Lieber Lukas …

Offener Brief von Autor Jürg Halter als Replik auf das Gespräch mit Schriftsteller Lukas Bärfuss.

Von Jürg Halter, 13.01.2020

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Lieber Lukas Bärfuss

Du machst es mir nicht einfach! Und das ist gut. Mit vielem, was Du im Interview mit der Republik sagtest, bin ich einverstanden, mit einigem nicht, und ein paar entscheidende Überlegungen fehlen mir in Deiner Analyse zu … zu was eigentlich? Zu sehr vielen Themen. Bärfuss, die Meinungsmaschine!

Was uns verbindet: Wir haben beide eine narzisstische Störung, denn wir sind Schrift­steller, das heisst, wir suchen die Öffentlichkeit, leben vom Publikum. Und schon sind wir mitten in einem der Themen, über die Du im Gestus des heiligen Zorns Auskunft gegeben hast. Sodass man beinahe Angst hat, Dir zu widersprechen. Aber da Du forderst, dass man «Mut üben muss», sehe ich diese Replik als loyalen Akt.

Du sprichst also vom Niedergang der Öffentlichkeit, wie Sorge und Verantwortung der Medien schwänden, wie die totale Ökonomisierung dafür verantwortlich sei: Da bin ich sehr einverstanden mit Dir. Ist Dir indessen aufgefallen, dass Du auch davon profitierst? Menschen mit zugespitzten politischen Meinungen erhalten mehr Aufmerksamkeit denn je. Immer weniger Menschen kriegen immer mehr Aufmerksamkeit. Den Lauten, oder positiver gesagt, den Mutigen gehörte schon immer die Welt, aber die Digitalisierung hat dazu geführt, dass die Medien ihre «Ethik» zunehmend durch Clickbait ersetzt haben. Und die meisten Klicks gibt es für die provokativsten Äusserungen. Zwischen­töne, Differenzierungen, leise Zweifel haben es in der digitalisierten Medien­welt immer schwerer. Ich sehe das auch bei mir selbst. Wenn ich neue Gedichte veröffentliche – was zum Kern meines Schaffens gehört –, interessiert das die Medien kaum, wenn ich hingegen auf meiner Facebook-Seite die Blindheit der Linken gegenüber dem Islamismus kritisiere, dann bekomme ich umgehend Anfragen für Interviews. Interviews, die dann unter einem möglichst tendenziösen Titel veröffentlicht werden.

Nach all den Shitstorms und Gegen­shitstorms im Jahre 2019 muss man leider einmal mehr feststellen: Die Digitalisierung trägt im Allgemeinen stark zur Selbst­gerechtigkeit, Verblödung und Verrohung bei.

Wie Du richtig feststellst: «Eine funktionierende Öffentlichkeit ist für ein Staats­wesen so notwendig wie die Infrastruktur.» Ich bin auch mit Dir einverstanden, dass staatlich finanzierte Medien dafür nicht die alleinige Lösung sein können. Misst man etwa SRF an den eigenen Ansprüchen und klickt sich dann durch das in nicht wenigen Teilen infantile und Swissness-versiffte Programm, kommt man bisweilen zum Schluss: Unter Vielfalt wird die Vervielfältigung von Einfalt verstanden.

Hier siehst Du die Politik zu Recht in der Verantwortung. Wie bei den meisten Themen stellst Du grosse Forderungen. Während der Lektüre stellte sich mir plötzlich die Frage, weshalb wir denn als Schrift­steller, die sich oft politisch äussern, nicht selbst in die Politik gehen? Wenn wir es doch besser wissen? Vielleicht weil wir ebenso wissen, dass demokratische Politik immer Kompromiss bedeutet, dass man sich zwangsläufig mit Inkonsequenz beschmutzen muss? Dass man ohne Partei­zugehörigkeit und ohne auf Partei­linie zu sein, keine Karriere in der Politik machen kann? Weil die tägliche politische Arbeit an der Front wenig mit Heldentum zu tun hat? Du behauptest: «Der Fitteste im Raum diktiert die Politik.» Also, lieber Lukas, wann können wir mit Deiner Bundesrats­kandidatur rechnen?

