Auf lange Sicht

Der Mythos der armen Alten

Wie hängt die Ungleichheit mit dem Alter zusammen? Eine Auslegeordnung in zwei Kategorien und fünf Charts.

Von Ursina Kuhn, 10.02.2020

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Der reduzierte Bahnpreis ist nicht der einzige Rabatt, den ältere Menschen erhalten. Viele Kultur­einrichtungen gewähren ebenfalls verbilligten Eintritt. Sie gehen davon aus, dass Pensionierte wenig Geld zur Verfügung haben.

Aber stimmt dieses Bild wirklich? Steigt das Armutsrisiko in der Schweiz tatsächlich mit dem Lebensalter?

Dem gehen wir in diesem Beitrag nach. Der Fokus liegt diesmal, anders als in früheren Beiträgen zur Ungleichheit, auf dem unteren Teil der Verteilung.

Einkommen

Wir starten mit dem Einkommen. Und zwar, um es präzis auszudrücken: mit dem äquivalenz­gewichteten, verfügbaren Haushalts­einkommen. Dieses ist rechnerisch an die Haushaltsgrösse angepasst, nach Abzug von Steuern.

Dieses Einkommen steigt übers Erwerbsalter (abgesehen von einem Knick Anfang 30, wenn viele eine Familie gründen) kontinuierlich an – von durchschnittlich knapp 40’000 Franken pro Jahr für die Gruppe der 21- bis 25-Jährigen auf über 57’000 Franken für die Gruppe der 56- bis 60-Jährigen.

Kurz vor der Pensionierung sind die Haushalts­einkommen also am höchsten. Grund dafür ist der typische Lohnanstieg, der sich mit dem Alter einstellt.

Anstieg im Erwerbsleben

Medianeinkommen nach Altersklasse

212631364146515661667176060’000 FrankenMedianeinkommen: ca. 50’000

Median des verfügbaren Äquivalenz­einkommens. Die Altersklassen sind in 5-Jahres-Schritten angegeben (21 = 21 bis 25 Jahre etc.) und beziehen sich auf die Person mit dem höchsten Einkommen im Haushalt. Quelle: SILC (2015)

Ab 60 Jahren sinkt das mittlere Einkommen, da sich immer mehr Personen vom Arbeitsmarkt zurückziehen. Bei den 66- bis 70-Jährigen unterschreitet es zunächst den Medianwert der Gesamt­bevölkerung, ab 76 Jahren fällt es mit 42’000 Franken schliesslich wieder auf das Niveau der jüngsten Gruppe.

Während bei der Ü-50-Personengruppe entgegen oft geäusserten Klagen noch kein Einbruch zu verzeichnen ist – das Sozialhilfe­risiko ist zwischen 56 und 64 Jahren nach wie vor geringer als bei jüngeren Personen –, markiert das Rentenalter also tatsächlich eine Zäsur. Ab dann sinken die Einkommen.

Materiellen Wohlstand allein anhand des Einkommens zu messen, ist aber problematisch – insbesondere für die Älteren. Denn fast ein Drittel der Rentner beziehen ihr Guthaben in der 2. Säule als Kapital: Sie haben in der Folge zwar ein geringes Einkommen, aber dafür ein stattliches Vermögen.

Für ein besseres Bild müssen wir deshalb auch die Vermögen betrachten.

Vermögen

Ähnlich wie die Einkommen steigen auch die Vermögen im Laufe des Erwerbslebens an. Die Unterschiede zwischen den Altersgruppen sind jedoch viel ausgeprägter: Zwischen Minimum und Maximum liegt ein Faktor von 15 – zehnmal mehr als zwischen tiefsten und höchsten Einkommen.

Bis 75 steigt das Vermögen

Medianvermögen nach Altersklasse

2126313641465156616671760300’000 FrankenMedianvermögen: ca. 80’000

Vermögen pro Kopf inkl. Immobilien, Bankkonten, Finanzanlagen, Wertgegenständen und Guthaben der 3. Säule. Die Altersklassen sind in 5-Jahres-Schritten angegeben (21 = 21 bis 25 Jahre etc.) und beziehen sich auf die Person mit dem höchsten Einkommen im Haushalt. Quelle: SILC (2015), experimentelle Vermögensdaten vom 7. Juni 2018

Besonders vom 50. Lebensjahr bis zur Pensionierung nimmt das Vermögen sprunghaft zu. Verschiedene Gründe sind dafür verantwortlich:

  1. Erbschaften sind in diesem Alter am häufigsten.

  2. Viele lassen sich ihre Pensionskassen­guthaben auszahlen.

  3. In dieser Altersspanne kann am meisten gespart werden, da die Einkommen am höchsten sind und die Ausgaben für Kinder abnehmen.

