Richtung Wind

Flurina Badel hat das urbane Leben hinter sich gelassen und ist ins Dorf ihrer Jugend zurückgekehrt. Ihre Gedichte aber, geschrieben auf Rätoromanisch und soeben mit dem Schweizer Literatur­preis ausgezeichnet, suchen noch immer die Weite. Ein Besuch.

Von Daniel Graf (Text) und Maurice Haas (Bilder), 29.01.2020

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Von Marokko über Indien, New York, Buenos Aires, Basel, Montreal und Wien wieder nach Guarda und zu ihrer Sprache: Flurina Badel.

Es gibt unter den 150 Menschen, die heute in Guarda leben, ein altes, ungeschriebenes Gesetz: Wer auf seiner Bank neben der Haustür sitzt, dem jeweiligen Nachbarschafts­brunnen zugewandt, darf sofort in ein Gespräch verwickelt werden. Also ist es ein gutes Zeichen, dass Flurina Badel trotz eisiger Temperaturen auf der Bank vor ihrem Wohnhaus Platz genommen hat, als das Postauto den Republik-Redaktor von «Guarda staziun», wo die Züge nur auf Verlangen halten, nach «Guarda cumün» bringt. Auch wenn dieser von der Beredtheit der Bänke und Brunnen zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht weiss.

Nach Stationen in Marokko, Indien, New York, Buenos Aires, Basel, Montreal und Wien lebt Flurina Badel seit 2018 wieder in Guarda, im Unterengadin, wo sie auch ihre Jugend verbracht hat. Einen Steinwurf entfernt von dem Gebäude, in dem sie nun zusammen mit ihrem Freund und künstlerischen Partner Jérémie Sarbach wohnt und das gemeinsame Atelier betreibt.

Wenn man mit Flurina Badel durch Guarda geht, wo sie alle paar Meter herzlich von jemandem gegrüsst und ins Gespräch verwickelt wird, auch ohne Bank und Brunnen, könnte man auf die Redensart verfallen, die Autorin sei mit dem Leben hier tief verwurzelt. Wäre das Wort nicht eine so irreführende Metapher. Und würden die Texte in Flurina Badels Gedicht­band «tinnitus tropic» dieser Denkfigur nicht eine Abfuhr erteilen.

«pudessan restar», heisst es in einem der ersten Gedichte dieses auf Vallader geschriebenen Bandes, oder in der späteren deutschen Nach­dichtung: «wir könnten bleiben / wurzeln schlagen im vergangenen». Dann aber, programmatisch: «dieser halde / entreissen wir uns / immer geradeaus richtung wind». Bis die Farbe Grün, die in der ersten Zeile nur als ein Rest Chlorophyll unter dem Finger­nagel vorkommt, am Ende auf einer Ampel in Signal­stärke leuchtet:

Flurina Badel: «vanz da clorofil». Deutsche Nachdichtung von Flurina Badel, Simone Lappert und Rico Valär; beide Fassungen gelesen von der Autorin.

Unterwegs sein lautet eines der zentralen Themen in Flurina Badels Gedichten. Und vielleicht ist es das Erste, was man von dieser Autorin lernen kann: dass Freiheit und Aufbruch nicht unbedingt mit einer Ortswahl, ganz sicher aber mit einer inneren Haltung zu tun haben. Und wo wäre weniger Festlegung als auf einem leeren Blatt Papier? «Eine weisse Seite», sagt Badel, «ist eine Möglichkeit, alles sein zu dürfen.»

Guarda hingegen ist kein unbeschriebenes Blatt. Unweigerlich führt die Assoziations­kette zum Schellen-Ursli, jenem Kinderbuch­helden von Selina Chönz, der ab 1945 von Guarda aus um die Welt ging und sicher auch wegen der Illustrationen von Alois Carigiet die Jahrzehnte überdauert hat. Und zu jenem charakteristischen Ortsbild, das Guarda zu einem Kandidaten für das «schönste Dorf der Schweiz» gemacht hat: sgraffito­verzierte Bauern­häuser, Brunnen als Begegnungs­orte, Architektur mit viel Sinn für die Lenkung von Blicken entlang der sich windenden Dorfstrasse.