Ernsthaft: Ist die Politik wirklich schlechter geworden, wie Du behauptest? Ist nicht vor allem auch die Welt komplexer und sind die Ansprüche an Politikerinnen höher, zu hoch geworden? Auch zur Schwächung der Demokratie hat die manipulier­wütige Digitalisierung viel beigetragen. Mit Blick auf China kann man gar prognostizieren: Der digitalen Diktatur gehört die Zukunft. Oder wie Bundesrat und Super­technokrat Berset nicht müde wird zu wiederholen: «Digitalisierung als Chance.»

Doch Lukas, kann eine funktionierende liberale Demokratie anders als träge, inkonsequent und selbstverlogen sein? Ist sie, seit es sie gibt, nicht in einer permanenten Krise? Gehört das nicht zu ihrem Wesen?

Ich werde konkreter: Die Grünen hältst Du für unwählbar, weil sie nicht den Menschen, sondern die Ökologie ins Zentrum stellen. In Deiner gnadenlosen Zuspitzung ist es selbstverständlich richtig, den Grünen-Hype von dieser Seite zu beleuchten. Auch wenn sich die Grünen von einer Ecopop-Initiative nicht nur distanziert, sondern sich gegen sie engagiert haben. Ebenso verschweigst Du den Beitrag der Grünen zur Verhinderung eines noch drastischeren Sozial- und Bildungs­abbaus durch die – dank intransparenter Parteien­finanzierung – weitaus reichsten Parteien der Schweiz: FDP und SVP. Aber damit dieser offene Brief nicht kuschelig wird, möchte ich in Deiner Konsequenz hier ergänzend ebenso die SP kritisieren. Zuerst: Es hat mich gestört, dass Du keinen klaren Unterschied zwischen Schröders neoliberaler SPD und der SP Schweiz gemacht hast: Was die Sozial­politik betrifft, hat die SP ihre Werte nie so fundamental verraten wie die SPD, die nun auch den hohen Preis dafür zahlt und für den Aufstieg der AfD mitverantwortlich ist.

Die SP hat ein anderes Problem, das sie wiederum mit den meisten ihrer europäischen, linken Schwester­parteien teilt: Sie stellt zunehmend die Identität und nicht mehr den Menschen ins Zentrum. Wenn die Identität aber wichtiger wird als das Individuum, dann ist dies nur die Umkehrung von rechter Politik: Das Fremde ist dann nicht das Böse, sondern das Gute. Beide Vorstellungen sind auf ihre Art falsch und dumm. Im Grund ist jeder Mensch gut und böse. Die Linken müssten folglich bei allen Themen wieder konsequent die Gleich­berechtigung ins Zentrum stellen, ohne den «alten weissen Mann» als Täter gegen die «junge Frau mit Migrations­hintergrund» als Opfer auszuspielen. Mit dieser destruktiven Erzählung ist nichts gewonnen. Für niemanden.

Ein wichtiger Punkt, der mir in diesem Zusammenhang bei Deiner Kritik an den Linken auch fehlt, ist der – als Frage formuliert: Weshalb hört man eigentlich kaum prominente linke Stimmen, die sich in gleicher Weise gegen den Islamismus wie gegen den Rechts­extremismus aussprechen? Sind Antisemitismus, Homo­phobie, Rassismus und Frauen­hass etwa nur zu verurteilen, wenn sie von rechts kommen? Polemischer gesagt: Nach jedem Terror­anschlag hoffen die Linken auf einen Nazi, die Rechten auf einen Islamisten als Täter. Wenns dann klar wird, wer der Täter ist, verstummt die eine Seite plötzlich. Das ist gelebte Doppel­moral. Als ob nicht beides in gleichem Masse zu verurteilen wäre.

Während die sogenannte bürgerliche Mitte die Gefahr durch Rechts­extreme lange erfolgreich kleinredete und es immer noch tut (oder gar wie die CDU/CSU teils mit der AfD zu paktieren beginnt), verdrängen die meisten Linken in Europa die Gefahr durch den Islamismus. Der Antisemitismus-Verharmloser Corbyn ist nur ein bekanntes Beispiel für diese Haltung.