Doch nicht nur kurz vor der Pensionierung, sondern auch in den 5 Jahren danach geben gemäss dem Schweizer Haushalt-Panel fast die Hälfte der Personen an, dass sie Geld zur Seite legen können, während nur etwa jeder Fünfte von seinem Vermögen zehrt. Das mittlere Vermögen steigt also auch nach der Pensionierung an – es nimmt sogar bis etwa 75 Jahre weiter zu.

Dieses Resultat ist bemerkenswert, weil es der üblichen Lebenszyklus­these widerspricht, nach der das Vermögen in der Erwerbsphase angespart und nach der Pensionierung aufgebraucht wird. Diese These bewahrheitet sich zum Beispiel in Deutschland. In der Schweiz hingegen häufen viele Personen mehr Vermögen an, als sie bis an ihr Lebensende brauchen. Wenn wir die Pensionskassen­guthaben zum Vermögen rechnen, ist der Reichtum in der Schweiz demnach besonders stark auf ältere Menschen konzentriert.

Allerdings besitzen nicht alle Seniorinnen ein grosses Vermögen. Deshalb müssen wir uns auch mit der Verteilung des Wohlstands beschäftigen.

Ungleichheit

Als Indikator für die Ungleichheit verwenden wir eine Zahl, die den Fokus auf den unteren Teil der Verteilung richtet: die relative Armutsquote.

Sie ist ein Mass für die Armutsgefährdung und je nach Kategorie unterschiedlich definiert:

  • Beim Einkommen werden alle Haushalte, die weniger als 60 Prozent des Medians verdienen, als armutsgefährdet klassiert. Dieses Vorgehen ist in den Sozialwissenschaften und in der öffentlichen Statistik weitverbreitet. 2015 lag die so berechnete Armutsgrenze bei gut 30’000 Franken pro Jahr und Person im Haushalt.

  • Beim Vermögen gibt es keinen etablierten Standard. Wir betrachten hier Haushalte als arm, wenn ihr Erspartes nicht reicht, um ein halbes Jahr über der Einkommens-Armutsgrenze zu überleben. Das heisst, Haushalte mit weniger als 15’000 Franken mobilem Vermögen pro Person gelten als arm.

Zunächst zum ersten Kriterium, der Einkommens­armut. Welcher Anteil der Bevölkerung je nach Alter davon betroffen ist, zeigt die folgende Abbildung:

Einkommensarmut steigt im Alter

Armutsquote beim Einkommen nach Altersklasse

21-3031-4041-5051-6061-7071+24 %050 % Gesamtschnitt: ca. 15 %

Lesehilfe: Bei 24 Prozent der über 71-Jährigen liegt das Einkommen unter 30’000 Franken pro Jahr. Quelle: SILC (2015)

Man sieht, dass die Einkommens-Armutsquote bei den Älteren am höchsten ist. Die über 70-Jährigen sind mit 24 Prozent also am häufigsten von Armut gefährdet. Am geringsten ist die relative Einkommens­armut kurz vor dem Pensionsalter, zwischen 51 und 60 Jahren, mit einer Quote von 10 Prozent.

Genau umgekehrt ist es beim Vermögen. Hier nimmt die Armutsquote mit zunehmendem Alter ab: Während bei den Jüngsten noch etwa die Hälfte unter die Grenze fällt, ist es bei den über 70-Jährigen weniger als ein Viertel.

Weniger Vermögensarmut im Alter

Armutsquote beim Vermögen nach Altersklasse

21-3031-4041-5051-6061-7071+23 %050 % Gesamtschnitt: ca. 44 %

Lesehilfe: 23 Prozent der über 71-Jährigen haben ein liquides Vermögen von maximal 15’000 Franken. Vermögen pro Kopf (Bankkonten, Finanzanlagen, Wertgegenstände). Quelle: SILC (2015), experimentelle Vermögensdaten vom 7. Juni 2018. Der Gesamtschnitt bezieht hier auch die unter 21-Jährigen mit ein.

Je nachdem, ob die Armut also anhand von Einkommen oder Vermögen gemessen wird, erscheinen Jüngere oder Ältere als besonders betroffen.

Was tun?

