Bilder, an die wir uns gewöhnen müssen. Die Aufnahmen zu diesem Beitrag entstammen einer Serie, die nach einer Feuersbrunst in Santa Rosa, Kalifornien, entstanden ist (Oktober 2017). Jim Goldberg/Magnum Photos/Keystone

Nach dem Untergang der Welt

Was bedeutet die Klimakrise für unser Denken? Können wir sie überhaupt denken? Auf der Suche nach Antworten beim schillernden Philosophen Timothy Morton.

Ein Essay von Daniel Binswanger, 08.02.2020

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Unser Weltbild wird geprägt von Büchern, die wir lesen, Medien, die wir konsumieren – dem bestehenden Wissen, soweit es für uns zugänglich ist. Wichtig ist aber nicht nur artikuliertes Wissen, sondern auch die konkrete Alltags­erfahrung: Wahrnehmungen, Gewohnheiten, Gespräche. Zum Beispiel ein Schwatz über das Wetter, vielleicht mit einem Unbekannten an der Bushaltestelle.

Gibt es eine fundamentalere Form der Alltags­kommunikation als Gespräche über das Wetter? Wir führen sie mit Fremden, weil man nichts falsch machen kann. Mit ständigen Begleitern, weil es immer wieder ändert. Mit anstrengenden Bekannten, weil es das vielleicht einzige Thema darstellt, das wir mit ihnen teilen. Das Wetter ist so etwas wie die diffuse Grundierung, der zuverlässige Hinter­grund, der unhinterfragte Horizont von allem, was wir täglich tun.

Leider aber gibt es ein Problem: Dieser Hinter­grund ist längst nicht mehr zuverlässig. Und unhinterfragt schon gar nicht.

Was, wenn der Unbekannte an der Bushaltestelle zu mir «Heiss heute!» sagt? Meint er die Hitze? Oder spielt er auf die Klima­erwärmung an? Lebt er vielleicht so hinter dem Mond, dass er an Klima­erwärmung in diesem Zusammen­hang gar nicht denkt? Redet er tatsächlich über die Welt, so wie sie ist, oder testet er mich? Lässt er Empörung anklingen – oder redet er ganz einfach über das Wetter?

Die grosse Transformation

Der Klimawandel ist zu einem Hyper­politikum geworden. Nicht nur deshalb, weil er die Agenda bestimmt, weil eine internationale Konferenz die nächste jagt, weil die Schlag­zeilen über Temperatur­kurven, Emissions­entwicklungen und Hitzerekorde nicht mehr abreissen. Und auch nicht «nur» deshalb, weil die Katastrophen­szenarien sich konkretisieren. Der Klimawandel ändert etwas Fundamentales an unserem Weltverhältnis: Ein alles umfassendes Naturphänomen erscheint nicht mehr wie eine unverbrüchliche Gegebenheit und unverfügbare Rahmen­bedingung unseres Lebens. Das exakte Gegenteil trifft zu: Es wird von uns produziert.

Menschliche Gesellschaften haben über die Jahrtausende gelernt, sich mit einer Natur zu arrangieren, die als zerstörerische Macht über sie hereinbrach – mit Fluten, Bränden, Vulkan­ausbrüchen –, die sie aber auch zu domestizieren, fruchtbar zu machen, schliesslich auszubeuten vermochten. Natur wurde als Urgewalt gefürchtet und mit religiösem Zauber beschworen – oder als unbefleckte Idylle idealisiert und ästhetisch gefeiert.

Doch wie auch immer man das Verhältnis dachte: Die Sphären waren getrennt. Auf der einen Seite die menschliche Zivilisation, auf der anderen Seite die natürliche Biosphäre. Diese Grenz­ziehung ist heute mehr als fragwürdig geworden. Das zeigen nicht nur Klima­tabellen und wissenschaftliche Studien, sondern Veränderungen, die unseren Alltags­horizont verschieben.

