«Ich fotografierte es so, wie ich mich daran erinnern wollte. Nicht, wie es war»
Während seine Mutter im Sterben lag, ging Fotograf Matt Kay auch das Land verloren, auf dem er aufgewachsen war. Teil 2.
Von Flurina Rothenberger (Text) und Matt Kay (Bilder), 15.02.2020
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Zwischen 2012 und 2015 produzierte Matt Kay die Serie «Losing Ground». Sie handelt vom Weggehen, vom Wandel und vom Land, auf dem er aufgewachsen ist: von den Midlands in der Provinz KwaZulu-Natal an der Ostküste Südafrikas. Matt studierte in Johannesburg, als er erfuhr, dass in seinem Heimatort ein Damm gebaut wurde. Er fuhr damals jedes Wochenende nach Hause, um Zeit mit seiner Mutter zu verbringen, bei der Krebs diagnostiziert worden war. «Sie war sehr krank und konnte oft nicht sprechen, also ging ich raus und fotografierte. Es hatte auch etwas Therapeutisches. Damals erkannte ich die Parallelen nicht, aber meine Mutter lag im Sterben, und auch dieses Land, auf dem ich aufgewachsen war, ging verloren. Ich fotografierte es so, wie ich mich daran erinnern wollte. Nicht, wie es war. Ich arbeitete absichtlich mit dieser alten Kamera, die beim Transportieren des Films häufig sprang. Sentimentale Arbeiten gefallen mir nicht, aber manchmal ist es nicht verkehrt, wenn man in erster Linie für sich selbst fotografiert, weil das Thema sehr persönlich ist.»
«Der Grund, warum ich überhaupt eine so enge Beziehung zu diesem Gelände habe, ist mein Vater. Als Kind weckte er mich um 5 Uhr morgens und ging mit mir fischen. Er ist anders als viele, aber ein unglaublicher Vater. Er war von Tieren besessen. Mangusten, Duiker, er nahm alle verwundeten Tiere zu uns nach Hause. Mein Vater war Naturwissenschaftslehrer, und wenn ein Kranich starb, so nahm er den Vogel mit in die Schule. Davor probte er die Lektion mit meinem Bruder und mir. Wir nahmen diesen riesigen Kranich, rupften und häuteten ihn. Dann kochten wir das Fleisch von seinen Knochen runter und bleichten sie weiss. Anhand von zoologischen Vogelskizzen setzten wir das Skelett mit Schnellkleber wieder zusammen, das war dann das Wissenschaftsprojekt. Ich fotografiere instinktiv, aber wenn ich mir meine Bilder anschaue, denke ich: Alles geht auf meinen Alten zurück. Im Wald aufwachsen, nach der Schule durch die Wildnis streifen, Burgen bauen und in ihnen übernachten: Ich hatte eine wunderbare Kindheit, und ich verdanke sie meinem Vater. Der Verlust dieser Gegend bedeutete auch, einen grossen Teil meines Vaters zu verlieren und dessen, was mein Vater in der Zweisamkeit mit meiner Mutter war.
Matt, du hast erzählt, wie du als Kind mit deinem Vater das Skelett eines Kranichs präpariert hast. Kraniche kommen auch als eine Art Maskierung in deinem aktuellen Projekt «The Maiden Flight» vor, in dem die Bienenzucht und der Schutzanzug eine zentrale Rolle spielen. Was fasziniert dich an der Verkleidung des Menschen im Umgang mit dem Tier?
