Die Stadtpläne des Gemeinsinns

Wo gibt es viele Genossenschafts­wohnungen – und warum? Eine Reise in vier Schweizer Städte.

Von Olivia Kühni, Andreas Moor und Simon Schmid, 04.02.2020

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«Niemand hat den Boden gemacht», schrieb der britische Philosoph John Stuart Mill. «Er ist das ursprüngliche Erbe der Menschheit.» Das war im 19. Jahrhundert im England der Gross­grundbesitzer ein revolutionärer Gedanke. Mill forderte allerdings nicht Enteignungen, sondern lediglich die radikale Besteuerung von seines Erachtens «unverdienten» Wertsteigerungen.

Auch in der Schweiz hatte man schon früh radikale Ideen. Allerdings etwas anderer Art. Oft aus Hilfsvereinen heraus entstanden hier im 19. Jahrhundert die ersten Wohnbau­genossenschaften. Es war die Zeit der Industrialisierung: Genossenschaften waren eine Antwort auf die zunehmende Wohnungsnot.

Zur Sache mit dem Boden, dem Wohnen, dem Mieten

Die Wohnrauminitiative will Genossenschaften fördern. Doch dahinter steckt viel mehr. Die wichtigsten Fakten und Perspektiven von vier Expertinnen.

Zürich – die Vorreiterin

Besonders in Zürich war der Wohnungs­bedarf gross. Hier kam es vor der Jahrhundert­wende zu einer Welle von Gründungen. Zwar zwang 1899 eine Wirtschafts­krise die meisten Genossenschaften, ihre Häuschen oder Wohnungen zu verkaufen – in Zürich überlebte nur die Zürcher Bau- und Wohngenossenschaft, die auch heute noch 16 Liegenschaften besitzt.

Doch die Idee hielt sich. Während des Ersten Weltkriegs wurde die ABZ gegründet: die Allgemeine Baugenossenschaft Zürich. Sie ist bis heute die grösste Schweizer Wohnbau­genossenschaft. Dass sie in Zürich sitzt, ist kein Zufall. Denn die Limmat­stadt beheimatet nicht nur in absoluten Zahlen, sondern auch prozentual am meisten gemein­nützige Wohnungen. Ihr Anteil liegt in Zürich gemäss Bundesamt für Wohnungs­wesen (BWO) bei 18 Prozent.

Die Stadt Zürich besitzt zudem zahlreiche eigene Wohnungen, die sie direkt oder über öffentlich-rechtliche Stiftungen vermietet. Zählt man diese zu den gemein­nützigen Wohnungen hinzu, kommt man sogar auf über 23 Prozent.

Wie sich diese Wohnungen übers Stadtgebiet verteilen, zeigt die folgende Karte. Die Daten dazu stammen vom Verband Wohnbaugenossenschaften Schweiz sowie von der Zürcher Verwaltung. Sie erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sollten aber einen sehr hohen Abdeckungs­grad aufweisen.

Die Zürcher Genossenschaften sind vor allem in den Aussen­quartieren präsent. Besonders viele Bauten stehen auf der linken Seeseite in Wollishofen und nordwestlich davon in Friesenberg und Albisrieden. Eine weitere Achse erstreckt sich in nördlicher Richtung über Wipkingen bis nach Oerlikon, Seebach und Schwamendingen. Derweil bleiben Stadtzentrum, Seefeld und Zürichberg – die Gegenden, in denen die Immobilien­preise am höchsten sind – weitgehend frei von Genossenschaftsbauten.

Viele Liegenschaften gehen auf die Gründerzeit zurück. Besonders die Eisenbahner waren damals aktiv. Dies beschreibt Peter Schmid, Experte für Wohnbaugenossenschaften, in einer Studie. Die Bähnler kurbelten den genossenschaftlichen Wohnungsbau nicht nur in Zürich, sondern auch in Städten wie Erstfeld, Luzern, Arth, St. Gallen, Nidau, Brig und Lausanne an.

Auch die Politik war in dieser Phase freundlich gesinnt. In Zürich beschloss der Stadtrat in den 1920er-Jahren, dass nur noch 6 Prozent Eigen­kapital für Wohnbau­genossenschaften notwendig waren. Zudem verbürgte die Stadt die zweite Hypothek und stellte günstiges Land zur Verfügung.

Auch rund um den Zürichsee entstanden viele Genossenschaften. Noch heute verfügen Küsnacht oder Horgen über rund 10 Prozent gemein­nützigen Wohnungsbau.

Basel – die Nachzüglerin

In anderen Städten rollte die Gründungs­welle nach dem Zweiten Weltkrieg an – als erneut zu wenig zahlbarer Wohnraum bereitstand und die Städte wegen des Wachstums der Industrie­areale wuchsen. So entstanden besonders in Biel oder Thun viele neue Genossenschaften. Und auch in Basel: 9 Prozent der Wohnungen in der Stadt sind heute gemeinnützig.

Ähnlich wie in Zürich sind die Genossenschaften auch in Basel nicht im Stadt­zentrum zu finden, sondern in den Aussen­quartieren: in der Breite, am südlichen Rand von Gundeldingen, im Bachletten- und im Gotthelf­quartier, wo 1912 die Basler Wohngenossenschaft die ersten Häuser errichtete.

An der Flughafenstrasse entstanden 1950 die ersten Wohnhochhäuser der Schweiz. Viele Genossenschafts­liegenschaften stehen auch in Kleinbasel, in den Quartieren Klybeck, Kleinhüningen, Hirzbrunnen und Lange Erlen.