Ökologie ist eine epochale Herausforderung für unsere philosophische Weltsicht. Älteste Dualismen – von Zivilisation und Natur, von Menschen und Tier, von Geist und Biologie – kommen auf unheimliche Weise ins Rutschen. Haben wir überhaupt die Mittel, um das, was diesem Globus gerade widerfährt, weltanschaulich auf den Begriff zu bringen? Fällt es der Menschheit deshalb so fürchterlich schwer, auf die Klimakrise mit Entschlossenheit zu reagieren, weil ihr überliefertes Realitäts­verständnis zu den neuen Verhältnissen nicht mehr richtig passen will? Weil wir die verzweifelten Gefangenen bleiben von überkommenen Reflexen?

Es gibt eine ganze Reihe neuer «Ökophilosophien» und insbesondere natürlich ökologischer Ethiken, die sich der Klima­gerechtigkeit, dem Arten­schwund und der Umwelt­verantwortung widmen. Aber was hier eigentlich auf dem Spiel steht, ist nicht nur die Frage von Gut und Böse. Es geht nicht nur um Umwelt­ethik, politische Strategien und Anleitungen zum eigenen guten Gewissen – selbst wenn diese Fragen schwer genug zu beantworten und an Dringlichkeit kaum zu überbieten sind. Die Umweltkrise berührt auch unsere allgemeine Welt­anschauung, nicht nur unsere Moral­vorstellungen, sondern unser gesamtes Verständnis der Realität.

Der Prophet des Anthropozän

Eine der wohl profundesten und jedenfalls faszinierendsten heutigen Öko-Philosophien ist diejenige von Timothy Morton – auch wenn er in einem fast schon karikaturalen Sinn ein «Zeitgeist­philosoph» ist. Der 1968 in London geborene Morton ist der Sohn zweier Konzert­violinisten und Links­aktivisten. Er promovierte in Oxford über den Vegetarismus von Mary und Percy Shelley, machte nach eigenem Bekunden während seines Studiums gründliche LSD-Experimente und schrieb einen Song für ein psychedelisches Trip-Hop-Album, das es auf Platz 4 der englischen Charts schaffte. Er ist befreundet mit Björk, mit der er eine ausführliche, zu Teilen publizierte Korrespondenz führt. Seit Jahren ist er ein wichtiger Kollaborations­partner für den Kunststar Olafur Eliasson (für die aktuelle Eliasson-Ausstellung im Kunsthaus Zürich, «Symbiotic Seeing», steuerte er einen Katalog­beitrag bei). Der Kurator Hans Ulrich Obrist zählt seine Bücher zu den «überragendsten Werken» unserer Zeit, der «Guardian» nennt Morton den «Philosophenpropheten des Anthropozäns». Und auch in rein akademischen Rankings figuriert er ganz weit vorn als einer der einfluss­reichsten Philosophen der Gegenwart.

Philosoph mit starkem Hang zur Popkultur: Timothy Morton hat seinen eigenen, inspirierenden Blick auf die Welt. Max Burkhalter/Guardian/eyevine/Dukas

Im deutschen Sprachraum war sein Name bis anhin weniger präsent. Das mag auch daran liegen, dass bis vor kurzem nur ein Werk von Morton übersetzt war, «Ökologie ohne Natur», das im Original schon 2007 erschien, auf Deutsch aber erst 2016 herauskam. Jetzt allerdings hat Matthes & Seitz auch «Ökologisch sein» herausgebracht, einen Text, der auf Englisch 2018 publiziert wurde. Eine wichtige Rezeptions­lücke beginnt sich zu schliessen.

Was hat es auf sich mit dem Anthropozän, als dessen Prophet Timothy Morton betrachtet wird? Den Begriff geprägt hat nicht er selber, aber wenn man heute kaum mehr einen Ausstellungs­katalog aufschlagen kann, ohne dass er als Grund­kategorie der Kunst- und Welt­auslegung auftaucht, ist das zu guten Teilen sein Verdienst. Anthropozän ist ohne Zweifel das intellektuelle Schlag­wort unserer Epoche. Warum schiebt es sich ins Zentrum der theoretischen Diskurse? Und vor allem: Was trifft es von unserem Lebensgefühl?

