Ansichten aus Afrika

Das kultivierte Chaos

Tieropfer, Surfer, Obdachlose: Mit Fotograf Matt Kay am Strand von Durban. Teil 1.

Von Flurina Rothenberger (Text) und Matt Kay (Bilder), 08.02.2020

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Jeder Fotograf hat seinen eigenen, persönlichen Weg, der sich in seinen Werken abzeichnet. Deshalb findet Matt Kay es problematisch, wenn verschiedene Biografien unter dem Begriff «afrikanische Fotografie» zusammengefasst werden. Matt Kay beschreibt sich selbst treffend als «kräftigen Kerl mit einem grossen Bart, der nicht unbemerkt auf der Strasse fotografieren kann». Und der Weg, den er hinter sich hat, ist so atemlos und unterhaltsam, wie er ihn erzählt, und so unberechenbar wie seine vielen Flüche.

Nach einer «wunderbar wilden» Kindheit und Jugend in Nottingham Road, einer kleinen Stadt in den Midlands von KwaZulu-Natal, reist Matt als 18-Jähriger ins britische Southampton, wo er zu segeln lernt und auf Renn­segelbooten arbeitet. Er kehrt nach Südafrika zurück, beginnt ein Jurastudium, erhält das Angebot, einen Katamaran von Kapstadt in die Karibik zu segeln, denkt «zur Hölle mit Jus» und bleibt in der Karibik, kauft sich eine kleine Jacht und chartert Segelboote von Saint Martin nach New York, nach Trinidad und Venezuela. Er gibt sich als Bootsingenieur aus, fliegt auf, strandet in der Dominikanischen Republik, segelt nach Texas, trampt nach Austin, wo er ein Mädchen trifft, das ihm Arbeit auf einer Ranch verschafft.

An der Front

Für einen Zusatzverdienst assistiert Matt einem Typen namens Skeeter Hagler bei Hochzeits­aufnahmen. Der gibt ihm eine Kamera und bringt ihm das Fotografieren und die Arbeit in der Dunkelkammer bei: «Er war ein Dokumentar­fotograf alter Schule, aber ungemein gut.» Nach drei Monaten findet Matt einen Bildband über eine Cowboyserie von Hagler und begreift, dass sein Mentor ein Pulitzer-Preisträger ist.

Matt arbeitet an seinem ersten Fotoprojekt auf dem Weg nach Kanada, als bei seiner Mutter Krebs diagnostiziert wird. Er reist nach Südafrika zurück, plant eine Ausbildung als Ergotherapeut, überbrückt die Wartezeit mit einem Kurs an der Market Photo Workshop und besiegelt damit seine berufliche Laufbahn in der Fotografie.

In Durban fotografierte Matt die Serie «The Front» über zwei Monate zwischen 2014 und 2015. «Durban ist wild, es ist ein verrückter Ort», sagt er über die Stadt, in der er bis vor kurzem gelebt hat. «Durban hat dieses beinahe absichtliche Niveau von raffiniertem Chaos. Der Strandbereich, die Beach Front, ist wie eine Bühne. Sie bleibt gleich, aber die Figuren kommen und gehen.

«Ich betrachte den Ort in drei Schichten: Es gibt die Promenade, den Strand und den Ozean. Und zwischen diesen Schichten spielen sich verschiedene Interaktionen ab. Auch darauf bezieht sich der Titel ‹The Front›. Politisch betrachtet, wird der Strand als Integrations­zone vermarktet, aber das ist er nicht wirklich. Genutzt wird er getrennt nach einem indischen, einem schwarzen und einem weissen Abschnitt. Und die Lage dieser jeweiligen Abschnitte verschiebt sich, je nachdem, wer morgens zuerst aufkreuzt. Die Menschen ziehen auseinander, und sie tun es gänzlich selbst verwaltet.»

Wie alle seine Projekte hat Matt auch «The Front» analog fotografiert. Die Menschen reagieren anders, sagt er. «Wenn ich ein Bild mache, fragen sie: ‹Kann ich es sehen?› Und ich antworte: ‹Sorry, nein, das geht nicht.›» Das hat etwas Magisches. Menschen lassen ihre Vorbehalte fallen, wenn sie das eigene Abbild nicht sehen können, sie geben dir viel mehr Spielraum. Wenn wir mit moderner Technologie fotografiert werden, gibt sie unser Bild unmittelbar frei, und wir verlieren sofort den Anspruch. Das macht uns Angst.»

Wir zeigen hier eine Auswahl aus Matt Kays «The Front». Die Ausführungen des Fotografen zu seinen Bildern finden Sie in den Bildlegenden.

