«Wir fokussieren beim Klimaschutz oft zu sehr auf Details»

Muss man unbedingt Veganer werden, um das Klima zu retten? Und wie schlimm ist eigentlich Netflix? Antworten auf Fragen, die nach dem Klimagame der Republik aufgekommen sind.

Von Simon Schmid, 14.01.2020

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Die Republik hat letzte Woche das Klimagame lanciert: eine Simulation, bei der Spielerinnen in ein fiktives Profil schlüpfen und versuchen, den CO2-Fussabdruck signifikant zu senken.

Das Spiel hat im Dialog­forum viele Fragen aufgeworfen: Stimmt es wirklich, dass vegane Ernährung keinen grösseren positiven Einfluss auf das Klima hat? Bringt ein Wohnungs­wechsel wirklich etwas? Und: Wie steht es eigentlich um die CO2-Belastung von Streaming? Oder von Haustieren?

Umweltingenieur Christoph Meili ist nicht nur jener Wissen­schaftler, auf dessen Berechnungen das Klima­game basiert. Er ist auch ein lebendes Nachschlage­werk: Kaum eine Frage rund um den CO2-Ausstoss ist zu spezifisch, als dass er darauf nicht eine Antwort wüsste.

Grund genug, um noch einmal nachzuhaken. Und mit Meili darüber zu reden, was fürs Klima denn nun wirklich einen Unter­schied macht – und über welche Dinge wir uns nicht zu sehr den Kopf zerbrechen müssen.

Herr Meili, was ist schlimmer: Netflixen oder ins Kino gehen?
Es hängt von vielen Dingen ab: ob man den Film zu Hause auf einem Grossbildschirm schaut oder auf dem Tablet, womit die Räume geheizt oder gekühlt werden und mit welchem Strommix die Geräte laufen.

Was ist besser: ein Fertigmenü kaufen oder selbst kochen?
Es kommt unter anderem darauf an, für wie viele Personen man kocht, ob Zutaten aus dem eigenen Garten verwendet werden und ob man Reste verwertet oder wegwirft. Bei geübten, umwelt­bewussten Köchen ist selbst kochen tendenziell besser. Aber auch Fertig­menüs werden sehr effizient hergestellt. Es kann daher gut sein, dass sie für durch­schnittliche oder gestresste Köche die ressourcen­schonendere Wahl sind.

Wie schlimm ist es fürs Klima, wenn ich ein Haustier halte?
Wer ein Pferd hält, erhöht seinen CO2-Fussabdruck im Vergleich zum Durchschnitt um etwa 20 Prozent: Es braucht Futter, einen Stall und wird womöglich im Anhänger an Wettbewerbe gefahren. Dagegen trägt ein Hund nur 5 Prozent zum Footprint bei. Wobei nicht berück­sichtigt ist, dass Hunde­halter eventuell weniger oft mit dem Flugzeug verreisen.

Wie gut ist es fürs Klima, wenn ich Essens­abfälle kompostiere?
Wenn man Küchen­abfälle in die Biotonne wirft, werden sie meist industriell zu Biogas vergärt. Gibt man Küchen­abfälle in den normalen Abfall, landen sie in der Kehricht­verbrennungs­anlage. Dort entstehen Fernwärme und Strom für die Allgemein­heit. Das Kompostieren zu Hause erspart hingegen den Einkauf von Pflanzen­erde und bietet Klein­tieren Schutz und Nahrung. Jede Entsorgungs­variante hat also Vor- und Nachteile.

Scheint so, als wären allgemeine Empfehlungen schwierig.
Ja, und sie sind auch nicht notwendig. Denn die Fragen, die Sie gestellt haben, sind bezüglich Klima­wirksamkeit nicht relevant.

Warum nicht?
Weil sie quantitativ kaum ins Gewicht fallen. Wir fokussieren beim Klimaschutz oft zu sehr auf Details: auf Dinge wie die Plastik­säckli beim Einkaufen, mit denen wir im Alltag oft zu tun haben.

Plastiksäckli sind doch ein grosses Problem, oder?
Fürs Klima sind sie völlig irrelevant.

Wenn nicht auf Plastiksäckli, worauf sollte der Fokus dann liegen? Was sind die gravierendsten Posten, die man typischerweise übersieht?
Bisher ganz klar die Flugreisen. Daneben auch die Heizung, der Fleisch­konsum, die Auto­fahrten – und nicht zuletzt, ob man sich als Stimm­bürger für den Klima­schutz einsetzt.

Und was erhält am meisten ungerechtfertigte Aufmerksamkeit?
Dinge wie Rolltreppen, Verpackungen und Recycling. Die Klima- und Umwelt­belastung von sichtbarem Abfall wird überschätzt im Vergleich zum unsichtbaren CO2, das man zum Beispiel bei der Auto­fahrt zur Wertstoff­sammelstelle oder zum Verpackungsfrei-Laden ausstösst.

Wird auch die Schädlichkeit des Stromverbrauchs überschätzt?
In der Schweiz: Ja. Der hiesige Strom ist ziemlich CO2-arm. Anders wäre es in Deutsch­land oder in China: Dort wird aktuell noch mehr Elektrizität aus fossilen Quellen wie Kohle und Erdgas hergestellt.

