Wer wird Nazi?

Wenn morgen die Nazis die Macht übernehmen würden, wer würde ihnen folgen? Das lustige Ratespiel für jede Party!

Von Dorothy Thompson (Text), Oliver Fuchs (Übersetzung) und Sany (Illustrationen), 31.12.2019

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Zu diesem Essay

Die Schriftstellerin und Journalistin Dorothy Thompson (1893–1961) berichtete nach dem Ersten Weltkrieg für die Zeitungen «Philadelphia Public Ledger» und «The New York Evening Post» aus Deutschland, wo sie den Aufstieg der Nazis hautnah beobachtete. Am 25. August 1934 musste Thompson Deutschland innerhalb von 24 Stunden verlassen. Sie war die erste Ausland­korrespondentin, die des Landes verwiesen wurde. NS-Propaganda­minister Joseph Goebbels vermerkte in seinen Tage­büchern über sie: «Es ist beschämend und aufreizend, dass so dumme Frauen­zimmer, deren Hirn nur aus Stroh bestehen kann, das Recht haben, gegen eine geschichtliche Grösse wie den Führer überhaupt das Wort zu ergreifen.» Während des Zweiten Weltkriegs erschienen ihre Beiträge regelmässig in etwa 150 Zeitungen. Ihr Essay «Who Goes Nazi?» wurde im August 1941 im «Harper’s Magazine» veröffentlicht.

Es ist ein interessantes und etwas makabres Gesellschafts­spiel, am besten spielt es sich in Gruppen: zu spekulieren, wer zum Nazi würde, wenn es darauf ankäme. Inzwischen glaube ich es zu wissen. Ich habe Erfahrungen gesammelt, in Deutschland, in Österreich und in Frankreich. Ich habe die verschiedenen Typen von Menschen kennengelernt: die geborenen Nazis, die Nazis, welche die Demokratie zu Nazis gemacht hat, die garantierten Mitläufer. Und ich kenne auch die Menschen­typen, die niemals, unter keinen erdenklichen Umständen, zu Nazis werden würden.

Zu glauben, dass die beiden Gruppen sich durch rassische Merkmale unterscheiden, ist absurd. Die Deutschen sind vielleicht tatsächlich anfälliger für das Nazitum als andere, ich bezweifle das aber. Juden sind ausgeschlossen vom Nazitum, aber das ist reine Willkür. Ich kenne viele Juden, die geborene Nazis abgeben würden, die morgen schon «Heil Hitler» rufen würden, wenn man ihnen nur die Gelegenheit dazu gäbe. Es gibt Juden, die ihre eigenen Vorfahren verleumdet haben, um «Ehren­arier und Nazis» zu werden; es gibt Vollblut­juden, die begeistert in Hitlers Geheim­dienst eingetreten sind. Das Nazitum hat nichts mit Rasse und Nationalität zu tun. Es ist verführerisch für eine bestimmte Art von Intellekt.

Das Nazitum ist auch, in einem immensen Ausmass, die Krankheit einer Generation – der Generation, die am Ende des Ersten Welt­kriegs entweder jung oder noch nicht geboren war. Das gilt für Engländer, Franzosen und Amerikaner ebenso wie für Deutsche. Es ist die Krankheit der sogenannten «verlorenen Generation».

Manchmal denke ich, dass direkte biologische Faktoren mitspielen – eine bestimmte Art von Erziehung, von Ernährung und körperlicher Ertüchtigung, die eine neue Art von Mensch hervorgebracht hat, einen Menschen mit einem Ungleich­gewicht in seiner Natur. Er wurde mit Vitaminen gefüttert und mit Energien vollgepumpt, die seine intellektuellen Fähigkeiten nicht disziplinieren können. Seine Erziehung hat ihm jede Hemmung genommen. Sein Körper ist vital. Sein Geist ist kindisch. Seine Seele wurde fast völlig vernachlässigt.

Wie dem auch sei, schauen wir uns im Raum um.