Alleine der Gastgeber der nächsten Fussball-WM, Katar, finanziert in ganz Europa 140 Moschee­bauten, Kultur­zentren und Schulen, in denen das fundamental-islamistische Gedanken­gut weitgehend unkontrolliert verbreitet wird: Erniedrigung der Frau, Hass auf Homo­sexuelle, Anders­gläubige und Ungläubige. Von der bei uns aktiven türkischen Religions­behörde Diyanet, vom Terror­finanzier Nr. 1 der Welt Saudiarabien (ein Hoch auf unsere Kriegs­waffen­industrie!), von zu einem grossen Teil in islamistischen Diktaturen ausgebildeten oder von diesen finanzierten hiesigen Imamen und dem Scharia-Aktivismus der Muslim­brüder ganz zu schweigen.

Das Perfideste daran: Die Linken kennen vor allem keine Solidarität mit denen, die am meisten unter Islamisten leiden: liberale Muslime und Ex-Muslime, die sich unter Lebens­gefahr für Säkularisierung aussprechen. Vielmehr lassen sich Linke von erzkonservativen Islamisten, die jegliche Kritik am politischen Islam als «Islamophobie» diffamieren, vorführen. Zum Kern linken Denkens gehörte einst Religions­kritik. Davon ist heute nur noch die Kritik am Christentum übrig geblieben. Mit dieser antiaufklärerischen Selbst­verleugnung hat die Linke im vergangenen Jahrzehnt bestimmt nicht wenige Menschen direkt an die Rechten verloren.

Du siehst, ich springe unfröhlich vom einen zum anderen Thema. Aber wie sonst könnte ich dem Interview mit Dir gerecht werden, das so vieles abhandelte?

Um in der Schweiz zu bleiben: Du sagst, dass man von den Grünen zur AHV-Reform kaum was höre. Das ist leider richtig. Woran liegt dieses Schweigen? Vielleicht weil gemessen an der Wahl­beteiligung schon heute keine Partei mehr Grund zum Jubeln hat. Fürchten die Parteien, noch mehr an Bedeutung zu verlieren, falls sie uns die ganze Wahrheit zumuten würden? Zum Beispiel, wenn sie uns verkünden müssten, was die Voraussetzungen wären, den Klima­wandel unverzüglich zu stoppen; nämlich Steuern hoch, Gebühren auf Ferien im Ausland, stark reduziertes Fleisch-, Benzin- und Textil­angebot, Verbot von Zweitwagen und -wohnungen, vorläufiges Wiederhochfahren oder gar Neubau von Atom­kraft­werken, Endlager­bau in unseren Vorgärten.

Ist es ehrlicherweise nicht auch so, dass wir Menschen insgeheim ein Stück weit belogen und mit falschen Hoffnungen vertröstet werden wollen? Weil wir die ganze Wahrheit auf Dauer nicht aushalten können? Ach!

Du sagst: «Ich glaube, dass die Veränderungen institutionell passieren müssen und nicht nur auf der Ebene der persönlichen Mentalität.» Zweifellos, letztlich. Aber die Kraft einer Bewegung wie «Friday for Future» hat doch Millionen Jugendlichen den Glauben geschenkt, etwas verändern zu können, Einfluss auf Politik und Wirtschaft zu haben. Wahrscheinlich werden deswegen einige von ihnen (nach einer ersten Enttäuschung) gar selbst in die Politik gehen. Du sagst beinahe frei von Eitelkeit: «Kürzlich war ich in der Reitschule Bern, und es kamen 400 25-Jährige. Dann denke ich, cool.» Müsstest Du angesichts der weltweit Millionen von demonstrierenden Klima­jugendlichen denn nicht euphorisch ausrufen: «Oh, shit! Wie geil ist das denn?! Ich raffs gar nicht! OMG! Die Jugend ist der Vernunft!»