Die Ernährung trägt typischerweise nur 15 Prozent zum CO2-Footprint bei. Trotzdem dreht sich fast jedes Klima­gespräch früher oder später um den Fleischkonsum. Zu Recht?
Jein. Wenn es darum geht, den Fuss­abdruck zu halbieren, ist das Essen tatsächlich nicht der ausschlag­gebende Faktor. Auf die lange Sicht kommt aber ein entscheidender Unter­schied ins Spiel: Mit erneuerbaren Energien und der Anwendung von CO2-neutralen Technologien wird es in vielen Bereichen möglich sein, Verbesserungen auch ohne Verhaltens­änderung zu erzielen. Bei der Ernährung gilt das jedoch nicht: Die Produktion von Fleisch, Milch­produkten oder Eiern benötigt deutlich mehr Ressourcen in Form von Futter­mitteln, als wenn wir pflanzliche Nahrungs­mittel direkt essen würden. Um dereinst tatsächlich auf einen Footprint von netto null zu kommen, werden wir unseren Fleisch­konsum einschränken müssen.

Auch jenen von Milchprodukten?
Ja. Kuhmilch ist fürs Klima fast so schlimm wie Fleisch. Eine lakto­vegetarische Ernährung löst das Klima­problem nicht. Eine allgemeine Bevorzugung von pflanzlichen Eiweiss­quellen schon.

Eine schlechte Nachricht für Käsefans wie mich.
Niemand muss sich rein vegan ernähren, um den Klima­wandel zu bremsen. Sofern Politik und Wirtschaft möglichst bald dafür sorgen, dass nur noch mit erneuerbaren Energie­quellen produziert wird, würde es genügen, wenn sich alle flexitarisch ernähren würden – also Fleisch- und Milch­produkte als etwas besonders Wertvolles seltener geniessen.

Kommen wir zur Mobilität, dem grössten Posten im typischen Schweizer Fussabdruck. Wie schlimm sind Langstreckenflüge?
Bei Flugreisen ist – nebst den Starts, die viel Sprit verbrauchen – die Distanz entscheidend. Rio de Janeiro liegt 14-mal so weit weg von Zürich wie Berlin. Entsprechend hoch sind die CO2-Emissionen eines Fluges nach Rio: Sie sind 9-mal so hoch wie jene eines Berlin-Flugs. Mit einem einzigen Hin- und Rückflug nach Neusee­land oder Australien kann sich der Jahres-CO2-Fussabdruck einer Einzel­person bereits verdoppeln.

Sagen wir, ich hätte seit drei Jahren ein benzin- oder dieselbetriebenes Auto: Soll ich es verkaufen und stattdessen ein Elektroauto anschaffen?
Entscheidend ist nicht, wie lange Sie das Auto schon besitzen, sondern wie viel Sie damit in Zukunft herum­fahren werden. Ab etwa 50’000 Kilometern sind die Umwelt­belastungen für die Produktion des Neuwagens durch den klima­schonenderen Betrieb mit Schweizer Strom wettgemacht. Ein Auto wird im Schnitt 120’000 bis 150’000 Kilometer gefahren: In den allermeisten Fällen lohnt sich also der sofortige Umstieg. Für Gelegenheits­fahrer bleibt die Kombination von öffentlichem Verkehr und Carsharing die beste Option.

Wie klimaschädlich ist eigentlich die Informatikbranche?
Sie verursacht etwa 4 Prozent der globalen Klimabelastungen. Dies ist etwa gleich viel wie die globale Luftfahrt. Allerdings sind die Trends sehr unterschiedlich: In der Informations- und Kommunikations­technologie stagnieren die Emissionen – die zunehmenden Daten­mengen und die effizienter werdenden Rechen­technologien halten sich in etwa die Waage. Im Flugverkehr können Effizienz­steigerungen jedoch nicht mit den stark wachsenden Bedürfnissen mithalten. In der Schweiz machen Flugreisen übrigens auch nicht 4 Prozent, sondern 15 Prozent des durchschnittlichen CO2-Fussabdrucks aus. Es ist deshalb viel dringender, das Klima­problem in der Luftfahrt mit politischen Massnahmen in den Griff zu kriegen.

«Beim Konsum gilt jeder Franken»: Stimmt dieses Fazit aus dem Klimagame?
Natürlich kann man einen Franken auch schlauer oder dümmer ausgeben. Kleider, Möbel oder Fahr­zeuge zu kaufen, an denen man lange Freude hat, macht Sinn. Aber im Grundsatz stimmt die Aussage schon.

Was tun mit dem Geld, das man nicht ausgibt? Investieren? Spenden?
In Projekte zu investieren, die der Allgemein­heit nützen, ist eine gute Idee. Zum Beispiel in Solar­genossenschaften, also Vereine, die Solar­anlagen aufstellen und damit Strom produzieren. Viele globale Mass­nahmen mit positivem Einfluss auf das Klima, die Umwelt und unsere Lebens­grundlagen sind zum Beispiel im Buch «Drawdown» beschrieben.