Die Arbeitsschritte im Umgang des Menschen mit dem Tier haben oft etwas Rituelles, das beobachte ich auch bei meinem Vater, und manchmal tritt man dabei von einer Welt in eine ganz andere über. In der Bienenzucht schlüpft der Imker in diesen Anzug und wird unangreifbar, wenn er sich den Bienenstöcken nähert, es ist fast ein ritueller Übergang. Ich interessiere mich für die Verbindung zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen, gut sichtbar in der Tierrehabilitation. In der Region, in der ich aufgewachsen bin und «The Maiden Flight» fotografiere, gibt es grosse Bestrebungen, den vom Aussterben bedrohten Klunkerkranich zu erhalten. In den Aufzuchtstationen, wo Eier ausgebrütet werden und junge Kraniche die Futtersuche und das Fliegen lernen, sind die Pfleger, die ja auch eine Erziehungsfunktion haben, in Kranichkostüme gekleidet, den künstlichen Kranichkopf tragen sie wie eine Handpuppe. Damit wird verhindert, dass die Vögel sich an Menschen gewöhnen.
Der Fotoessay «The Maiden Flight» ist noch nicht abgeschlossen, was mir auffällt, ist eine sehr suggestive Bildsprache. Die Arbeit scheint wie eine Gratwanderung zwischen deiner intuitiven künstlerischen Wahrnehmung und den technischen Arbeitsschritten des Bienenzüchters.
Der Bienenzüchter heisst Mark. Er hatte ein hartes Leben, ist aber besessen von diesen Bienen. Mark wurde 1955 geboren und kämpfte im Südafrikanischen Grenzkrieg in Angola. Zwischen dem Krieg und dem Regierungswechsel in Südafrika fand er sich an den Rand eines Landes gedrängt wieder, für das er gekämpft hatte. Seine Bitterkeit führt ihn manchmal zu Aussagen, die als rassistisch verstanden werden können. Aber er ist auch ein sehr sanfter, fürsorglicher Imker, der fliessend Zulu spricht und sich mit Hingabe bemüht, den Schwarzen bei der Imkerei zu helfen. Er unterstützt diese Kollegen beim Bau ihrer Bienenstöcke und berät sie. Mark versteht nicht, dass ich mich für seine Person interessiere, er möchte viel lieber, dass ich mikroskopische Kameras in seine Bienenstöcke stecke. Ich mache aber keine Dokumentation über die Bienenzucht, diese Arbeit ist meine eigene Fiktion.
Schaffen das Studium und die Arbeit in Südafrika mehr Bewusstsein für die Machtdynamik zwischen dem Fotografen und dem Subjekt?
Ich bin mir sehr bewusst, dass ich ein weisser, männlicher, heterosexueller südafrikanischer Fotograf bin. In der Ausbildung habe ich definitiv einige wesentliche Dinge gelernt. Ursprünglich war ich der einzige Weisse in meiner Klasse, viele kamen aus weniger privilegierten Verhältnissen. Wir arbeiteten zusammen und standen in Konkurrenz, aber die Hindernisse in meinem und in ihrem Weg waren so unterschiedlich. Zum ersten Mal in meinem Leben fragte ich mich, wie verdammt unangebracht es wäre, wenn ich einfach in das Haus eines Klassenkameraden spazieren und dort fotografieren würde. Es ist ihr intimer Raum, den sie selber dokumentieren. Man hat nur wirklich Zugang zu Dingen, die einem selbst gehören. Ausgehend von einer Zeit hier in Südafrika, in der weisse Fotografen ungefragt die Lebensräume schwarzer Menschen betreten haben, sind wir nun in einer Zeit, in der es genug Zugang zur Fotografie gibt, damit die meisten Menschen ihre Geschichten selber erzählen können. Man muss nicht die Stimme von jemandem sein. Menschen haben das Recht auf ihre eigenen Erzählungen. Ich behaupte nicht, dass es grundsätzlich keinen Spielraum gibt, um das Leben eines anderen Menschen zu fotografieren, aber was für mich zählt, ist die Absicht. Das muss man sich gut überlegt haben. Was ist der Grund dafür? Habe ich verstanden, was ich tue? Betrete ich wissentlich den Lebensraum eines Menschen? Wenn der Gedankengang da ist und du nachvollziehbar erklären kannst, warum das notwendig ist, dann tu es. Aber hinterfrage dich immer.
