Am Gericht

Der Feind in meinem Feed

Um ein Haar wird aus einer 54-jährigen Putzfrau eine Vorbestrafte. Auf ihrem Facebook-Konto taucht ein Video auf, das Gewalt an Kindern zeigt.

Von Brigitte Hürlimann, 12.02.2020

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Die Schweiz wird mal wieder von einer Spam-Welle überflutet. Besonders betroffen sind die Facebook-Nutzerinnen. Kaum ein Tag, an dem uns nicht einer unserer virtuellen Freunde eine direkte Nachricht schickt, garniert mit einem rätselhaften Link. Von Videos ist da die Rede, in denen wir in Erscheinung treten sollen. («Bist du derjenige in diesem Video? 😮 ??»)

Wer sich nur ein klein wenig in der Welt der sozialen Netzwerke auskennt, weiss: Finger weg, ja nicht anklicken, den Schrott löschen oder zumindest ignorieren. Meist finden wir dann Stunden später verzweifelte Meldungen auf Facebook. Das Konto sei gehackt worden. Man solle bitte nicht auf die Fake-Nachrichten reagieren oder nochmals eine Freundschafts­anfrage bestätigen. Man brauche auch kein Geld. Man sei nicht in Gefahr. Und: Man habe keine Videos verschickt.

Doch was geschieht, wenn Facebook-Piraten illegale Inhalte auf unser Konto hochladen? Oder unser Konto klonen? Und wir uns dafür vor dem Strafrichter verantworten müssen?

Ort: Bezirksgericht Zürich
Zeit: 29. Januar 2020, 15 Uhr
Fall-Nr.: GB190069
Thema: Gewaltdarstellung

Sie sitzt mutterseelen­allein da und versteht nicht, was mit ihr passiert. Sie ist direkt von der Arbeits­stelle ans Gericht gefahren und entschuldigt sich für die unpassende Kleidung: dicker Winterpulli mit Kapuze, Jeans, schneetaugliche Schuhe. Die 54-jährige Frau aus der Dominikanischen Republik, die seit 25 Jahren in der Schweiz arbeitet und lebt, ist derart nervös, dass sie lieber via Dolmetscher redet, als auf Deutsch radebrechen zu müssen. Die Fragen, die man ihr stellt, überfordern sie.

Sie hat keinen Rechts­beistand, keine Verteidigerin, doch sie hat es immerhin geschafft, einen Strafbefehl der Staats­anwaltschaft Zürich-Sihl anzufechten. Hätte sie dies nicht getan, wäre sie nun vorbestraft; schuldig gesprochen wegen Gewaltdarstellung, bestraft mit einer bedingten Geldstrafe von 15 Tagessätzen à 90 Franken (macht 1350 Franken) und einer Busse von 300 Franken. Dazu würden ihr noch 1000 Franken an Verfahrens­kosten aufgebrummt.

Und was soll diese bisher unbescholtene Putzfrau Böses angestellt haben, nach Meinung der Staatsanwaltschaft?

Man hat auf dem Facebook-Profil der Frau eine Videodatei mit Gewalt­darstellungen gefunden; die Datei blieb wohl in einem Filter hängen. Der Fund wurde anschliessend via amerikanische Behörde der Schweiz gemeldet. Am Schluss landet der Fall bei einem Einzel­richter in Straf­sachen am Bezirksgericht Zürich – Einsprache sei Dank.

Die Angelegenheit soll nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Im Strafbefehl, der zur Anklageschrift mutiert ist, wird die Szene im Video beschrieben. Es geht um Gewalt an Kindern. Und die Frau, die dafür verantwortlich sein soll, ist mehrfache Mutter.

Sie schüttelt an der Verhandlung immer wieder den Kopf. Nein, mit diesem Video habe sie nichts zu tun, den Film habe sie nie gesehen und ganz bestimmt nicht via Handy auf ihr Facebook-Konto geladen, wie es ihr die Staatsanwaltschaft vorwirft: «Ich weiss gar nicht, wie man das macht, ich kenne mich mit solchen Dingen nicht aus, ich kann nicht so gut mit dem Handy und dem Internet umgehen. Ich möchte, dass man bei Facebook nachforscht, wie das geschehen konnte.»

Einzelrichter Pierre Dienst hakt nach. Ob sie denn keine Erklärung dafür habe, wie das Video auf ihrem Facebook-Konto gelandet sei? Ob sie zum Zeitpunkt des Hochladens gearbeitet habe? Und ob sie während der Arbeit das Handy auf sich tragen dürfe? Oder ob jemand anders Zugriff zum Handy habe?

Die Fragen sind wichtig, und sie führen nach einer kurzen, geheimen Urteils­beratung zu einem Freispruch in dubio pro reo: im Zweifel für die Angeklagte. Denn es stellt sich heraus, dass die Frau wirklich wenig Ahnung von der virtuellen Welt hat; ebenso wenig von den Geräten, die ihr Zugang zu dieser Welt verschaffen. Eine Tochter hat das Facebook-Konto installiert, um ihr die Kontakte zu den Familien­angehörigen in der Dominikanischen Republik zu erleichtern. Und die Tochter hat auch bemerkt, dass mit dem Konto ihrer Mutter etwas nicht mehr stimmt. Und hat es daraufhin aufgelöst.