«Eines Morgens stiess ich auf eine Gruppe Jugendlicher und fragte sie: ‹Weshalb seid ihr nicht in der Schule, es sind doch keine Ferien?!› Mir gefiel das Kruzifix, welches das Mädchen um den Hals trug, und ich bat sie um ein Porträt. Sie antwortete: ‹Klar. Doch meine Mutter darf nicht wissen, dass ich die Schule schwänze!› Und dann warf sie sich dieses Ding über den Kopf und ich dachte: ‹Na dann!›. Und habe abgedrückt.»
«Dieser Typ heisst Ifan Alles und ist total spannend. Er kommt aus Tansania und lebt seit Ewigkeiten am Strand. Mir gefällt dieser exponierte, enorm dicke weisse Kerl auf dem Shirt. Ifan macht seine Kleider alle selber, und sie sind alle super knallig und bunt. Man sieht es nicht gut, aber die eine Seite seines Gesichtes ist stark geschwollen. Als ich ihn an diesem Tag traf, war er gerade von den Bullen verprügelt worden. Die meisten Obdachlosen schlafen auf dem öffentlichen Gebiet, das sich von South Beach bis zum Hafen erstreckt. Aber das Land oberhalb von South Beach gehört der Gemeinde, und von da können sie vertrieben werden.»
«In den Wintermonaten migrieren viele Obdachlose in dieses Gebiet, weil es an den meisten anderen Orten sehr kalt ist, aber Durban ist immer warm. Viele Obdachlose halten hier an auf der Durchreise mit dem Zug von Johannesburg nach Kapstadt. Diese beiden Brüder waren aus Johannesburg und zelteten hier an einem Platz, wo es erlaubt war. Mittlerweile wurde die Strandpromenade umgebaut, und dieser Abschnitt ist verschwunden.»
«Das war während eines Konzerts. Man hatte alle Gäste auf der einen Seite abgezäunt und auf der anderen diesen schrägen Grasteppich ausgelegt, damit die VIP-Rapper mit ihren schicken Schuhen nicht über den Sand zur Bühne laufen mussten. Ich fand das so absurd.»
«Weil es Durban ist und damit auch ein politisierter Raum, gibt es Bilder, die man nicht ignorieren kann, obwohl ich mich darum bemüht habe, dass diese Arbeit nicht politisch ist. Diese Jungs gehören zum selben Surfclub. Es sind nicht zwei Teams, die hier gegeneinander antreten, sie trainieren alle zusammen, und doch haben sie sich instinktiv getrennt versammelt. Mich interessiert die Lücke zwischen den beiden Gruppen. Ich habe lange gehadert, dieses Bild in die Strecke reinzunehmen. Eine solche Aufnahme stellt unmittelbar alle Bilder daneben in einen politischen Kontext. Es ist wie bei einem Tintentropfen, der in ein Glas Wasser fällt. Doch das Bild ist wichtig, ich konnte es nicht weglassen.»
«Diese Ziege wird während einer Sangoma-Initiation geschlachtet, das sind spirituelle Heiler in der Kultur der Zulu. Es war interessant, da ganz in der Nähe ein Verbotsschild für Hunde im Sand steckte. Dieses Bild hat sowohl eine romantische als auch eine schreckliche Seite. Es ist ein unglaublich öffentliches Opfer. An dieser Stelle gehe ich jeden Morgen surfen. Beim Strand denkt man an Spiele und Vergnügen, doch die Menschen hier nutzen ihn für die unterschiedlichsten Zwecke. Es ist ein zentraler Ort, an dem intimste Dinge geschehen.»
«Wenn du morgens am Strand entlanggehst, siehst du die angespülten Kadaver von Hühnern. Diese Opfergaben gehören zu religiösen afrikanischen oder Zulu-Praktiken. Bei einigen Ritualen muss das Tier getötet werden, manchmal muss das am Meer geschehen.»
«Meistens kommt die Zionistische Christliche Kirche hierher, die grösste von Afrikanern initiierte Kirche im südlichen Afrika. Jedes Wochenende kommen Busladungen von Menschen, die im Wasser getauft werden. Ich habe viele Fotos von diesen Strandtaufen gemacht, es ist ein eigenständiges Projekt. Am Strand von Durban fasziniert mich, dass du eine Aufnahme machen kannst, in der einer ein Huhn schlachtet, während jemand surft und andere in der Sonne liegen.»
«Dieses Bild gefällt mir sehr gut. Es ist die MH 370, das malaysische Flugzeug, das am 8. März 2014 verschwand. Die Aufnahme entstand im selben Jahr. Viele dieser Jungs kommen aus Zentralafrika, sie bauen Sandskulpturen entlang der Front. Oft spiegeln diese die aktuellen Nachrichten wider, und da die Passanten, die am meisten Trinkgeld geben, oft weiss sind, werden gern schwarze Politiker parodiert. Der Mangel an Sensibilität wird quasi zur Touristenattraktion.»
«Surfen in Durban ist wie Fussball in Soweto: Es ist ein Ausweg für junge Schwarze. In Durban kann man praktisch jeden Tag surfen, und als talentierter junger Schwarzer hat man damit eine Chance, die man in Kapstadt oder Jefferson Bay nicht hat. Ab und zu ist einer dieser Surfer aussergewöhnlich gut und hat die Chance, auf Tour zu gehen und einer oft schwierigen Lebenssituation zu entkommen. Surfen ist ein sehr weisser Sport, aber in Durban gibt es viele unglaublich gute schwarze Surfer.»