Du behauptest, die Klima­politik sei multilateral «die grosse Kiste», aber in der Schweizer Innenpolitik werde es beim CO2-Gesetz keine fundamentale Veränderung geben. Das mag stimmen. Doch sollte man das Parlament nicht gerade deshalb dringend daran erinnern, dass sich die Schweiz oft selbst gerne als internationales Vorbild sieht und als Land, das zahlreiche internationale Organisationen beheimatet, mutig vorausgehen könnte mit einer sozial­verträglichen humanistischen (in Deinem Sinne!) Klima­politik, die diesen Namen auch verdient? Wenn keine Nation den Anfang macht, dann bewegt sich auch multilateral weiterhin nichts. Jedenfalls würde die hochprivilegierte Globalisierungs­gewinnerin Schweiz ein solches Anfangen der Welt schulden – Entschuldigung! Klar, ein naiver Gedanke von mir, denn anderseits wird es immer offensichtlicher: Die Klima­wende scheint eben auf demokratischem Wege nicht zu schaffen zu sein. Weder sind die Mächtigen weltweit noch ist sonst irgendjemand bereit, Privilegien zu verlieren. Eine tief beunruhigende Erkenntnis, die da reift – der CO2-Gehalt in der Atmosphäre hat 2019 zwar den höchsten Wert der Menschheits­geschichte erreicht, aber Lukas, ja, wir werden deshalb noch nicht zu Pessimisten!

Puh! Schon eile ich weiter mit Dir – zu Donald Trumps USA: «Demokraten berauschen sich an ihrem aussichtslosen Impeachment.» Ja, und ich glaube, Trump wird wiedergewählt werden. Wie konnte es so weit kommen? Das Offensichtliche wurde und wird von den meisten zu lange übersehen: Die liberalen Medien (inklusive Komiker) reagieren vor allem in den USA seit Jahren genau so auf Trump, wie er sich dies vorstellte, und sie verdrängen dabei zusehends, wie wenig es ihm politisch schadet. Im Gegenteil. Der Troll kriegt die ganze Aufmerksamkeit. Das Resultat: Nun gibts offensichtlich keine mehrheits­fähige demokratische Gegen­kandidatur. Hier sollte Europa lernen! Gebt Rechts­populisten nicht übermässig viel Medien­aufmerksamkeit. Wie kritisch diese auch gemeint ist – sie dient ihnen vor allem.

Doch welche Linke brauchen wir nun? Du sagst: «Meiner Ansicht nach hätte die Linke vor allem internationalistischer, also multilateraler werden sollen.» Das ist mir eine zu vage Aussage. Eine globalisierte Linke? Mir fehlt der Glaube, denn die Menschen wählen Parteien da, wo sie leben, wollen konkrete Lösungen für Probleme, die sie unmittelbar im Alltag betreffen. Und nach dem Kommunismus kann man sich als liberaler Demokrat schlecht zurücksehnen. Und eine europäische Linke? Wie soll das möglich sein in einem Europa, das von der techno­kratischen, grenzsicherungs­fanatischen EU bestimmt wird, angeführt vom europäischen Moralismus­könig Deutschland? Einem Deutschland, das von europäischer Solidarität bloss schwätzt, während es zu seinen Gunsten Griechenland ausbluten liess. Und da wir schon bei Europa sind: Ich weiss nicht, was Du für ein Bild von diesem Kontinent hast, wenn Du von der «europäischen Wohlstands­gesellschaft» sprichst. In Bulgarien etwa ist jeder Fünfte extrem arm. Auch in Rumänien und eben Griechenland haben viele nicht genug zu essen. Die Jugend­arbeitslosigkeit in Italien und Spanien liegt bei 30 Prozent. Kurz: Es gibt kein Wir in Europa. L’Europe n’existe pas. Aber Du hast recht: Ein nicht geeintes Europa kann gegen die Weltmächte USA und China nicht bestehen und … ach, mir wirds grad kurz schwarz vor Augen … Verfluchte Komplexität!