Der Herr mit einem fast unberührten Glas Whisky neben sich auf dem Kamin­sims ist Herr A., Spross einer der grossen amerikanischen Familien. Es hat nie ein amerikanisches Who’s-who-Buch gegeben, in dem nicht mehrere Personen seines Nachnamens gelistet sind. Er selbst ist arm und verdient seinen Lebens­unterhalt als Lektor. Herr A. hat eine klassische Erziehung genossen; hat einen soliden und kultivierten Geschmack für Literatur, Malerei und Musik; hat keinen Hauch von Snobismus in sich; ist voller Humor, Höflichkeit und Witz. Er war Leutnant im Weltkrieg, ist Republikaner, hat aber zweimal für Roosevelt gestimmt, zuletzt für Willkie. Er ist bescheiden, nicht ausgesprochen brillant, ein treuer Freund und ein Mann, der die Gesellschaft von hübschen und geistreichen Frauen sehr geniesst. Seine Frau, die er verehrt hat, ist tot, und er wird nie wieder heiraten.

Er ist nie durch aussergewöhnliche Tapferkeit aufgefallen. Aber ich lege meine Hand ins Feuer dafür, dass nichts auf der Welt ihn jemals zum Nazi machen könnte. Er würde nur sehr ungern gegen sie kämpfen, aber sie könnten ihn nie bekehren.

Warum nicht?

Neben ihm steht Herr B., ein Mann aus seiner eigenen Klasse, Absolvent der gleichen Vorbereitungs­schule und Universität, reich, sportlich, Besitzer eines berühmten Rennstalls, Vizepräsident einer Bank, verheiratet mit einer bekannten Upper-Class-Schönheit. Er ist ein Biedermann – und sehr beliebt. Aber wenn die Nazis in Amerika einzögen, dann würde er sich ihnen anschliessen, und zwar bereits früh. Warum?

Warum der eine – und der andere nicht?

Herr A.’s Leben ist stark von seinem persönlichen Verhalten geprägt. Obwohl er kein Geld hat, haben ihm sein unaufdringlicher Charakter und seine Erziehung immer eine gute Stellung verschafft. Er hat nie in scharfem Wettbewerb mit anderen gestanden. Er ist ein freier Mann. Ich bezweifle, dass er jemals in seinem Leben etwas getan hat, was er nicht tun wollte – oder das gegen seinen Kodex verstossen hätte. Das Nazitum würde nicht seinen Standards entsprechen, und er hat sich nie daran gewöhnt, irgendwelche Zugeständnisse zu machen.

Herr B. dagegen ist durch seine Gesundheit, sein gutes Aussehen und seine Geselligkeit über seine wirklichen Fähigkeiten hinaus­gewachsen. Er hat für Geld geheiratet, und er hat viele andere Dinge für Geld getan. Sein Kodex ist nicht sein eigener; es ist der seiner Klasse – nicht schlechter, nicht besser. Herr B. passt leicht in jedes Muster, das erfolgreich ist. Einzig daran misst er den Wert einer Sache – am Erfolg. Als Minderheiten­bewegung würden ihn die Nazis nicht anziehen. Als eine Bewegung, die wahrscheinlich an die Macht käme, schon.

Der finster dreinblickende Mann, der dort drüben gerade mit einer reizenden französischen Emigrantin spricht, ist bereits ein Nazi. Herr C. ist ein brillanter und verbitterter Intellektueller. Er war ein armer weisser Südstaaten­junge, ein Stipendiat an zwei Universitäten, wo er alle schulischen Auszeichnungen erhielt, aber nie dazu eingeladen wurde, einer Studenten­verbindung beizutreten. Seine Brillanz brachte ihm nacheinander Regierungs­positionen, eine Partnerschaft in einer renommierten Anwalts­kanzlei und schliesslich einen hoch bezahlten Job als Berater an der Wall Street ein. Er hat sich immer mit wichtigen Menschen umgeben und war gesellschaftlich immer am Rand. Seine Kollegen haben seinen Verstand bewundert und ausgenutzt, aber sie haben ihn – oder seine Frau – nur selten zum Essen eingeladen.

Herr C. ist ein Snob, der seinen eigenen Snobismus verabscheut. Er verachtet die Männer um ihn herum – zum Beispiel Herrn B. –, weil er weiss, dass das, was er sich selbst durch Unnachgiebigkeit hart erarbeiten musste, Männern wie Herrn B. in den Schoss gefallen ist, weil sie die richtigen Leute kennen. Aber seine Verachtung hat sich untrennbar mit Neid gemischt. Noch mehr, als er die Klasse hasst, in die er vorläufig aufgestiegen ist, hasst er die Menschen, von denen er abstammt. Er hasst seine Mutter und seinen Vater, weil sie seine Eltern sind. Er verabscheut alles, was ihn an seine Herkunft und seine Demütigungen erinnert. Herr C. ist ein bitterer Antisemit, weil ihn die soziale Unsicherheit der Juden an seine eigene psychische Unsicherheit erinnert.