«Ich habe diese Frauen an den Marktständen an der Strandpromenade fotografiert. Ich fühle mich ästhetisch zu dieser Art Bilder hingezogen, zu ihrer Flüchtigkeit. Durban hat nicht nur eine grosse muslimische Gemeinschaft, sondern auch eine indische, eine Zulu- und eine weisse südafrikanische Kultur – alle bewegen sich in getrennten Kreisen, die sich aber oft überschneiden. Wenn in Südafrika über Politik gesprochen wird, geht es oft um Schwarz und Weiss. Aber in Durban gibt es grosse Spannungen zwischen der indischen und der Zulu-Bevölkerung. Dies hängt mit der Zuckerrohr­industrie zusammen. Anfangs wurden auf den Plantagen Zulu-Arbeiter angestellt. Die Zulus sind keine Schwächlinge und hatten eine gute Verhandlungs­position. Als es ab 1859 möglich war, Zwangsarbeiter aus Indien einzustellen, änderte sich dies. Die Löhne der Zulus wurden unterboten, und sie verloren ihre Arbeitsplätze. Damals gab es keine Gewerkschaften, um die Rechte der Zulus zu schützen. Die Arbeiter wurden im Wesentlichen gezwungen, umsonst zu arbeiten, was der gesamten Zulu-Bevölkerung sehr zusetzte. Das führte zu bedeutsamen Spannungen zwischen der indischen und der Zulu-Gemeinde in Durban, die bis heute bestehen.»
«Im Chaos der Menschen und Attraktionen am Strand gehen Kinder verloren. Ein Hinweis sind diese Zelte für verlorene Kinder. Ich hätte dieses Bild auch an einem belebten Strandtag fotografieren können, aber ich mochte die Absurdität dieses leeren Strandes.»
«Dies ist für mich ein wichtiges Bild. Ich habe es mit meiner kleinen Rollei aufgenommen. Der wachsame Blick dieser Frau zum fremden Mädchen unter der Dusche, besorgt um die Sicherheit ihrer Kinder. Während der Ferien fährt das ganze alte Transvaal, heute umbenannt in Gauteng, nach Durban runter. Wir nannten sie früher die Vaalies. Sie bringen ein aggressives Verhalten aus Johannesburg und Pretoria mit und beanspruchen den Strand und den Raum mit einer stark Afrikaans-geprägten, weissen Kultur. Die gemeinsamen Duschen sind in diesem Kontext sehr interessant, denn hier wird Integration quasi erzwungen.»
«Das war um 5 Uhr morgens am South Beach, ein verdammtes Armageddon! Ich dachte, ein Haufen Hooligans hätte das Feuer gelegt, aber es waren Cola- und Fanta-Dosen, die brannten – ich hatte Bier und Schnaps erwartet. Es war ein surrealer Anblick und Morgen.»
«Dies ist ein verlassener alter Strandweg, irgendwie gepflegt, aber nicht unterhalten. Die baulichen Eingriffe an der Strandpromenade ändern nichts daran, dass dies immer noch ein natürlicher Raum ist. Der Sand verlagert sich, deshalb bricht alles zusammen und wird immer wieder neu aufgebaut. Wenn man mit Menschen spricht, die seit vielen Jahren in Durban leben, hat sich diese Strandzone schon so viele Male verändert, sie bleibt nie dieselbe.»
«Das ist Pearl. Ich ging auf sie zu und sagte: ‹Ich würde gern ein Foto von dir machen.› Am Market Photo Workshop wird viel diskutiert zum Thema Ethik in der Fotografie und zum Machtverhältnis zwischen dir als Fotograf und dem Subjekt. Als Pearl ihrem Porträt zustimmte, habe ich ihr keine Anweisungen gegeben. Ich war neugierig darauf, was ich ihrer Meinung nach von diesem Porträt erwartete, denn sie wusste, dass die Aufnahme auf Film ist und ich sie ihr nicht würde geben können. Das war die Pose, welche sie einnahm.»

Zum Fotografen

Matt Kay (1985) wuchs in den Midlands von KwaZulu-Natal auf und lebt heute in Kapstadt, Südafrika. Er studierte und lehrte am Market Photo Workshop in Johannesburg und wurde ausgezeichnet mit dem Ithuba Arts Trust und dem Tierney Fellowship 2014. Matt Kay verdient seinen Lebensunterhalt als Hochzeitsfotograf und widmet viel Zeit seinen persönlichen Projekten, aus denen oft Bücher entstehen. Er wurde mehrfach für Preise nominiert und hat weltweit ausgestellt. Folgen Sie ihm auf Instagram.

Zu dieser Bildkolumne

Warum sollen wir gerade jetzt nach Afrika blicken? Falsche Frage, sagt Flurina Rothenberger. Die richtige laute: Warum erst jetzt? In ihrer wöchentlichen Kolumne «Ansichten aus Afrika» stellt Flurina Rothenberger junge Fotografie aus Afrika vor. Hier finden Sie den Podcast «Aus der Redaktion» zu dieser Kolumne.

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