Zunächst ist das Anthropozän eine Begriffs­innovation der Geologie, das heisst, um genauer zu sein, der Erdzeitalter­geschichte beziehungs­weise der Geochronologie. Der Atmosphären­forscher und Nobelpreis­träger Paul Crutzen und der Biologe Eugene Stoermer haben ihn im Jahr 2000 lanciert, Crutzen hat ihm zwei Jahre später in einem berühmten Artikel für «Nature» seine gültige Gestalt gegeben. Er will besagen, dass das Holozän, also die Erdalter­epoche, die um 10’000 vor Christus die letzte Eiszeit beendete, die Agrar­revolution ermöglichte, zivilisations­geschichtlich zu den ersten Hoch­kulturen hinführte und nach konventioneller Lesart bis heute andauert, in jüngster Zeit an ihr Ende gekommen ist. Die menschlichen Eingriffe in die Biosphäre des Planeten sind so massiv geworden, dass sie ein neues Erdzeitalter einläuten.

Zum Beispiel tauchen in den Erd­ablagerungen, die sich seit den 1950er-Jahren gebildet haben, Plutonium­isotope auf, die durch Atombomben­tests erzeugt worden sind. Eine rein menschen­gemachte Veränderung der Geologie wird aufgrund der rund 25’000 Jahre dauernden Halbwerts­zeit dieser Isotope über einen gewaltigen Zeitraum bestehen bleiben. Noch viel wichtiger: Der sprunghafte Anstieg des Kohlen­dioxids in der Atmosphäre führt zu Veränderungen des Klimas, die sich ebenfalls im Erdzeitalter­massstab, das heisst über Tausende von Jahren, bemerkbar machen werden. Das menschliche Handeln manifestiert sich in Dimensionen, die nichts mehr zu tun haben mit Zivilisations­geschichte. Wir greifen ein in die Zeithorizonte der Geologie. Ins Erdzeitalter.

Morton beschreibt das Anthropozän deshalb als «einen traumatischen Verlust unseres Koordinaten­systems». Können wir in solch planetarischen Zeit­dimensionen die Dinge überhaupt vernünftig einordnen, einen vernünftigen Begriff von den Folgen unseres Handelns entwickeln, unsere Verantwortung ermessen? Es ist schwieriger, als man glauben könnte.

Das Anthropozän wirft eine Reihe von philosophischen Fragen auf. Zunächst unterläuft es die Unter­scheidung von Zivilisation und Natur. Klima­erwärmung bedeutet: Eines der wichtigsten und den ganzen Globus umfassenden Natur­phänomene ist menschen­gemacht. Die Natur ist nicht mehr jenes Gegenüber, das wir schützen, pflegen, respektieren sollen – oder was immer uns das ökologische Gewissen aufträgt. Die ökologische Ikone der Siebziger­jahre war der blaue Planet – das Raumschiff Erde, das bergend, verletzlich und mit quasireligiöser Aura die Menschheit durch den Weltraum trägt. Heute macht dieses Bild nicht mehr richtig Sinn. Wir sind auf diesem Raumschiff viel mehr als Passagiere, wir sind die Heizer, wir stehen auf der Brücke. Die Natur sind wir – mit der unangenehmen Folge, dass dieses wir, der Mensch, der eingewoben ist in seine Biosphäre, ebenfalls einen ungewissen Status bekommt.

Ökologie ohne Natur

Das erste wichtige Buch von Morton hiess folgerichtig «Ökologie ohne Natur». Es gibt kein «Zurück zur Natur» mehr, wie es etwa Rousseau zu Beginn der Moderne als Rezept der allgemeinen Menschheits­beglückung noch fordern konnte. Die Vorstellung, dass wir die Natur ganz einfach schonen müssen, dass wir sie aus gebotener Distanz mit kontemplativer Ruhe nur zu betrachten brauchen, dass sie ein intaktes Refugium der Wahrheit, der Harmonie, der «Natürlichkeit» bildet – diese Vorstellung ist sinnlos geworden.