Mitleid hat er vollkommen aus seiner Natur ausgemerzt, und Freude hat er nie gekannt. Sein Ehrgeiz ist verbittert und lodernd: ein solches Ansehen zu erlangen, dass ihn niemand jemals wieder erniedrigen kann. Nicht um zu herrschen, sondern um der verborgene Strippen­zieher zu sein, der die Fäden von Marionetten zieht, die er mit seiner Intelligenz erschaffen hat. Einige von ihnen sprechen bereits seine Sprache – obwohl sie ihm nie begegnet sind.

Da sitzt er: Herr C. redet eher unbeholfen als unbedacht, er ist sehr zuvor­kommend. Er strahlt einen distanzierten und kalten Respekt aus. Doch er ist ein sehr gefährlicher Mann. Wäre er primitiv und brutal, wäre er ein Krimineller – ein Mörder. Aber er ist subtil und grausam. In einem Nazi-Regime würde er es weit bringen. Es bräuchte Männer wie ihn – intellektuell und skrupellos. Und doch ist Herr C. kein geborener Nazi. Er ist das Produkt einer Demokratie, die heuchlerisch soziale Gleichheit predigt und einen leichtsinnigen, brutalen Snobismus betreibt. Herr C. ist ein sensibler, begabter Mann, der bis zum Nihilismus gedemütigt wurde. Würden Köpfe rollen, er würde lachen.

Ich glaube, der junge Herr D. da drüben ist der einzige geborene Nazi im Raum. Der junge Herr D. ist der verzogene einzige Sohn einer in ihn vernarrten Mutter. Ihm hat das Leben noch nie übel mitgespielt. Er verbringt seine Zeit damit herauszufinden, wie weit er gehen kann. Er wird ständig verhaftet, weil er zu schnell gefahren ist, und seine Mutter bezahlt die Bussen. Er hat sich gegenüber seinen bisher zwei Ehefrauen völlig rücksichtslos verhalten, und seine Mutter bezahlt die Alimente. Herr D. verbringt sein Leben in Sensations­gier und Theatralik. Er interessiert sich für niemanden ausser für sich selbst. Er sieht sehr gut aus – auf eine oberflächliche, leichtfertige Art und Weise – und ist übermässig eitel. Er würde sich in einer Uniform sicher gefallen. Sie gäbe ihm die Möglichkeit zu prahlen – und sich über andere zu erheben.

Frau E. würde zum Nazi so sicher, wie Sie geboren sind. Diese Aussage überrascht Sie? Frau E. scheint so reizend, so anhänglich, so ängstlich zu sein. Das ist sie auch. Sie ist eine Masochistin. Sie ist mit einem Mann verheiratet, der sie ständig erniedrigt, sie beherrscht und sie weniger rücksichtsvoll behandelt als seine Hunde. Er ist ein angesehener Wissenschaftler, und Frau E., die ihn sehr jung geheiratet hat, hat sich eingeredet, dass er ein Genie ist; und dass sich in ihrem völligen Mangel an Selbstachtung, in ihrer hündischen Unter­würfigkeit ihm gegenüber die höchste Form von Weiblichkeit ausdrückt. Sie spricht missbilligend über andere «maskuline» oder nicht hinreichend hingebungs­volle Ehefrauen. Ihr Mann jedoch ist von ihr zu Tode gelangweilt. Er vernachlässigt sie völlig, und sie sehnt sich nach jemand anders, bei dem sie ihre ekstatische Selbst­erniedrigung ausleben kann. Sie würde beben vor Freude, wenn der erste Volksheld die grundsätzliche Unter­werfung der Frau verkündete.