«Am meisten Wohnbau­genossenschaften wurden in den Städten gegründet, wo die Industrie für eine steigende Nachfrage nach zahlbarem Wohnraum sorgte, wo die Eigentums­quote niedrig war und wo eher sozialistische und gewerkschaftliche politische Kräfte bestimmend waren», sagt Peter Schmid. «Dies, obwohl die ersten Entscheide zur Förderung des gemein­nützigen Wohnungsbaus historisch durch bürgerliche Regierungen gefällt wurden.»

Bern – die Bürgerliche

Zu den Städten mit keiner grossen Industrie zählen etwa St. Gallen oder Bern. Entsprechend war die Knappheit an Wohnraum geringer. Trotzdem gibt es auch in Bern eine Tradition des genossenschaftlichen Wohnungsbaus.

Aktiv waren wiederum die Bahn­angestellten: Sie gründeten 1919 eine Genossenschaft. Sie sollte jedem Bähnler, «ob hoch oder niedrig», Platz bieten, wie es in den Statuten heisst: «Eine der dringendsten Aufgaben der Genossenschaft wird sein, den Angestellten der untern Dienst­klassen Wohnungen zu möglichst niedrigen Mietzinsen zu verschaffen.»

Liegenschaften von Genossenschaften stehen vor allem in Bümpliz, im Westen der Bundes­stadt. Grössere Siedlungen sind auch im südlich gelegenen Weissenstein, wo die Eisenbahnergenossenschaft in den 1920er-Jahren gebaut hat, sowie im Nordosten der Stadt in Richtung Lorraine, Wankdorf und Tiefenau zu finden. Aktuell kommt die Stadt nach Angaben des BWO auf einen Anteil gemein­nütziger Wohnungen von 8,6 Prozent. In dieser Zahl inbegriffen sind auch die Wohnungen im Eigentum der Stadt Bern, die über einen Fonds verwaltet werden. Nur 5,6 Prozent der Wohnungen sind gemäss Peter Schmids Studie in Genossenschafts­bauten.

In Bern wurde der gemeinnützige Wohnbau zwar ab 1915 gefördert. Lange Zeit wurde dem Thema aber wenig Beachtung geschenkt. Erst seit die Mieten ab der Jahrtausend­wende wieder zu steigen begannen, wurde es erneut aufgegriffen. 2014 sprachen sich die Stimmbürger für die Wohninitiative aus. Sie sieht bei neuen Überbauungen einen Anteil von 30 Prozent an gemein­nützigen Wohnungen vor und ist seit dem 1. Januar 2020 in Kraft.

Genf – die Stiftungsstadt

Ein Sonderfall ist Genf. Hier wurde der gemein­nützige Wohnungsbau weniger durch Genossenschaften als über Stiftungen gefördert. Deswegen erscheinen auf der Karte der Rhonestadt wenige Gebäude in blauer Farbe. Der Anteil von gemein­nützigen Wohnungen beträgt nur 5 Prozent.

Ähnlich wie in den anderen Schweizer Städten sind die Genossenschaften auch in Genf nicht im Zentrum, sondern in peripheren Lagen präsent. Vorreiterin ist die Société Coopérative d’Habitation Genève. Sie baute am Chemin des Sports im Westen der Stadt 1921 ihre erste Gartenstadt­siedlung mit 52 Reihen­häuschen. Das etwas nördlich davon gelegene Gebiet Cité Villars-Vieusseux-Franchises wird derzeit vollständig umgestaltet.

Der Mangel an bezahlbaren Wohnungen ist in Genf ein Dauer­thema. Wenig erfolgreich versucht der Kanton, das Problem mit Preisdeckeln unter Kontrolle zu bekommen. Ein Vorkaufs­recht, das an Leistungen im Rahmen der Wohnraumförderung geknüpft ist, ergänzt das Instrumentarium.

Beispiele wie Genf, wo die Mieten seit 2000 so stark wie in keiner anderen Stadt gestiegen sind, oder Basel, wo letztes Jahr gleich vier Initiativen zum Mieter­schutz angenommen wurden, zeigen, wie schwer sich die Grossstädte damit tun, die steigende Nachfrage nach urbanem Wohnraum zu bedienen.

Die Wohnungsnot sei eine Folge vernachlässigter Planung, sagt Experte Peter Schmid. Seit den 1980er-Jahren habe der Anteil der Genossenschaften stetig abgenommen. «Lag dieser 1970 noch über 10 Prozent, beträgt er heute weniger als 4 Prozent.» Der Wegfall der Wohnbau­förderung in Kantonen und Städten habe bewirkt, dass nur noch wenige Wohnungen gebaut wurden.

Ausgehend von Zürich – der Genossenschafts­hochburg der Schweiz – habe ab dem Jahr 2000 aber eine Wieder­erstarkung der Branche stattgefunden. In Zürich gilt seit 2011 ein neues Ziel: Der Anteil gemein­nütziger Wohnungen an den Mietwohnungen soll bis Mitte Jahrhundert auf ein Drittel gesteigert werden. Ähnliche Massnahmen haben andere Städte beschlossen.

Diese Politik geht mit der Zeit. Seit John Stuart Mill ist über ein Jahrhundert vergangen. Auch in der Wissenschaft ist die Erkenntnis gereift, dass lokale Kooperationen und gemeinschaftliche Nutzung bei knappen Ressourcen oft besser funktionieren als die Staats- oder die Privatwirtschaft. Jedenfalls erhielt die amerikanische Ökonomin Elinor Ostrom 2009 dafür den Wirtschaftsnobelpreis.

Zur Transparenz

Der in diesem Artikel zitierte Studien­autor Peter Schmid war bis 2015 Präsident der Verbands Wohnbau­genossenschaften Zürich. Er ist aktuell Vorstands­mitglied der Genossenschaft Project R, die das Magazin Republik herausgibt.

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