Im Gegenteil, die Kultivierung dieser Haltung ist sogar schädlich: «Zu den Vorstellungen, die eine Politik, Ethik, Philosophie und Kunst der Ökologie wirklich verhindern, gehört die Natur selbst», schreibt Morton. Natur ist eine klebrige Kategorie. Sie ist umfassend und absolut, wie vormals nur der Gottes­begriff. Zugleich aber erscheint sie unbegrenzt wandelbar. Sie lässt sich auf beliebige Weise mit Werte­vorstellungen aufladen, was sich darin zeigt, dass «unnatürlich» immer disqualifizierend und eine der tödlichsten Waffen im ideologischen Arsenal der Moderne ist. «Natur schwankt zwischen dem Göttlichen und dem Materiellen», sagt Morton. «Wenn aber Natur nur ein anderes Wort für eine höchste Autorität ist, warum sie nicht einfach Gott nennen?» Und wenn Ökologie etwas anderes sein soll als eine innerweltliche Religion, die uns von einem verlorenen Eden erzählt und mit der kommenden Apokalypse droht, wie sollen wir den Menschen und die Umwelt dann denken?

Jim Goldberg/Magnum Photos/Keystone

Mit dem Anthropozän verliert der Mensch seinen Platz im Zentrum der Welt. Die Natur sind zu einem ungewissen und unbeherrschbaren Teil wir selber – auch wenn das unheimlich erscheinen mag. Oder wie Morton in «Dark Ecology» (2016) schreibt, seinem bisher wohl wichtigsten Buch: «Ich selber bin der Verbrecher. Und ich entdecke das dank der wissenschaftlichen Forensik. Es ist wie in einem klassischen Film Noir: Ich bin der Detektiv und der Verbrecher. Ich bin eine Person. Aber ich bin auch Teil von etwas, das nun eine geophysische Macht im planetarischen Massstab ist.» Wir sind aus romantischen Träumen aufgewacht: Plötzlich gehen die Schein­werfer an – und wir stehen da mit der Tatwaffe in der Hand.

Ausbruch aus Mesopotamien

Wann beginnt das Anthropozän? Es gibt dazu verschiedene Hypothesen. Am weitesten verbreitet ist die Antwort: 1945. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehen in den industrialisierten Ländern die CO2-Emissionen steil nach oben. Der Konsum, der Verkehr, die Produktion explodieren: Die Grundlagen für die Klima­erwärmung werden gelegt. Es ist der dramatische Emissions­wendepunkt, der abgebildet wird im sogenannten Hockey­schläger-Diagramm (hockey stick graph), die Al Gore mit dem Dokumentar­film «An Inconvenient Truth» popularisiert hat.

Andere Theoretiker datieren den Beginn des Anthropozäns auf das Ende des 18. Jahr­hunderts, weil mit der Erfindung der Dampf­maschine die Voraussetzungen für Mechanisierung und Industrialisierung geschaffen werden, das Übel gewisser­massen also hier seine Wurzeln hat.

Morton jedoch vertritt einen viel radikaleren Ansatz: Gemäss seiner Periodisierung begann das Anthropozän bereits mit dem Holozän selber, will sagen mit der Agrar­revolution vor 12’000 Jahren. Die Klima­katastrophe hat demnach ihre eigentlichen Wurzeln im alten Mesopotamien. Es ist die vermutlich am häufigsten wiederkehrende Lieblings­formel des Philosophen: «wir Mesopotamier».

Das erscheint auf den ersten Blick wie eine ziemlich exzentrische Ansage. Doch Morton entwickelt eine originelle anthropologische These, indem er zwei getrennte Denkansätze kombiniert: die Evolutions­biologie von Jared Diamond und eine von heideggerscher Niedergangs­mystik angehauchte Geschichts­philosophie.