Frau F. wiederum würde niemals zum Nazi werden. Sie ist die beliebteste Frau im Raum, gut aussehend, fröhlich, geistreich und voller wärmster Gefühle. Sie war vor zehn Jahren eine erfolgreiche Schau­spielerin, heiratete sehr glücklich; hatte sofort vier Kinder hintereinander; hat ein bezauberndes Haus, ist nicht reich, hat aber keine Geldsorgen, hat sich nie von ihrem ehemaligen Berufs­umfeld getrennt, ist bei voller Gesundheit und voller gesundem Menschen­verstand. Alle Männer wollen mit ihr schlafen; sie lacht über sie alle, und ihr Mann amüsiert sich darüber. Sie steht seit ihrer Kindheit auf eigenen Füssen, hat ihren Mann enorm unterstützt (er ist Anwalt), würde jeden Salon in jeder Hauptstadt bereichern und ist so amerikanisch wie ice cream und Kuchen.

Was ist mit dem Butler, der die Drinks reicht? Ich betrachte James amüsiert. James ist auf der sicheren Seite. James war Butler des Hochadels, hält alle Nazis für Daher­gelaufene und Kommunisten und hat ein sehr gutes Gespür für «Leute von Qualität». Er bedient die Verfasserin mit jener freundlichen Art, die gute Butler immer all jenen entgegen­bringen, die sie für gut genug halten, von ihnen bedient zu werden. Den pferde­gesichtigen Herrn, den er gerade bedient, den behandelt er dagegen steif und kalt.

Bill, der Enkel des Chauffeurs, hilft heute Abend im Service aus. Bill ist das Produkt einer öffentlichen Schule und Sekundar­schule in der Bronx, und er arbeitet nachts, um sich selbst durch das City College zu bringen, wo er Ingenieur­wissenschaften studiert. Er ist ein «Proletarier», obwohl man nie darauf käme, wenn man ihn ohne diesen weissen Kittel sähe. Er spielt fantastisch Tennis – er war Tennis­lehrer in Badeorten –, schwimmt hervorragend, bekommt in seinen Kursen nur Bestnoten und denkt, dass Amerika in Ordnung ist und bloss keiner sagen soll, dass es das nicht ist. Er war für eine kurze Phase beim Jugend­kongress der Kommunisten, aber das war so schnell vorbei wie die Masern. Er wurde nicht zum Dienst eingezogen, weil seine Augen nicht gut genug sind, aber er will Flugzeuge entwerfen. Er denkt, dass Lindbergh «nur ein weiterer aufgeplusterter Pilot mit einer reichen Frau ist» und dass Lindbergh «andauernd Amerika schlechtredet, als ob wir Hitler nicht einfach wegpusten könnten, wenn wir wollten». An dieser Stelle schnaubt Bill.

Herr G. wiederum ist ein sehr intellektueller junger Mann, er war ein Wunder­kind. Er beschäftigt sich seit seinem zehnten Lebens­jahr mit grossen Ideen und hat einen dieser Köpfe, die alles auf schillernde Weise erläutern können. Ich kenne ihn seit zehn Jahren. In dieser Zeit war ich Zeugin davon, wie er mit Begeisterung Marx erklärte, genauso wie die Social-Credit-Theorie, die Techno­kratie, die keynesianische Ökonomie, den chestertonschen Distributismus und alles andere, was man sich vorstellen kann. Herr G. wird nie ein Nazi sein, denn er wird nie irgendetwas sein. Sein Gehirn arbeitet völlig losgelöst vom Rest seines Körpers. Herr G. wird aber sicherlich in der Lage sein, den National­sozialismus vollständig zu erklären und ihn zu rechtfertigen, falls er hier jemals auftauchen sollte. Aber Herr G. ist immer ein «Abweichler». Als er mit dem Kommunismus spielte, war er ein Trotzkist; als er von Keynes sprach, wollte er damit Verbesserungen vorschlagen; Chestertons wirtschaftliche Ideen waren in Ordnung, aber für seinen Geschmack zu sehr an die katholische Philosophie gebunden.

Wir können also sicher sein, dass Herr G. ein Nazi «mit ein paar Einschränkungen» wäre. Und dass er ganz sicher unter denen wäre, die weggesäubert würden.

Herr H. ist Historiker und Biograf. Er ist Amerikaner niederländischer Abstammung, geboren und aufgewachsen im Mittleren Westen. Er war sein Leben lang in Amerika verliebt. Er kann ganze Kapitel von Thoreau und Bände amerikanischer Poesie rezitieren, von Emerson bis Steve Benét. Er kennt Jeffersons Briefe, Hamiltons Pamphlete, Lincolns Reden. Er ist ein Sammler von frühen amerikanischen Möbeln, lebt in Neuengland, betreibt eine Farm als Hobby, ohne viel Geld zu verlieren, und verabscheut Partys wie diese hier. Er hat einen derben männlichen Humor, ist unkonventionell und hat wegen einer Liebes­affäre eine College-Professur verloren. Danach heiratete er die Dame und lebt seitdem glücklich und zufrieden als Lohn für seine Sünde.