Ausserdem hat die Frau zum Zeitpunkt, als das Gewalt­video hochgeladen wurde, gearbeitet, das ergibt sich aus der Zeiterfassung beim Arbeit­geber. Das Handy lag zur fraglichen Zeit im Garderoben­schrank, weil es die Putzequipe nicht mit an die Arbeit nehmen darf. Und die Frau, so Einzelrichter Dienst, sei noch nie dabei ertappt worden, dass sie diese Vorschrift missachtet habe.

«Facebook-Konti werden gehackt, das ist eine Tatsache», sagt Dienst bei der mündlichen Urteils­begründung. Es sei zwar nicht auszuschliessen, dass die Frau die Datei selbst hochgeladen habe. «Aber es bleiben erhebliche Zweifel. Und ein Motiv ist nicht ersichtlich. Darum der Freispruch.»

Der Fachmann klärt auf

Aber wurde das Konto der 54-Jährigen tatsächlich gehackt?

Wir fragen bei jenem Mann nach, der sich in der Schweiz einen Namen als juristischer IT-Experte geschaffen hat. Der Zürcher Rechts­anwalt Martin Steiger vertritt regelmässig Menschen, die im Umgang mit der virtuellen Welt in die Bredouille geraten. Als er vom jüngsten Fall mit der freigesprochenen Putzfrau erfährt, sagt Steiger spontan: «Das war vermutlich kein Hack. Gerade ältere Personen glauben häufig, ihr Facebook-Konto sei gehackt worden. Dabei sind sie in vielen Fällen bloss an Einstellungen und Funktionen bei Facebook gescheitert. Allenfalls wurde das Konto geklont.»

Und was, bitte, ist der Unterschied zwischen Hacken und Klonen?

Der Rechtsanwalt erklärt: «Bei einem Hack verschaffen sich Kriminelle selbst Zugang zum Facebook-Konto und kontrollieren es. Sie können beispiels­weise verbotene Inhalte im Namen der Inhaberin veröffentlichen oder das Konto direkt für Betrug missbrauchen.»

Werde hingegen ein Konto geklont, sehe es bloss so aus, als ob die Konto­inhaberin tätig wäre. In Wirklichkeit hätten Kriminelle ein neues Konto mit fast dem gleichen Namen und dem gleichen Erscheinungs­bild erstellt. «Facebook-Freunde, die nicht aufpassen, fallen darauf herein. Facebook-Nutzer können sich davor schützen, indem sie die Sichtbarkeit ihrer Freundesliste einschränken, das heisst: auf ‹nur ich› setzen.»

Die Gefahren, die hinter solchen Piraten­angriffen lauern, sind immens. Rechtsanwalt Steiger erwähnt Erpresser-Mails, die oft ernst genommen werden, weil sie mit korrekten Informationen – etwa einem richtigen Passwort – versehen sind. Oder das Opfer soll in seinem Ansehen geschädigt werden, indem illegale Inhalte auf sein Konto geladen werden.

«Damit kann grosser Schaden angerichtet werden», betont Martin Steiger. Wenn es sich bei diesen Inhalten um Kinder­pornografie handle, müsse der Betroffene mit einer Haus­durchsuchung rechnen. Beim Vorwurf der Kinder­pornografie drohten je nach Konstellation ein Berufs­verbot und eine Landes­verweisung, «was äusserst belastend ist».

Gehe es um Kinder­pornografie, so gelte bei der Polizei, bei den Staats­anwaltschaften und Gerichten Nulltoleranz. Doch es sei möglich, dass solche Inhalte aus Versehen auf dem Smartphone oder dem Computer landeten. «Übrigens auch beim Surfen auf scheinbar legalen Websites. Da setze ich als Verteidiger an. Ich thematisiere den fehlenden Vorsatz. Ob ein Konto tatsächlich gehackt oder geklont wurde, können die auf Cyber-Crime spezialisierten Strafverfolger problemlos feststellen.»

Vom Regen in die Traufe

Wie aufwendig der Fall der 54-Jährigen im Rahmen des Strafbefehl­verfahrens untersucht worden ist und ob die Spezialisten beigezogen wurden, bleibt unklar. Die zuständige Assistenz-Staatsanwältin lässt die Anfragen der Republik unbeantwortet: keine Reaktion, nicht einmal ein no comment. Es ist allerdings hinlänglich bekannt, dass bei Strafbefehlen nicht sonderlich vertieft nachgeforscht wird, um es einmal freundlich auszudrücken.

Wie auch immer: Die Freigesprochene verlässt erleichtert den Gerichtssaal. Sie hat dem Einzel­richter zuvor anvertraut, dass sie fortan die Finger von Facebook lasse und mit ihren Kindern hauptsächlich per Whatsapp kommuniziere.

Und gelangt damit womöglich vom Regen in die Traufe. Aber das hat ihr der Richter nicht gesagt.

Illustration: Till Lauer

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