Ein naheliegender Ansatz wird in der Armuts­forschung verfolgt: Haushalte werden dann als arm bezeichnet, wenn sie sowohl beim Einkommen unter der Armutsgrenze liegen (weniger als 30’000 Franken), als auch weniger als 15’000 Franken liquides Vermögen pro Person besitzen.

Wie die so kombinierte Armutsquote aussieht, zeigt die folgende Abbildung:

Geringstes Risiko bei 65 Jahren

Kombinierte Armutsquote nach Altersklasse

21-3031-4041-5051-6061-7071+9 %020 % Gesamtschnitt: ca. 10 %

Vermögen pro Kopf (Bankkonten, Finanzanlagen, Wertgegenstände). Quelle: SILC (2015), experimentelle Vermögensdaten vom 7. Juni 2018.

Zwei Veränderungen fallen auf:

  1. Der Gesamtschnitt ist tiefer: Galten über alle Altersgruppen hinweg noch 15 Prozent als einkommens- und 44 Prozent als vermögensarm, so liegt die kombinierte Armutsquote insgesamt noch bei rund 10 Prozent. Das ist statistisch gesehen logisch, weil neu zwei Kriterien statt einem gelten.

  2. Der Altersverlauf verändert sich: Nicht mehr die 51- bis 60-Jährigen, sondern die 61- bis 70-Jährigen weisen nun die niedrigste Armutsquote auf. Personen bis 40 Jahre sind im Vergleich zu dieser Gruppe doppelt so stark armutsgefährdet. Bei den über 70-Jährigen liegt die Armutsquote dagegen ziemlich genau im gesamten Bevölkerungsschnitt.

Und damit zurück zur Eingangsfrage: Sind Senioren einem höheren Armutsrisiko ausgesetzt?

Fazit

Die Analyse hat drei Erkenntnisse zutage gefördert:

  • Das Vermögen in der Schweiz ist bei älteren Altersgruppen konzentriert und steigt auch nach dem Rentenalter weiter an.

  • Ein Problem für Ältere ist höchstens die Einkommens­armut – von der Vermögensarmut sind die Jüngeren dagegen viel mehr betroffen.

  • Viele ältere Personen sind armutsgefährdet. Insgesamt sind aber Personen im Rentenalter keinem überdurchschnittlichen Armutsrisiko ausgesetzt.

Dies kontrastiert mit der Idee der «armen Alten», die vielerorts vorherrscht. Und es wirft Fragen im Hinblick auf anstehende Rentenreformen auf: Eine Erhöhung von Renten nach dem Giesskannen­prinzip könnte etwa dazu führen, dass Ressourcen von unten nach oben umverteilt werden – von ärmeren Erwerbstätigen zu verhältnismässig reicheren Rentner­haushalten.

Gleichzeitig darf man nicht vergessen, dass Armut im Alter besonders schwerwiegend ist. Während Armut bei Jüngeren – und speziell bei Studierenden – oft vorübergehend ist, bestehen nach dem Rentenalter kaum noch Möglichkeiten, die materielle Situation zu verbessern. Deshalb ist bei der Rentenpolitik auch künftig wichtig, auf die soziale Abfederung zu achten.

Die Daten

Die Daten für den gesamten Beitrag stammen aus der SILC-Befragung von 2015 des BFS, wobei experimentelle Vermögensdaten vom 7. Juni 2018 genutzt wurden. Die Stichprobe umfasst 7468 Haushalte. Im verfügbaren Einkommen sind fiktive Mieten von Wohneigentümern (Nutzungswert des Objekts nach Abzug der effektiv bezahlten Wohnkosten) enthalten. Für die Messung der Vermögens­armut werden Guthaben der 3. Säule ausgeschlossen, da sie (von aktiven Erwerbstätigen) nicht zur Deckung von Ausgaben verwendet werden können. Für die Armutsquote werden zusätzlich Immobilien ausgeschlossen, da fiktive Mieten, die daraus entstehen, bereits im Haushaltseinkommen enthalten sind.

Ursina Kuhn

Ursina Kuhn ist Forscherin am Kompetenz­zentrum Sozial­wissenschaften Fors. Nach einem Doktorat in Politik­wissenschaft hat sie sich in verschiedenen Projekten mit der Messung von Einkommen und Vermögen beschäftigt und dafür zahlreiche Daten­quellen ausgewertet. Seit 2006 ist sie Teil des Teams des Schweizer Haushalt-Panels, wo sie Daten erhebt und für Forscher aufbereitet.

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