Herr H. hat nie auch nur einen Augenblick an seinem authentischen Amerikanismus gezweifelt. Das hier ist sein Land, und er kennt es von Acadia bis Zenith. Seine Vorfahren kämpften im Unabhängigkeits­krieg und in allen Kriegen seither. Er ist sicherlich ein Intellektueller, aber ein Intellektueller, der ein wenig nach Kuhstall und feuchtem Tweed riecht. Er ist der gutmütigste und genialste Mann der Welt, aber sollte irgendjemand irgendwann versuchen, dieses Land in einen Abklatsch von Hitlers, Mussolinis oder Pétains Land zu verwandeln, dann wird Herr H. zur Waffe greifen und kämpfen. Obwohl Herr H.’s Liberalismus es ihm nicht erlaubt, es auszusprechen, ist es seine geheime Überzeugung, dass niemand, dessen Vorfahren nicht schon vor dem Bürgerkrieg in diesem Land waren, Amerika wirklich versteht – oder im Showdown gegen den National­sozialismus oder irgendeinen anderen ausländischen Ismus wirklich für Amerika kämpfen würde.

Aber Herr H. liegt falsch. Es gibt eine andere Person im Raum, die Schulter an Schulter mit Herrn H. für dieses Land kämpfen würde, und er ist nicht einmal amerikanischer Staats­bürger. Er ist ein junger deutscher Emigrant, den ich an die Party mitgebracht habe. Die Leute im Raum schauen ihn eher schief an, weil er so germanisch ist, so sehr blond, so sehr blauäugig, so gebräunt, dass man irgendwie erwartet, dass er kurze Hosen trägt. Er sieht aus wie das Inbild eines Nazis. Sein Englisch ist fehlerhaft – er hat erst vor fünf Jahren angefangen, es zu lernen. Er stammt aus einer alten ostpreussischen Familie; er war Mitglied der Nachkriegs-Jugend­bewegung und danach des republikanischen Reichs­banner-Verbands. Alle seine deutschen Freunde wurden ausnahmslos Nazis. Er wanderte mittellos in die Schweiz, studierte dort neutestamentarisches Griechisch, besuchte Vorlesungen des grossen protestantischen Theologen Karl Barth; kam mithilfe eines amerikanischen Freundes, den er an der Universität kennengelernt hatte, nach Amerika; bekam eine Stelle als Lehrer für die Klassiker in einer schicken Privat­schule, kündigte und arbeitet jetzt in einer Flugzeugfabrik.

Er arbeitet in der Nacht­schicht, um Flugzeuge zu bauen, die er nach Grossbritannien schicken kann, um Deutschland zu besiegen. Er hat Bände der amerikanischen Geschichte verschlungen, kennt Whitman auswendig, fragt sich, warum so wenige Amerikaner jemals wirklich die «Federalist Papers» gelesen haben, glaubt an die Vereinigten Staaten von Europa, die Union der englisch­sprachigen Welt und die kommende demokratische Revolution auf der ganzen Erde. Er glaubt, dass Amerika das Land der kreativen Evolution ist, sobald es seine bürgerliche Selbst­gefälligkeit, seine bürokratisierte Industrie, seine sich tentakelartig ausbreitende Regierung abschüttelt und sich innerlich frei macht.

Die Menschen in diesem Raum denken, er sei kein Amerikaner. Aber er ist amerikanischer als die meisten von ihnen. Er hat Amerika entdeckt, und sein Geist ist der Geist der Pioniere. Er ist wütend auf Amerika, weil es seine Kraft und Schönheit und Macht nicht erkennt. Er spricht von den Arbeitern in der Fabrik, in der er beschäftigt ist. Dort begann er zu arbeiten, «um das wahre Amerika zu verstehen». Er findet diese Männer wunderbar. «Warum kommt ihr amerikanischen Intellektuellen nie zu ihnen, redet mit ihnen?»

