Der Geschichte in die Augen schauen: «Wenn jemand sagt, dass er dich ermorden will – glaub ihm»

Drei Generationen nach Auschwitz verstummen allmählich die letzten Stimmen, die davon erzählen können. 75 Porträts von Überlebenden machen Geschichte in Gesichtern nahbar.

Von Amir Ali (Text) und Martin Schoeller/August (Bilder), 27.01.2020

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Lange wird es nicht mehr dauern, bis keiner mehr da ist. Bis alle Überlebenden gestorben sein werden. Die Stimmen verstummen, die den Nachgeborenen erzählt haben, noch erzählen können, was sie gesehen, gehört, am eigenen Leib erfahren haben. In Buchenwald, Mauthausen, Bergen-Belsen und Sachsen­hausen. In Gross-Rosen, Flossenbürg, Ravensbrück, Malchow und Dachau. In Auschwitz und Birkenau.

Vor 75 Jahren befreiten Soldaten der Roten Armee die letzten paar tausend Häftlinge im grössten Konzentrations- und Vernichtungs­lager der Nazis. Weit über eine Million Menschen waren im Lager­komplex von Auschwitz ermordet worden. Je nach Schätzung wurden bis zu 6,3 Millionen jüdische Menschen Opfer der national­sozialistischen Vernichtungs­politik.

Wir kennen diese Zahlen, wir kennen die Geschichte. Der Holocaust wurde und wird von Historikerinnen weltweit erforscht und ist in zahllosen Archiven akribisch dokumentiert. Reicht das, damit wir die Ungeheuerlichkeit des Ereignisses verstehen? Seine menschlichen, politischen, numerischen Dimensionen erfassen? Oder brauchen wir dazu Menschen, die uns die Geschichten zur Geschichte erzählen, mit ihren eigenen Stimmen, in ihren eigenen Worten, und uns dabei in die Augen sehen?

75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz sprechen wir davon, dass der Hass wieder da ist. Davon, dass allein in der Deutsch­schweiz innerhalb eines Jahres 552 antisemitische Vorfälle gemeldet wurden – Dunkelziffer unbekannt. Davon, dass jeder vierte Deutsche antisemitisch denkt und der Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft angekommen sei. Aber wenn wir ehrlich sind, lautet die richtige Frage: War er jemals weg?

Der deutsche Fotograf Martin Schoeller, der mit Close-up-Porträts von Hollywood- und Popstars bekannt wurde, hat zum Jahrestag «Survivors. Faces of Life after the Holocaust» veröffentlicht. Der Fotoband, entstanden in Zusammen­arbeit mit dem World Holocaust Remembrance Center Yad Vashem, zeigt Porträts von 75 Menschen, die den Holocaust überlebt haben. Die Bilder sind, zusammen mit kurzen Biografien und Zitaten, ein Versuch von vielen, das überwältigend Grosse zu uns heranzuholen.

Die bevorstehende Ära nach den Überlebenden sei einschüchternd, schreibt Avner Shalev, der Direktor von Yad Vashem, im Vorwort zu Schoellers Fotoband. Gleichzeitig enthalte sie das vielversprechende Potenzial neuer Horizonte und Diskurse. Vielleicht hat er recht. Vielleicht finden die kommenden Generationen – die vierte und fünfte nach Auschwitz – Wege aus der Vergangenheit, die jene vor ihnen nicht beschreiten konnten.

Die Geschichten der Überlebenden werden sie dazu dennoch brauchen.

Baruch Shuv, geboren 1924 in Vilnius, Polen (heute Litauen). Baruch wurde in das Ghetto von Vilnius umgesiedelt, wo er Arbeit in einer deutschen Werkstatt fand. Als er in die Stadt zurück­kehrte, gründete er dort eine Untergrund­bewegung und schloss sich verschiedenen Partisanen­gruppen an. Baruch meldete sich als Freiwilliger in einer russischen Fallschirmjäger­einheit und nahm an verschiedenen militärischen Operationen teil.

«Ich bemühe mich sehr, anderen zu erzählen, was ich über den Holocaust weiss, damit sie die Lektionen lernen, die unsere schmerzliche Vergangenheit lehrt. Es ist wichtig zu verstehen, was den Juden widerfahren ist. Wie wir versuchten, unsere Ehre zu bewahren und die Nazis zu bekämpfen. Wie wir ihnen nach Kräften das Leben schwermachten, wann immer es möglich war. Wir liessen uns nicht wie Schafe zur Schlacht­bank führen.»

Berthe Badehi, geboren 1932 in Lyon, Frankreich. Berthe wurde von einer christlichen Familie in Le Montcel versteckt.