Diamond ist Ende der Neunziger­jahre zu enormem Einfluss gekommen, indem er die Verlust­rechnung der Agrar- oder, wie man auch sagt, neolithischen Revolution aufgemacht hat. Gut 10’000 vor Christus ist der Homo sapiens sesshaft geworden und vom Jäger und Sammler zum Acker­bauern und Züchter geworden. Er erhöhte damit seine Ernährungs- und Überlebens­sicherheit, legte die Grund­lagen für grössere Siedlungen und Sozial­verbände, schuf die Voraussetzungen für die Entstehung erster Hochkulturen.

Aber er bezahlte für diese Errungenschaften nachweislich einen hohen Preis: Die Ernährung des neolithischen Bauern war wesentlich unausgewogener als die der Jäger und Sammler. Die durchschnittliche Körper­grösse ging zurück, die durchschnittliche Lebens­erwartung sank. Zudem entwickelten sich erst mit der Sesshaftigkeit auch differenzierte soziale Hierarchien. Die voragrarisch-nomadischen Sozial­verbände waren egalitärer und freier. Die Agrar­revolution macht die Menschheit zwar überlebens- und entwicklungs­fähiger, aber sie etablierte autoritäre Macht­strukturen und entriss den Homo sapiens seinem natürlichen Habitat.

Morton analysiert nun diese Entwicklung mit dem Instrumentarium der philosophischen Anthropologie: Was bedeutet es für den Weltbezug des Menschen, dass er seiner Überlebens­fähigkeit alle anderen Aspirationen unterzuordnen beginnt und ein ganzes kulturelles System entwickelt, das Morton «Agrilogistik» nennt?

Das Kernmoment dieser Umwälzung ist gemäss Morton die Spaltung der Welt in Natur und Zivilisation. Der Mensch zieht Mauern hoch um seine Siedlungen. Sein mächtigster Lebens­antrieb wird die Angst. Fast noch wichtiger: Er errichtet eine neue Hierarchie der Lebewesen. Indem er gewisse Tierarten domestiziert und zur Nutztier­haltung übergeht, führt er eine unüberwindbare Abgrenzung ein zwischen den verschiedenen Gattungen – nicht nur zwischen den Wildtieren der Natur und den Zucht­tieren seiner Agrarwirtschaft, sondern auch zwischen sich selber als biologischer Spezies und allen anderen Säuge­tieren: «Die Spaltung von Natur und Kultur, auf der wir immer noch bestehen, ist eigentlich das Resultat der Spaltung zwischen Natur und Agrikultur.»

Es ist letztlich ein 12’000 Jahre altes Mindset, das durch die Klimakrise in Frage gestellt wird. Oder das ist jedenfalls, was geschehen müsste: «Ein Ziel von dark ecology ist es, den agrilogistischen Raum zum Sprechen zu bringen und so eine Vorstellung zu ermöglichen, wie wir Programme, die eine andere Sprache sprechen, produzieren können.» Wir müssen wieder lernen, auf gewisser­massen vorneolithische Weise mit den anderen Lebe­wesen dieses Planeten zu koexistieren. Und das erfordert eine Transformation unserer archaischsten kultur­geschichtlichen Instinkte.

Übermenschliche Zeiträume

Hier kommt Mortons geschichts­philosophisches Programm nun definitiv an eine Grenze. Wir sollen unser Menschen­bild bestimmen lassen von erdgeschichtlichen Periodisierungen? Letztlich ist Realität nie etwas anderes als ein Skalierungs­effekt: Aus der Sicht eines Kindes mag die Spanne eines Menschen­lebens so lang sein, dass es beinahe im Gefühl der Unsterblichkeit lebt. In der Perspektive der Geologie hingegen ist es nicht einmal ein Wimpern­schlag. «Wir leben simultan in mehr Zeitgrössen­ordnungen, als wir verarbeiten können», schreibt Morton. Und das bringt den traditionellen Anthropozentrismus in arge Bedrängnis.