Während des Zweiten Weltkriegs hat ein anderer Könz, der Ehemann von Selina (die sich mit «Ch» schreiben liess), im Rahmen des Bündner «Heimatschutz»-Programms den Grundstein für Guardas Entwicklung zum Vorzeige­dorf gelegt. Wobei es Könz’ Initiative, laut dem Historiker Simon Bundi, weniger um «geistige Landes­verteidigung» oder nationale Identität im Sinne der Kulturbotschaft von 1938 gegangen ist als um ein regionales Projekt.

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«In Guarda habe ich das Gefühl, gebraucht zu werden …»

Heute zieht Guardas Authentizitäts­versprechen Besucher aus aller Welt an, und die Einheimischen sind schlau genug, es nicht durch Massen­tourismus zu zerstören. An manchen Tagen im Sommer, erzählt Flurina Badel, rufe ihr Vater, der ebenfalls noch im Dorf wohnt, den Reise­gruppen dennoch ironisch «Benvenuti a Venezia!» zu. Und wenn sie in ihrer Scheune Holz hackt, knipsen die Touris auch schon mal ohne zu fragen ihr Klischee­bild vom archaischen Leben auf dem Land – dass das gar nicht gut ankommt, scheint sich nicht jeder denken zu können.

Seit einem Schreib­wettbewerb 1999 hat Badel vereinzelt Texte veröffentlicht, doch verstanden hat sie sich immer primär als bildende Künstlerin. Nun also, zwanzig Jahre nach der ersten literarischen Publikation, ihr erstes Buch. Und die besonders interessanten Gedichte in «tinnitus tropic» sind diejenigen, die auf engstem Raum eine gebrochene, ambivalente Stimmung erzeugen. Diese Texte feiern die Irritation, die Störung einer falschen Idylle. In einem sehr wörtlichen Sinne be-fremden sie das Vertraute.

Schon im Titel­gedicht des Bandes: Ein Vogelruf wird hier zum Tinnitus, zu einem Störgeräusch, das sich einnistet, sich verhakt im Gehör, durch den Klang des Gedichtes selbst. Ist nicht schon das Wort mit seinen spitzhellen i-Vokalen und den harten Konsonanten eine Lautmalerei, die erst die Lyrik als solche entdeckt? Im Original, auf Vallader, lässt das vieldeutige «tropic» bereits den «pical» anklingen, den Schnabel, und die Attacke des Vogels. Und die deutsche Nach­dichtung, die Flurina Badel zusammen mit dem Literatur­wissenschaftler Rico Valär und der Autorin Simone Lappert erarbeitet hat, ruft die i-Klänge am dramatischen Höhepunkt des Gedichtes noch einmal auf. Bis am Ende «die luft sirrt».

Flurina Badel: «tinnitus tropic». Deutsche Nachdichtung von Flurina Badel, Simone Lappert und Rico Valär; beide Fassungen gelesen von der Autorin.

Auch in der Bildsprache hat Flurina Badel ein Faible für die Idyllen­störer: Der Weg zum Meer ist von «ausgebleichtem plastikmüll» gesäumt, und von Kadavern. Eine Freiheits­erfahrung aber wird selbst diesem klaren Blick abgerungen: «schau das meer / welch abgefahrene sicht». Und weil in der Lyrik nicht nur der Satzsinn zählt, sondern auch das Einzel­wort Gewicht hat, lässt der rätoromanische Original­text, wenn er zum Schauen auffordert, in der Ferne auch einen vertrauten Ortsnamen erblicken: «guarda il mar».

