüttete er schliesslich einem Polizisten noch Wasser ins Gesicht.

Diese beiden Vorfälle gibt Karl zu, nicht aber die Todesdrohungen an die Adresse der Gemeinderats­mitglieder. Es habe mit der Gastfamilie zwar eine hitzige Diskussion gegeben, aber solches habe er bestimmt nicht gesagt: dass er den Gemeinderats­präsidenten und den Gemeinderat zuerst erschiessen und dann sich selber richten würde, wie es in der Anklageschrift heisst.

Das Bezirksgericht Affoltern sprach ihn im Mai letzten Jahres wegen allen drei Vorwürfen schuldig und verurteilte den Vorbestraften zu einer unbedingten Freiheits­strafe von acht Monaten. Zudem wurde eine ambulante Massnahme, also eine Therapie, angeordnet. Die Sache mit der Todesdrohung wurde als Drohung qualifiziert, das Verhalten gegen die Polizei als Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte.

Ob er denn willens sei, eine Therapie durchzuführen, will Oberrichter Bussmann Monate später am Berufungsprozess in Zürich wissen. «Ja», sagt Karl. Wenn er es nicht bezahlen müsse.

Der Gang vor Obergericht lohnt sich für ihn nicht. Immerhin darf er seine Sichtweise ausführlich schildern, das dreiköpfige Gremium hört ihm geduldig zu. Karl erzählt mit Begeisterung von seinen Fundstücken, die er für Theater­produktionen einsetze, als Requisiten und für Kulissen. Wie schade es doch sei, wenn man alles fortwerfe. Und er berichtet von seinem kargen Leben im Wohnwagen, von der Brotsuppe, die er sich koche, wenn er im Volg altes Brot ergattert habe. «Für einen Cervelat reicht es vielleicht einmal pro Woche.»

Karl ist überzeugt davon, dass man ihm Unrecht antut und dass ihm die Gemeinde für dieses Unrecht viel Geld schuldet. «Ich bin der Lööli im Dorf», sagt er, «ich wehre mich halt und kritisiere gewisse Vorgänge, das sieht man nicht gerne.» Dass er selber Teil des Problems sein könnte, diesen Gedanken lässt er nicht zu.

Das Obergericht bestätigt den vorinstanzlichen Schuldspruch und die Strafe, es bleibt also bei den acht Monaten unbedingt und der ambulanten Massnahme. Todes­drohungen, sagt der Gerichts­vorsitzende bei der mündlichen Urteils­begründung, müsse sich niemand gefallen lassen, auch Behörden­mitglieder nicht. Doch der Oberrichter erwähnt auch die tragische Geschichte Karls, der sich immer mehr in eine Ecke gedrängt fühle, den Behörden misstraue. Und folgert: «Es besteht die Gefahr weiterer Eskalationen.»

Wie soll es nun weitergehen? Muss Karl nochmals ins Gefängnis?

Der Verurteilte gibt sich nach der Urteilseröffnung gefasst und kämpferisch. Er schliesst nicht aus, den Entscheid vor Bundesgericht zu ziehen, erwägt jetzt schon einen Gang vor den Menschenrechts­gerichtshof. Zu Fuss werde er nach Strassburg marschieren. Das alles sagt er vor laufender Fernsehkamera, und am Schluss bittet er den jungen Videojournalisten höflich: «Bitte nenn mich nicht Messie. Das stört mich. Diesen Stempel will ich nicht.»

Illustration: Till Lauer

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