Es ist die sehr lange, die geologische Sicht, die Mortons Philosophie bestimmt. Das stellt eine geistige Wende dar, deren Tragweite kaum überschätzt werden kann. Auch in diesem Punkt erweist er sich mehr als begnadeter Kompilator denn als origineller Erfinder. Morton ordnet sich mit diesem Aspekt seines Werkes in den «spekulativen Realismus» ein, eine Philosophie­schule, die kurz nach der Jahrtausend­wende entstand und in kurzer Zeit sehr einflussreich geworden ist.

Gewissermassen das Gründungs­dokument des spekulativen Realismus ist «Nach der Endlichkeit», das 2006 publizierte, heute in der akademischen Welt intensiv diskutierte Werk des französischen Philosophen Quentin Meillassoux. Es besteht im Wesentlichen in einer Kritik einiger fundamentaler Grundsätze der Philosophie von Kant. Kant hat postuliert, dass die objektiven Natur­gesetze nicht auf der Verfasstheit der Wirklichkeit selber beruhen, sondern ihre Basis in den notwendigen Funktions­grundlagen des menschlichen Verstandes und der menschlichen Vernunft haben. Deshalb wird Philosophie zur «Kritik der Vernunft».

Jim Goldberg/Magnum Photos/Keystone

Die Realität, so, wie sie wirklich ist, also jenseits der menschlichen Wahrnehmung, können wir gemäss Kant hingegen gar nicht kennen. Immerhin ist es aber eine Gewissheit, dass es sie gibt. Kant ist kein Skeptiker, es gibt da draussen eine Wirklichkeit in einem ausgezeichneten Sinn, nur können wir über dieses «X», das so genannte «Ding an sich», sehr wenig sagen. Gemäss Meillassoux bleibt die moderne Philosophie seit Kant in einem fatalen «Korrelationismus» stecken: Die Welt da draussen ist uns nur zugänglich, sofern sie uns gegeben ist. Wir können sie nur als «Korrelat» unseres Geistes oder unserer Sprache erfassen. Davon, was da draussen wirklich ist, sollen wir hingegen keine Ahnung haben.

Gegen diesen Ansatz bringt nun Meillassoux die Erdgeschichte in Stellung. Es kann nicht sein, so argumentiert er, dass es objektive Erfahrung nur «für uns» gibt, wenn wir wissen, dass die Erde schon vor Millionen von Jahren existierte, lange bevor überhaupt irgendein menschlicher Beobachter sie bevölkert hat. «Was ist vor 4,56 Milliarden Jahren geschehen? Hat die Entstehung des Planeten Erde damals stattgefunden? Ja oder nein?» So führt Meillassoux seine Kant-Kritik ein. Auch für ihn stolpert unser auf den Menschen zentriertes Weltbild über die Zeit­dimension der Geologie.

Meillassoux interessiert sich zwar für Metaphysik und nicht für Ökologie. Ihm geht es um die «letzten Dinge», den Beweis, dass wir zur Realität als Absolutum, zur Realität jenseits ihrer Spiegelung im menschlichen Geist einen Zugang haben. Aber Morton nimmt seinen Impuls nicht zufällig auf.

Die ökologische Krise und die Dämmerung der mesopotamischen Agrilogistik stellen dieselbe Forderung: Wir müssen erneut das «Draussen» denken. Es reicht nicht mehr, die Welt so aufzufassen, wie sie «für uns» verfügbar, nutzbar und zugänglich ist. Das anthropozentrische Weltbild kommt mit der Klimakrise an eine definitive Grenze. Denn die Mauern, welche die Natur von der Zivilisation und den Menschen von seiner Biosphäre trennen, sind schon lange eingerissen. Wir teilen diesen Globus mit anderen Gattungen, mit denen uns viel mehr verbindet, als wir wahrhaben wollen – und für deren Massen­ausrottung wir verantwortlich sind. Wir bekommen es mit Dringlichkeiten zu tun, die von zu weit herkommen und zu weit in die Zukunft reichen, als dass wir sie in einer traditionellen, auf den Menschen zentrierten Optik erfassen könnten.