Die anhaltenden Auswirkungen der Apartheid, vom Rassismus bis zur wirtschaftlichen Ungleichheit, haben die südafrikanischen Erzählungen in der Fotografie geprägt. Viele junge Fotografinnen entfernen sich von geradlinigen, dokumentarischen Bildern und beweisen, dass bewährte Praktiken nicht statisch sind, sondern sich ständig weiterentwickeln. Wie siehst du das?
Die Bildsprache verändert sich gegenwärtig definitiv. Die Fotografie hat im Post-Apartheid-Südafrika eine ganze Bewegung des Aktivismus unterstützt. Wenn man sich die jüngere Generation ansieht, die jetzt vorrückt, insbesondere die Bilder junger schwarzer Fotografinnen, die sich selbst zum Motiv nehmen, so verändert sich damit die bisherige Bildsprache wesentlich. Die Fotografie wird reflexiv. Die Welt betrachtet Afrika, und wir betrachten uns selbst. Man sieht nun mehr Arbeiten im Stil von «The Maiden Flight», persönliche Projekte. Nun wird es spannend zu sehen, wer die neuen afrikanischen Jungkuratoren in der Fotografie sein werden.
Das ist ein wichtiger Punkt. Was sich derzeit auf dem Markt als verkäufliche zeitgenössische Fotografie aus Afrika bewährt, berücksichtigt selten die Komplexität der Räume, in denen afrikanische Fotografinnen heute leben und arbeiten.
Was ich dazu sagen kann, ist, dass ich mir immer die bisherigen Gewinner anschaue, bevor ich an einem internationalen Fotowettbewerb teilnehme. Unter den ausgezeichneten Arbeiten aus Afrika sehe ich viele, die problematisch sind. Es sind keine schlechten Arbeiten, aber sie bewahren ein Narrativ, an dem ich nicht teilhaben möchte. Ich glaube, viele Fotografinnen produzieren für Wettbewerbe das, was man von der Fotografie in Afrika erwartet, damit finanzieren sie sich dann ihre eigentlichen Arbeitsthemen. Ein Grossteil der Welt erwartet immer noch, dass unsere Fotografie entweder politisch oder modisch exotisch ist. Wenn ein amerikanischer Fotograf eine Arbeit über seine Mutter oder seine Jugend macht, so wird es anerkannt als eine individuelle, persönliche Erfahrung. Unsere Fotografie dagegen wird als Erstes als südafrikanisch oder afrikanisch kontextualisiert. Wenn du dich in deiner Arbeit als Kunstschaffender oder Fotograf nicht mit deiner Identität als Afrikaner beschäftigst, ist es fast so, als würdest du eine Erfolgsaussicht ungenutzt verstreichen lassen. Währenddessen gehen die vielen nuancierten und persönlichen Geschichten verloren, Arbeiten, die intim und eigentlich universell sind.
Matt Kay (1985) wuchs in den Midlands von KwaZulu-Natal auf und lebt heute in Kapstadt, Südafrika. Er studierte und lehrte am Market Photo Workshop in Johannesburg und wurde ausgezeichnet mit dem Ithuba Arts Trust und dem Tierney Fellowship 2014. Matt Kay verdient seinen Lebensunterhalt als Hochzeitsfotograf und widmet viel Zeit seinen persönlichen Projekten, aus denen oft Bücher entstehen. Er wurde mehrfach für Preise nominiert und hat weltweit ausgestellt. Folgen Sie ihm auf Instagram.
Warum sollen wir gerade jetzt nach Afrika blicken? Falsche Frage, sagt Flurina Rothenberger. Die richtige laute: Warum erst jetzt? In ihrer wöchentlichen Kolumne «Ansichten aus Afrika» stellt Flurina Rothenberger junge Fotografie aus Afrika vor. Hier finden Sie den Podcast «Aus der Redaktion» zu dieser Kolumne.