Flurina Badel: «plasticarias schmaridas». Deutsche Nachdichtung von Flurina Badel, Simone Lappert und Rico Valär; beide Fassungen gelesen von der Autorin.

Kürzlich hat das Schweizer Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass Flurina Badel für «tinnitus tropic» mit einem der Schweizer Literaturpreise ausgezeichnet wird. Und die Autorin ahnt, was nun kommt. «Natürlich werden jetzt Leute sagen: ‹Wie bekommt man in der Schweiz am leichtesten einen Literatur­preis? Mit dem Rätoromanischen und als Frau.› In Wirklichkeit aber bin ich die erste Frau, die mit einem rätoromanischen Text diesen Preis bekommt.» Dann setzt sie hinzu: «Ich möchte nicht pet of the nation sein, nicht die Quoten-Rätoromanin.»

Warum eigentlich diese radikale Entscheidung, die Wander­jahre über die Kontinente und durch die Metropolen abzubrechen und ausgerechnet nach Guarda zurück­zukehren? Reicht es als Erklärung, dass sich ihre Arbeit bei Radio­televisiun Svizra Rumantscha verstetigt hat, wo sie für die Literatur­sendung «Impuls» verantwortlich ist und weitere rätoromanische Stimmen hörbar macht?

Flurina Badel kennt die Geschichte «ihres» Dorfes sehr genau, die ältere und die jüngere Vergangenheit. Sie weiss von den Jahren der Landflucht und des Bevölkerungs­schwunds und von dem Umstand, dass Guarda heute auch ein Dorf der Zweit­wohnsitze ist: von ebenso vermögenden wie abwesenden Haus­eigentümern. Für ihre Antwort nimmt sie einen kleinen Umweg über die Stadt. Dort nämlich habe sie immer das Gefühl gehabt, mehr oder weniger austauschbar zu sein. «Hier hingegen habe ich das Gefühl, gebraucht zu werden. Vielleicht auch, um ein Gleich­gewicht zu halten.»

Wie sich künftig bei ihr die Kunst und die Literatur die Waage halten?

Seit einiger Zeit bereits arbeitet Flurina Badel an einem Roman. Allzu viel will sie noch nicht verraten, nur dies: Auch die Themen Wohn­raum und Gentrifizierung werden eine Rolle spielen und die Frage, was ein echtes nachbarschaftliches Zusammen­leben bedeutet. Die Protagonistin: eine Frau, die in ihr – namentlich nicht näher bestimmtes – Dorf zurückkehrt. Man darf es sich überall auf der Welt denken.

Flurina Badel: «alch sainza nom». Deutsche Nachdichtung von Flurina Badel, Simone Lappert und Rico Valär; beide Fassungen gelesen von der Autorin.

Zur Person

Flurina Badel, 1983 in Lavin (GR) geboren, ist Autorin, bildende Künstlerin und Radio­journalistin. 2015 absolvierte sie ihren Master of Fine Arts in Basel. Seit 2014 entstehen ihre Skulpturen und Installationen vorwiegend als Gemeinschafts­arbeiten des Künstlerduos Badel/Sarbach. 2019 erschien ihr Debüt­band als Lyrikerin unter dem Titel «tinnitus tropic» in der editionmevinapuorger. Badel lebt heute wieder in Guarda, wo sie auch ihre Jugend verbrachte. Ihr liebster Sinnspruch auf den Haus­wänden des Dorfes lautet: «Scha tü nu poust portar il crap, schi rodla’l.» Auf Deutsch: «Wenn du den Stein nicht tragen kannst, roll ihn.»

Zum Gedichtband

Flurina Badel: «tinnitus tropic. poesias». editionmevinapuorger, Zürich 2019. 125 Seiten, ca. 29 Franken. Der Band ist einsprachig und versammelt sämtliche Gedichte in der Original­fassung auf Vallader. Die deutschen Nach­dichtungen entstanden im Nachhinein und sind bislang unpubliziert.

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