Hyperobjekte

Aber wie sähe die richtige Optik aus? Was wäre die Weltsicht der von Morton angestrebten «dunklen Ökologie»? Das Konzept, das der Philosoph hier ins Zentrum rückt, ist das Hyper­objekt. Die Klima­erwärmung, so sagt er, ist ein Hyper­objekt, also «ein Ding, das riesig und, wie man sagt, weit verteilt über Raum und Zeit ist – das über viele Jahrzehnte oder Jahrhunderte (oder auch Jahrtausende) stattfindet und das sich rund um den Globus ereignet».

Ein Hyperobjekt ist ein Phänomen, das keinerlei anschauliche Präsenz hat, weil seine Dimensionen unseren Erfahrungs­horizont notwendiger­weise sprengen. Wir können nicht darauf zeigen. Es ist ein Gegenstand, der sich durch eine manifeste Ungreifbarkeit auszeichnet – und dadurch eine Qualität deutlich werden lässt, die im Grunde nicht nur die «weit verteilten», sondern alle Objekte auszeichnet.

Wie können wir überhaupt die Dinge, aus denen sich unsere Wirklichkeit zusammen­setzt, erfassen? Wir mögen sie zwar quantitativ, statistisch präzise beschreiben, aber als konkrete Phänomene bleiben sie ungreifbar. «Wir leben in einem modernen, wissenschaftlichen Zeitalter, das bestimmt wird vom radikalen Graben zwischen Daten und Dingen», sagt Morton. Daten – und seien es Big Data – sind immer interpretations­bedürftig und kontext­spezifisch. Gegenstände hingegen stellen eine Mannigfaltigkeit dar, können unter einer potenziell unendlichen Zahl von Gesichts­punkten betrachtet werden, stehen in potenziell unendlichen Beziehungen zu anderen Objekten. Und dieser «radikale Graben zwischen Daten und Dingen» wird desto grösser, je mehr Daten über diese Welt wir haben. Er ist verantwortlich für die «geisterhafte Fremdheit, die unser Dasein heimsucht». Und er ist nicht ganz einfach auszuhalten.

Das Unheimliche dieser Fremdheit ist es nach Morton, das aufbricht in den Kontroversen zwischen Klima­leugnern und Umwelt­aktivisten. Was die Klima­leugner nicht ertragen können, ist nicht die Drohung der Apokalypse, sondern der schillernde Status des Hyper­objekts – weshalb sie einfach behaupten, es existiere nicht. «Klima­leugnen ist im Grunde eine verschobene Ablehnung des modernen Denkens», sagt Morton.

Die Umweltaktivisten hingegen türmen Daten auf, sichern sich mit möglichst vielen Statistiken ab, verwandeln jede Diskussion, wie Morton maliziös bemerkt, in eine einzige «Daten-Müllhalde». Auch sie versuchen den Graben zwischen Daten und Dingen zuzuschütten. Dabei käme es darauf an, mit dem, was wir wissen, den richtigen Umgang zu finden, unser anthropozentrisches Referenz­system zu überwinden, sich zu öffnen für das Draussen, für das Gewebe der planetarischen Biosphäre.

Solidarität nach dem Ende der Welt

Ökologisches Denken muss seinen Frieden damit machen, dass unsere Welt voller Gräben und Lücken ist. Das ist die metaphysische Lehre, die durch die Klima­katastrophe unabweisbar wird. Oder, wie Morton es sagen würde: Wir haben keine Welt mehr.

«The End of the World Has Already Happened»: Das ist der Titel einer BBC-Serie von Morton, die diesen Januar ausgestrahlt wurde. Natürlich stellt er nicht die Behauptung auf, dass die Apokalypse stattgefunden habe. Gemeint ist zum einen, dass wir tatsächlich nicht mehr vor, sondern mitten in der Katastrophe stehen. Diese Aussage mag man (mit sehr viel Optimismus) relativieren, wenn man sie auf die Klima­erwärmung bezieht. Sie scheint jedoch kaum mehr bestreitbar im Hinblick auf das aktuelle Massen­aussterben der Tier- und Pflanzen­arten (das sechste der Evolutions­geschichte), das bereits weit fortgeschritten ist.