«In schwierigen Situationen muss man versuchen, stark zu bleiben und den Glauben zu haben. Man muss das Äusserste tun, um zu überleben. Wenn du überlebst, wirst du vielleicht nicht ganz unversehrt da rauskommen, aber man muss das Beste aus dem machen, was man hat.»

Chana Arnon, geboren 1939 in Leeuwarden, Niederlande. Chana und ihre Familie flohen aus den Nieder­landen nach Indonesien. Nach der Eroberung Indonesiens durch die Japaner wurde sie in einem Kriegs­gefangenen­lager auf Java interniert.

«Die Menschen sollten einander lieben und darauf achten, dass sie sich vom Hass distanzieren und von allen Ideologien, auch religiösen, die gegen Liebe, Demokratie, Rechts­staatlichkeit und all das Gute hetzen, das heute zu zerfallen droht. Die Menschen müssen sich an der Hoffnung und den Werten der liberalen Demokratie festhalten. Und sie müssen darauf bedacht sein, für die Schwächsten unter uns zu sorgen.»

Colette Bouchnik, geboren 1936 in Sfax, Tunesien. Colette und ihre Familie lebten unter deutscher Besatzung und waren antijüdischen Gesetzen unterworfen.

«Während des Holocaust war es für uns so schwierig. Wir waren so jung, und wir konnten nicht einmal weiter zur Schule gehen. Die Menschen sollen aus unseren Erfahrungen lernen: stark zu sein, sich nicht überwältigen zu lassen. Und zu wissen, dass sie etwas aushalten können.»

David Gur, geboren 1926 in Okány, Ungarn. Nach dem deutschen Einmarsch in Ungarn änderte David seine Identität und ging in den Widerstand. Später schloss er sich der jüdischen Jugend­bewegung an und fälschte Papiere, die dazu beitrugen, Tausende Juden zu retten.

«Die Jungen spielen eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung ihrer Nationen. Ich war aktives Mitglied der zionistisch-jüdischen Jugend­bewegung im Unter­grund in Ungarn. Es ist wichtig, sich an ihre Taten zu erinnern und von ihrer Tapferkeit und ihren Opfern zu lernen, um das Leben anderer zu retten.»

Eliezer Lev-Zion, geboren 1927 in Berlin. Nachdem sein Vater verhaftet worden war, flohen Eliezer und seine Mutter nach Lyon (Frankreich). Man brachte ihn und seine Familie in ein Gefangenen­lager in der Ardèche, später wurden sie verhaftet, weil sie gefälschte Papiere hatten. Nach seiner Freilassung kämpfte er in Frankreich im jüdischen Wider­stand und half so, die Leben von Tausenden Juden zu retten.

«Ich will, dass die nächste Generation sich daran erinnert, was wir ertragen mussten. Ich war ein jüdisches Kind, das in eine wunderschöne Welt der Kultur und Kunst hinein­geboren wurde. Eines von vielen Kindern, die in blühende jüdische Gemeinschaften in ganz Europa hinein­geboren wurden. Diese Gemeinschaften wurden völlig zerstört, sechs Millionen Juden wurden verfolgt und ermordet. Wir dürfen niemals vergessen!»

Emilie Roi, geboren 1936 in Kopenhagen, Dänemark. Als sie sieben Jahre alt war, floh ihre Familie in einem Fischer­boot vor den Nazis ins neutrale Schweden.

«Man kann von den Däninnen und Dänen viel darüber lernen, was zu tun ist, wenn sich eine so schreckliche Situation wiederholen sollte. Nach dem Krieg fragte ich: Warum taten nicht alle Menschen, was die Dänen getan haben? Warum haben sie nicht auch ihre Mitmenschen, die Juden, gerettet? Wir müssen die Menschen aufklären, damit sie verstehen, dass man immer versuchen muss, das Böse zu verhindern.»

Felix Sorin, geboren 1932 in Mogilev, Weissrussland. Nach dem deutschen Einmarsch in die Sowjetunion versuchte Felix’ Familie, nach Osten zu fliehen, aber Felix wurde in einem von Deutschland besetzten Gebiet zurückgelassen. Er wurde in das Ghetto von Minsk deportiert, aus dem er floh. Er lebte in verschiedenen Waisen­häusern in der Umgebung von Minsk, unter anderem in einem Kinder­heim in Drozdy.

«Die nächste Generation sollte sich an die schrecklichen Ereignisse erinnern, die sich während des Holocaust ereigneten. Und sie sollten alles tun, was in ihrer Macht steht, damit nichts dergleichen jemals wieder passiert.»