Ein erneuter kleiner Sprung apropos Armut: Du erzählst zwar explizit von Deiner jugendlichen Obdachlosigkeit, aber gehst mit keinem Wort konkret auf Deine heutige finanzielle Situation ein: Du hast am Schauspiel­haus Zürich und am Theater Basel jahrelang Dein Geld verdient, hast Subventionen und zahlreiche Preise für Deine Arbeit erhalten. Sodass sich sicherlich mancher Neider fragte: Ist die Schweiz des Wahnsinns? Aber die Hand, die einen füttert, beisst man bekanntlich nicht. Das gilt auch für uns Künstler. Dennoch möchte ich anmerken: Stadt­theater sind durchaus Orte der Macht, die man als Künstler, gerade wenn man von ihnen lebt, stärker kritisieren sollte. Die haben zwar alle Stücke über soziale Ungerechtigkeit auf dem Spielplan, aber sind selber von Lohn­intransparenz, Elite­denken, zuweilen auch Führungs­inkompetenz, Korruption und Sexismus durchsetzt. Und werden selbst­verständlich nicht von sogenannt unteren Schichten besucht; nur mitfinanziert. Da fällt mir, beinahe spontan, Max Frisch ein: «Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.» Davon sind wir beide nicht ausgenommen.

Bevor ich zum Schluss meines vom Scheitern bedrohten Unterfangens komme, auf beinahe alles einzugehen, worüber Du geredet hast, möchte ich eine Wende nehmen und zu Deiner Behauptung kommen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland keine Entnazifizierung stattgefunden habe. Ja, aber das lernte ich in der Sekundar­schule, dass kein Richter aus der Zeit des National­sozialismus später juristisch belangt wurde. Das hat mich damals schockiert. Es ist also entgegen dem, was Du behauptest, kein Tabu.

Nur interessiert es ausser Historikern tragischer­weise kaum jemanden mehr. Oder es dient eben als Erklärung für den AfD-Aufstieg, was ich für zu einfach halte. Eine Frage dazu: Wie hätte denn die Transition ablaufen sollen? Hat nicht noch jeder Regime­wechsel grosse Teile der alten Eliten und des alten «Mittelbaus» mitgenommen? Wohl oder übel mitnehmen müssen? Was Du nicht erwähnst: Mit den Achtundsechzigern kam zum Glück ein weitgehender gesellschaftlicher und auch institutioneller Bruch mit den Nazis. Klar ist: Vergangenheits­bewältigung oder eben besser «historische Gerechtigkeit» (so der Historiker Raphael Gross in einem Gespräch mit der Republik) kann es niemals genug geben. So gesehen gibt es keine mir bekannte Nation mit einer vorbildlichen Vergangenheits­bewältigung. Deutschland als Menschenvernichtungs­weltmeister steht selbst­verständlich in einer aussergewöhnlichen Verantwortung.

Die ungenügende Aufarbeitung erklärt aber, so denke ich, kaum das erneute Erstarken von Rechts­extremen in Deutschland. Du sagst: «Es gibt in jeder Gesellschaft zwischen 20 und 30 Prozent Fremden­feinde und Anti­demokraten.» Und man müsse diese in der Minderheit halten. Aber was heisst das? Fremden­feindlichkeit und Anti­demokratismus ist ja nicht einfach identisch, und wer definiert diese unter welchen Kriterien? Ja, klar müssen diese Kräfte in der Minderheit gehalten werden, aber an eine Fremden­feindlichkeit von Natur aus möchte ich dennoch nicht glauben, ebenso wenig übrigens wie an eine natur­gegebene Welt­offenheit. Ich denke, der Aufstieg einer AfD hat viel mehr mit der katastrophalen Sozial- und Wirtschafts­politik (auch in Bezug auf die Wieder­vereinigung) und teils mit einer naiven, unter­finanzierten Migrations­politik zu tun als mit fehlender Entnazifizierung, also mehr mit dem Versagen der deutschen Volks­parteien (oder dem, was mittlerweile von ihnen übrig geblieben ist). Den Rechts­populisten die Schuld an ihrem eigenen Aufstieg zu geben, wie es die grossen Parteien tun, um vom eigenen Versagen abzulenken, das überhaupt dazu geführt hat, ist grotesk. Das Resultat: Rechts­populisten gewinnen weiter und radikalisieren sich. AfD und Konsorten bleiben dennoch Symptom. Solange der techno­kratische Turbo­kapitalismus weiterhin so ungehindert herrscht, haben es Populisten leicht. Und wenn dann die sogenannte Mitte kippt? Gute Nacht. Denn wenn diese kippt, das wissen wir auch aus der Geschichte, kippt sie fast immer nach rechts.