Ich grinse verbittert vor mich hin und denke, wenn wir jemals in den Krieg mit den Nazis geraten, würde er wahrscheinlich interniert werden. Und Herr B., Herr G. und Frau E. würden auf solchen Partys wie dieser weiterhin Defätismus verbreiten à la: «Natürlich mag ich Hitler nicht, aber …»

Herr J. da drüben ist ein Jude. Herr J. ist ein sehr wichtiger Mann. Er ist unermesslich reich – er hat ein Vermögen gemacht mit Vorstands­posten in verschiedenen Firmen, mit einer fabelhaften Ehe, mit einem Hang zur Spekulation, seinem Händchen für Geld und seiner Liebe zur Macht. Er ist intelligent und arrogant. Er verkehrt nur selten mit anderen Juden. Er verbittet sich jede Erwähnung der «Juden­frage». Herr J. glaubt, dass man Hitler «nicht anhand seines Antisemitismus beurteilen sollte». Er meint, dass «die Juden in allen politischen Fragen zurückhaltend sein sollten». Er hält Roosevelt für einen «Feind der Unter­nehmer». Er meint: «Es war ein schwerer Schlag für die Juden, dass Frankfurter an den Obersten Gerichtshof berufen wurde.»

Der finstere Herr C. – der echte Nazi im Raum – verwickelt ihn in ein schmeichelndes, aufmerksames Gespräch. Herr J. stimmt Herrn C. voll und ganz zu. Herr J. ist definitiv von Herrn C. angetan. Er fragt ausdrücklich nach dessen Namen – die beiden sind sich noch nie begegnet. «Ein sehr intelligenter Mann.»

Herr K. betrachtet die Szene mit traurigem Humor in seinen ausdrucks­starken Augen. Herr K. ist auch ein Jude. Herr K. ist ein Jude aus dem Süden. Er spricht mit südstaatlerischem Einschlag. Er ist ein unnachahmlicher Geschichten­erzähler. Vor zehn Jahren besass er ein sehr erfolgreiches Geschäft, das er von Grund auf aufgebaut hatte. Er hat es zu einem stattlichen Preis verkauft – und geniesst jetzt ein Einkommen von etwa 50 Dollar pro Woche. Mit vierzig begann er, Artikel über seltsame und abgelegene Orte in Amerika zu schreiben. Als Junggeselle und trauriger Mann, der alle zum Lachen bringt, ist er ständig auf Reisen, kennt Amerika aus tausend verschiedenen Winkeln und liebt das Land auf eine ruhige, tiefe, unaufdringliche Weise. Er ist ein enger Freund von Herrn H., dem Biografen. Wie bei Herrn H. lebten seine Vorfahren schon lange vor dem Bürger­krieg in diesem Land. Er fühlt sich zu dem jungen Deutschen hingezogen. Irgendwann kommen sie im Salon zusammen: der Gentleman aus Neuengland, der Intellektuelle aus dem Mittleren Westen, die glückliche Schau­spielerin, welche die Götter lieben, der junge Deutsche und der ruhige, traurige Jude aus dem Süden.

Es macht Spass – eine makabre Art von Spass –, dieses Gesellschafts­spiel «Wer wird Nazi?». Und es vereinfacht die Dinge – die Nazi-Frage im Hinblick auf bestimmte Persönlichkeiten zu stellen.

Gütige, gute, glückliche, zuvorkommende, in sich ruhende Menschen werden niemals zu Nazis. Der sanfte Philosoph oder Bill vom City College, dem die Demokratie die Chance gab, Flugzeuge zu entwerfen – aus ihnen wird man niemals Nazis machen. Aber der frustrierte und gedemütigte Intellektuelle, der reiche und nervöse Spekulant, der verzogene Sohn, der Kerl, der erfolg­reich war, weil er den Erfolg roch – sie alle würden in einer Krise zum Nazi.

Glauben Sie mir, nette Leute werden nicht zu Nazis. Ihre Rasse, Hautfarbe, ihr Glaube oder ihre soziale Stellung sind nicht entscheidend. Es ist etwas in ihnen drin.

Diejenigen, die nichts in sich haben, was ihnen sagt, was sie mögen und was nicht – ob es sich um Zucht oder Glück oder Weisheit oder einen Kodex handelt, wie altmodisch oder modern auch immer –, die werden zu Nazis.

Es ist ein amüsantes Spiel. Versuchen Sie es auf der nächsten grossen Party, zu der Sie gehen.

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