Zum anderen soll das «Ende der Welt» besagen, dass «Welt» als Totalität unserer Erfahrungen und der uns gegebenen Gegenstände nicht mehr denkbar ist. «Das Ganze ist das Unwahre», sagte schon Theodor W. Adorno (der in Mortons frühen Schriften sehr präsent ist). Die Vorstellung der Totalität ist gewisser­massen implodiert, eingebrochen im Graben zwischen Ding und Phänomen, zerschellt an der Ungreifbarkeit des Hyper­objekts, sagt Morton: «Es sieht so aus, als hätten wir eine Grenze überschritten, welche das Denken (auch das atheistische Denken) im Rahmen der religiösen Dogmen des Neolithikums einschloss. Die Vorstellung von riesigen, alles umfassenden, tyrannischen Wesenheiten, die grösser sind als wir winzigen, bedeutungs­losen Fliegen, die sie benutzen zu ihrer Belustigung, kommt an ein Ende.»

Jim Goldberg/Magnum Photos/Keystone

Dem genuin ökologischen Denken geht es um die Umwelt insgesamt – aber es kann nicht mehr aufs Ganze gehen. Sonst tut es nichts anderes, als dass es eine quasireligiöse Natur­vorstellung fortschreibt, «mesopotamische» Kategorien aufrechterhält. So, wie es keine unschuldigen Gespräche über das Wetter mehr gibt, keinen gesicherten Horizont unserer Welt­erfahrung, so gibt es auch keine ganzheitliche Welt. Ökologie ist das exakte Gegenteil von Ganzheitlichkeit.

Aber welches genuine Verhältnis unterhalten wir zu unserer Umwelt nach dem «Untergang der Welt»? «Wir haben die Totalität verloren, aber wir haben Intimität gewonnen», sagt Morton. Mit diesem Bonmot beschreibt er den Kern seines ökologischen Welt­verhältnisses. Es geht darum, dass die Menschen sich öffnen können, sich in ein Verhältnis setzen zu allen Gattungs­wesen in ihrer Biosphäre – was von pseudoreligiösen Kategorisierungen verunmöglicht wird. Das Ganze ist vielleicht nicht das Unwahre, aber jedenfalls das Armselige.

Morton macht diesen Gedanken zum Grundprinzip seiner Philosophie: Das Ganze ist niemals mehr, sondern immer weniger als die Summe seiner Teile. Es ist niemals eine transzendente, umfassende Realität, sondern es ist abstrakter, ärmer als die konkrete Komponente.

Was bedeutet das konkret? Das zentrale Thema von Morton ist das grosse Arten­sterben und die Heraus­forderung, wie die Menschen­gattung mit den anderen Arten in der Biosphäre umgehen soll. Die Vorstellung der deep ecology, dass alle Tiergattungen inklusive Menschen auf derselben Stufe stehen sollen, weist er zwar als absurd zurück. Aber die alles entscheidende Frage bleibt, wie der Mensch mit den anderen Gattungen symbiotisch koexistieren kann. Es ist für Morton das Schlüssel­problem, nicht nur zur Bewahrung der Biosphäre, sondern auch zur Aufrecht­erhaltung von Gerechtigkeit innerhalb der menschlichen Gesellschaft.

In einer originellen Lektüre von Marx und Kropotkin versucht er zu zeigen, dass echt verstandene Formen der gesellschaftlichen Solidarität die Solidarität mit nicht menschlichen Wesen (also Tieren) zwingend miteinschliessen müssen. So mündet Mortons Ökophilosophie, obschon sie zunächst keine Ethik sein will, in einen starken ethischen Imperativ: «Es ist nicht nur so, dass man sich mit nicht menschlichen Wesen solidarisch zeigen kann. Es geht vielmehr darum, dass Solidarität auch nicht menschliche Wesen mitmeint. Dass sie ohne diese nicht existieren kann. Solidarität muss schlicht und einfach Solidarität mit nicht menschlichen Wesen sein.»

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