Historische Gerechtigkeit bleibt also ein Ideal, das es immer wieder von neuem hochzuhalten gilt. Ich danke Dir für Deinen wichtigen Beitrag dazu. Doch ich finde, dass Du den Fokus mehr auf all die Initiativen lenken solltest, die sich seit Jahr­zehnten gegen Rechts­extreme engagieren (und das in vielen Fällen unentgeltlich). Man kann die Aufmerksamkeit, die man selbst erfährt, auch dazu einsetzen, auf andere aufmerksam zu machen. Und wenn Du sagst «Sarajevo hat mich traumatisiert», denke ich mir: Was hat es dann mit jemandem gemacht, die oder der den Krieg tatsächlich erlebt und überlebt hat? Wäre hier Deinerseits nicht mehr Selbst­zurücknahme angebracht?

Nun komme ich, schon fast atemlos, zum Schluss meines langen Briefes, der vielleicht mehr als Anfang eines Gespräches zu verstehen ist. Deine Behauptung, dass die bürgerliche Klein­familie eine geschichtliche Fehl­entwicklung sei, möchte ich an dieser Stelle einfach mal so stehen lassen … mir jedenfalls haben meine Eltern das Leben gerettet. Aber man sollte nie von sich selbst auf andere schliessen, nicht wahr?

Du fragtest im Interview: «Wann sind wir der Illusion verfallen, der Fortschritt sei ein Selbst­läufer und es werde jetzt nur noch vorwärts­gehen?» Da möchte ich, o Eitelkeit, mit Kaspar, dem Protagonisten aus meinem letzten Buch, antworten: «Nach Aufklärung folgt Verklärung. Es gibt keinen Fortschritt menschlicher Moral. Der Mensch erkennt und vergisst. Ein Tag hat 24 Stunden. Der Mensch mutmasst, wo er kann.»

Wir haben also beide noch viel Arbeit vor uns! Kommen wir aus dieser Beziehungs­krise jemals wieder raus? Ich bin zuversichtlich, denn Du sagst in christlicher Weise: «Das Wichtigste ist die Hinwendung zu meinen Mitmenschen. Das Ideal muss sein, dass wir diese Haltung bei jedem Menschen empfinden, bei jedem. Für den Geringsten. Für den Unsympathischsten.»

Wie schwierig das hingegen im Konkreten ist, zeigt ein Zitat des Pianisten Igor Levit, der sich prominent gegen Rechts­extremismus engagiert; auf Twitter schrieb er: «AfD-Wähler sind Menschen, die ihr Menschsein verwirkt haben.» Wem dienen solche menschen­feindlichen Aussagen? Bestimmt nicht dem Kampf gegen Rechts­extreme. Wenn die Nächstenliebe immer mehr zu einer reinen In-Group-Liebe verkommt, verkümmert sie. Die Minimal­frage lautet doch: Trägt man selbst mehr zum Spalten oder zum Kitten der Gesellschaft bei? Das Spalten machen die Rechten ja hervorragend – müssten sich die Linken, die Liberalen und die Konservativen also nicht vor allem auf das Kitten konzentrieren; auch wenn das viel schwieriger ist? Mit welchem Tonfall erreicht man welche Leute? Wie überzeugt man Menschen mit Argumenten, die nicht mehr auf Argumente hören? Eine scheinbar unlösbare Aufgabe. Aber wir sind ja – nochmals – keine Pessimisten, oder, Lukas?

Letzte Frage: Wie sähe die Welt aus, wenn alle Menschen die Schuld in dem Masse, wie sie sie bei anderen suchen, bei sich selbst suchen würden? Ich glaube, die Stille würde die Welt­macht übernehmen.

Ich hoffe, Du nimmst meine Zeilen im Sinne der Nächsten­liebe an.

Mit unideologischen Grüssen

Jürg Halter

Zum Autor

Jürg Halter, 1980 in Bern geboren, wo er lebt. Schrift­steller, Spoken-Word-Artist und Improvisator. Zahl­reiche Buch- und CD-Veröffentlichungen sowie Arbeiten fürs Theater. Regel­mässig Auftritte in ganz Europa, in den USA, in Afrika, Süd­amerika, Russland und Japan. Zuletzt erschien sein Roman­debüt «Erwachen im 21. Jahrhundert».

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