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Unnötige Demütigung auf dem Polizeiposten

Ausziehen, bücken und ein bisschen husten: Wann ist eine Leibesvisitation verhältnismässig? Das Bundesgericht setzt klare Grenzen.

Von Brigitte Hürlimann, 29.01.2020

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Von der Polizei festgenommen, auf den Posten geführt und in eine Zelle gesperrt zu werden, ist ein Schock. Jedenfalls für die meisten von uns. Doch manchmal braucht es nur wenig, dass genau dies passiert. Wir nehmen an einer Demonstration teil, die unfriedlich verläuft oder nicht bewilligt war. Wir mischen uns in eine Auseinander­setzung ein. Oder reklamieren, wenn Polizisten auf der Strasse Drogen­konsumenten kontrollieren.

Die Festnahme und das Eingesperrt­werden sind besonders schlimm und demütigend, wenn es zu einer Leibes­visitation kommt. Wenn wir uns also vor wildfremden Menschen ausziehen müssen, ganz oder teilweise. Uns bücken müssen, in die Hocke gehen und dabei aufmerksam gemustert werden. Solche Untersuchungen berühren unsere Grundrechte. Es geht um die Würde des Menschen, die persönliche Freiheit, den Schutz der Privat­sphäre und um das Verbot einer erniedrigenden Behandlung.

Die Polizei darf Leibes­visitationen durchführen, das gehört zu ihrem Instrumentarium. Sie darf es aber nur dann, wenn es die Umstände zwingend erfordern und keine milderen Mittel möglich sind. Mit anderen Worten: Die Anordnung und die Durchführung einer Leibes­visitation müssen immer verhältnis­mässig sein. Wie überhaupt die gesamte polizeiliche Arbeit.

Auf diese Grundsätze macht das Bundes­gericht in seinem neusten Urteil einmal mehr aufmerksam. Es hat einen Zürcher Fall zu beurteilen und kommt zum Schluss, die Kantons­polizei habe unverhältnis­mässig gehandelt. Das höchste Gericht hebt ein Urteil des Zürcher Obergerichts auf, das die beanstandete Leibes­visitation als rechtmässig eingestuft hat.

Passiert ist Folgendes: Ein in London wohnhafter, estnischer Geschäftsmann reist via Flughafen Zürich in die Schweiz ein. Die Staats­anwaltschaft Lenzburg-Aarau führt gegen ihn eine Straf­untersuchung; er wird der Daten­beschädigung verdächtigt, das ist eine strafbare Handlung gegen das Vermögen. Die Kantons­polizei nimmt ihn bei der Einreise fest. Bevor er vier Stunden lang unbeaufsichtigt in eine Zelle eingesperrt wird, muss er sich ausziehen, und zwar in zwei Phasen. Er darf entweder die Oberkleider oder die Unterkleider anbehalten, ist also nie ganz nackt. Mit entkleidetem Unterkörper muss er in die Hocke gehen: damit seine «Aftergegend gesichtet» werden kann, wie es im Urteil der Ersten öffentlich-rechtlichen Abteilung heisst.

Für diese demütigende Behandlung, die im Juli 2018 stattgefunden hat, gab es keinen Anlass.

Das Bundesgericht betont, es brauche ernsthafte und konkrete Anhalts­punkte für eine Selbst- oder Fremd­gefährdung, und diese lägen nicht vor. Der betroffene Mann sei nicht wegen eines Gewalt­delikts gesucht worden, habe sich kooperativ verhalten und sei bereits bei seiner Abreise, am Londoner Flughafen, einer Sicherheits­kontrolle unterzogen worden. Das Vorgehen der Kantons­polizei sei unverhältnis­mässig gewesen. Ein Abtasten über den Kleidern, so das höchste Gericht, hätte genügt, und man hätte dem Mann vor dem Einsperren den Gürtel und die Schnür­senkel wegnehmen können.

Die Polizei dürfe sich nicht auf die Praktikabilität ihres Handelns oder auf einen Dienstbefehl berufen und systematisch Leibes­visitationen am nackten oder halbnackten Körper durchführen. Das Bundes­gericht verweist unter anderem auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschen­rechte (EGMR). Dieser verlangt eine hohe Wachsamkeit darüber, dass mit Körper­untersuchungen nicht unnötiges Leid und unnötige Erniedrigung verursacht werden. Dass sich jemand nackt bücken und manchmal dabei noch husten muss, ist gemäss EGMR nur zulässig, wenn es wegen der besonderen Umstände absolut notwendig ist.

Das Bundesgericht erwähnt zudem vier eigene Urteile, bei denen es eine unrechtmässige Leibes­visitation beanstanden musste. Es handelt sich dabei um die eingangs geschilderten Vorfälle: die Teilnahme an einer unbewilligten Demonstration, das Einmischen in eine polizeiliche Kontrolle oder die Beteiligung an einer Auseinander­setzung. In allen vier Fällen wären mildere Massnahmen möglich gewesen. Die Polizisten handelten unverhältnismässig.

Dabei, mahnt das Bundesgericht, seien sie stets zur Wahrung der Verhältnis­mässigkeit verpflichtet. Dieser Grundsatz stelle zusammen mit dem Legalitäts­prinzip – also der Frage nach der genügenden gesetzlichen Grundlage – «den wichtigsten Massstab der Rechtmässigkeit allen polizeilichen Wirkens dar. Dass sich ein Polizei­beamter mit der Verhältnis­mässigkeit seines Vorgehens auseinander­setzen muss, ist mit seiner Tätigkeit somit untrennbar verbunden.»

Urteil 1B_115/2019 vom 18. Dezember 2019

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