Kann man mit dem Geld auch einfach Klima­zertifikate kaufen?
Als freiwillige Massnahme: warum nicht. Idealerweise unterstützt man damit sogenannte Gold-Standard-Projekte, die gleichzeitig einen gesellschaft­lichen Nutzen bringen. Als Ersatz für eigenes Handeln sind Klima­zertifikate jedoch ungeeignet.

Warum?
Damit schnappt man sich letztlich die einfach umzusetzenden Massnahmen und überlässt die schwierigen der Allgemeinheit. Weltweit müssen wir die Treibhausgas­emissionen möglichst rasch auf null herunter­bringen – dafür braucht es uns alle. Klima­zertifikate sind also kein valider Ersatz für eigene Bemühungen zur Reduktion des CO2-Fussabdrucks.

Soll ich meine Flüge also nicht mehr kompensieren?
Wenn Sie bereits geflogen sind: Okay, dann ist es toll, wenn Sie das tun. Aber wenn Sie noch nicht geflogen sind, dann bleiben Sie besser zu Hause und verwenden das gesparte Geld sinnvoller. Kein Klima­zertifikat der Welt kann eine emittierte Tonne CO2 ungeschehen machen. Auch nicht, wenn man sie doppelt kompensiert.

Schade – genau das habe ich nach meiner letzten Ferienreise gemacht.
Wie gesagt: Im Nachhinein ist dies löblich. Die Kompensation jedoch als Entschuldigung für die Flugreise zu nehmen, ist kontraproduktiv.

Ist es auch kontraproduktiv, wenn man in ein Minergiehaus umzieht – und im Gegenzug jemand anders die bisherige Altbauwohnung nimmt?
Nein. Ein solcher Umzug erhöht die Nachfrage nach Minergie­bauten. Wenn Leute, die das Geld haben, in solche Häuser ziehen, kurbelt dies den Markt an. Allerdings wird der Markt allein es nicht richten: Die Politik muss auch mit Grenz­werten und Förder­massnahmen dafür sorgen, dass ältere Häuser energetisch saniert werden. Damit wir die Klima­ziele schaffen, sollten Gebäude irgendwann überhaupt kein CO2 mehr ausstossen.

Dieses tun, jenes unterlassen: Die ständigen Klima­überlegungen sind unglaublich anstrengend.
Genau deshalb braucht es staatliche Vorgaben. Sei es mit klaren Grenz­werten oder mit sogenanntem Nudging: einem Anstupsen in die richtige Richtung.

Nudging: Was bedeutet das konkret?
Nudging heisst, dass Sie sich nicht dauernd selbst zu klima­freundlichem Handeln überwinden müssen. Ein Beispiel sind Vorgaben für Kantinen: Wenn diese verpflichtet werden, vegane Menüs attraktiver zu präsentieren und zum Beispiel als Menü 1 anstelle von Schnitzel-Pommes frites anzubieten, werden viele Konsumentinnen ohne lange zu überlegen nach dem veganen Menü greifen.

Unter 4 Tonnen bringt man den Fussabdruck als Schweizer aber kaum – wie soll da Nudging helfen?
Den Footprint auf 4 Tonnen zu senken, wäre grandios. Hierzu ist bereits ein grosser persönlicher Effort notwendig, den wohl die wenigsten auf sich nehmen möchten. Damit uns dies leichter fällt und wir möglichst rasch auf die global geforderten null Tonnen kommen, braucht es wie gesagt die Politik: Sie muss die Rahmen­bedingungen setzen, damit sich die Wirtschaft und die Gesellschaft so verbessern, dass sie sich langfristig nicht selbst kaputtmachen.

Lohnt sich der Aufwand wirklich? Die Schweiz ist bloss für 0,2 Prozent der weltweiten Emissionen verantwortlich. Unser Beitrag fällt überhaupt nicht ins Gewicht.
Ein komisches Argument! Nach dieser Logik müssten Sie als Bürger auch keine Steuern zahlen oder könnten im Super­markt gratis Waren mitnehmen, denn auf diesen kleinen Umsatz­anteil kommt es ja wirklich nicht an.

Okay, unser Beitrag fällt doch ins Gewicht.
Ja, wir sind alle für den Schadstoff­ausstoss verantwortlich und sollten uns deshalb auch alle dafür einsetzen, dass er verschwindet. Die Schweiz ist ein reiches Land, dessen Einwohner pro Kopf doppelt so viel CO2 ausstossen wie der Welt­durchschnitt. Da ist ein Reduktions­beitrag definitiv Pflicht.

Zur Person

zvg

Christoph Meili arbeitet als Projektleiter bei der Firma ESU-services und ist bei WWF Schweiz verantwortlich für Ökobilanz­fragen mit Bezug zu Konsumthemen. Er hat an der ETH Zürich Umwelt­ingenieur­wissenschaften studiert mit Vertiefung in den Bereichen Ökologisches Systemdesign und Entsorgungs­technik sowie Bodenschutz. Von 2013 bis 2017 leitete er das WWF-Workpackage zu «large-scale awareness campaigns» im EU-Forschungsprojekt DecarboNet.

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