Hannah Pick-Goslar, geboren 1928 in Berlin. Hannah und ihre Familie zogen nach Amsterdam. Sie wurden ins Durchgangs­lager Westerbork gebracht und dann in das Konzentrations­lager Bergen-Belsen deportiert.

«Alle Menschen sind nach dem Ebenbild Gottes geschaffen. Wir sind alle gleich. Unabhängig von Hautfarbe oder Religion sollten wir versuchen, in Frieden zusammen­zuleben. Es ist sehr schwierig, ich weiss, aber wir sollten uns mehr Mühe geben, miteinander auszukommen.»

Maurice Gluck, geboren 1938 in Antwerpen, Belgien. Maurice und seine Familie versuchten, aus Antwerpen zu fliehen, wurden aber an der Grenze aufgehalten. Maurice wurde in Brüssel von einer christlichen Familie versteckt.

«Vergiss nie, aber versuche zu vergeben. Es gibt auf dieser Welt gute und schlechte Menschen. Versuche, die guten zu finden.»

Moshe Ha-Elion, geboren 1925 in Thessaloniki, Griechenland. Moshe wurde mit seiner Familie ins Konzentrations- und Vernichtungs­lager Auschwitz-Birkenau deportiert. Er wurde später in die Konzentrations­lager Melk und Ebensee geschickt und überlebte einen Todesmarsch zum Konzentrations­lager Mauthausen.

«Wenn jemand sagt, dass er dich ermorden will – glaub ihm. Vertrau nicht darauf, dass ein hassgetriebenes Ereignis wie der Holocaust der Vergangenheit angehört. Sei immer auf der Hut. Sei aufmerksam und wachsam. Pass auf, dass sich die Geschichte nicht wiederholt.»

Rabbi Israel Meir Lau, geboren 1937 in Piotrków, Polen. Rabbi Lau wurde in ein Zwangsarbeits­lager in Tschenstochau und von dort ins Konzentrations­lager Buchenwald deportiert.

«Liebe deine Mitmenschen wie dich selbst. Das lehrt uns unsere Tora. Seid einig. Sucht nicht nach Unterschieden, die den einen gegen den anderen ausspielen. Hasst nicht. Nehmt keine Rache. Das wird nur zu noch mehr Blut­vergiessen führen. Strebt nach Liebe und danach, das Universum wieder aufzubauen. Versucht eine Welt zu schaffen, in der Juden und Nichtjuden in Freundschaft und Frieden zusammen­leben können.»

Ruth Zuman, geboren 1934 in Eržvilkas, Litauen. Ruth wurde ins Ghetto von Eržvilkas deportiert, aber es gelang ihr, in die Wälder zu fliehen, wo verschiedene christliche Familien sie versteckten und so ihr Leben retteten.

«Wir müssen uns bemühen, gut und freundlich zu sein und einander mit Freundlichkeit und Einfühlungs­vermögen zu behandeln. Den Menschen um uns herum zu helfen, ist der einzige Weg, dieses Leben zu überleben.»

Yanina Ecker, geboren 1932 in Krakau, Polen. Yanina wurde nach Wieliczka umgesiedelt und von einem christlichen Ehepaar gerettet.

«Das jüdische Volk muss den Staat Israel schützen. Wir sind nirgendwo sonst auf der Welt erwünscht. Deshalb ist Israel der Ort, wo ich mich zu leben entschieden habe. Und wo ich sterben will.»

Yitshak Perlmutter, geboren 1935 in Makó, Ungarn. Yitshak und seine Familie wurden in einem Stadion in der Nähe von Szeged festgehalten und in einem Zug mit Destination Auschwitz-Birkenau platziert. Doch der Zug wurde nach Österreich umgeleitet, wo Yitshak in ein Konzentrations­lager gebracht wurde.

«Ich würde alles tun, um die Zeit zurückdrehen und zu jenem Moment zurückkehren zu können, als meine Familie noch vollständig war, vor der Verheerung des Holocaust. Jeder Mensch kann zwischen Gut und Böse wählen. Im Wesentlichen ist es eine Frage der Bildung und der Erziehung. Wir müssen zur Toleranz in der Welt erziehen. Wenn wir lernen, andere wertzuschätzen, kann die Welt wirklich ein wunderbarer Ort für alle sein.»

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Martin Schoeller – SURVIVORS Behind the Scenes

Zum Buch und zur Ausstellung

Martin Schoeller: «Survivors. Faces of Life after the Holocaust». Steidl, Göttingen 2020. 168 Seiten, 75 Abbildungen, ca. 39 Franken.

Im Unesco-Welterbe Zollverein in Essen findet noch bis 26. April eine Ausstellung zum Buch statt. Alle Informationen finden Sie hier.

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