Auf lange Sicht

Unser schrumpfendes Kohlenstoff­budget

Wie viel Kohlendioxid können wir noch ausstossen, ohne dass die Erderwärmung 1,5 Grad übersteigt? Je nach Berechnungsart fällt die Menge bedrohlich klein aus.

Von Arian Bastani, 30.12.2019

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Wie viel ist zu viel?

Es ist die vielleicht entscheidendste Frage im Zusammen­hang mit dem Klima­wandel. Wie viel CO2-Ausstoss verträgt es noch, ohne dass sich die Erde bis zum Ende des Jahr­hunderts um mehr als 1,5 Grad Celsius erwärmt?

Die Antwort darauf versucht die Wissenschaft mit einer Analogie aus der Finanz­welt zu geben: mit dem sogenannten Kohlenstoff­budget.

Was hinter dem Kohlenstoff­budget steckt

Die Idee gewann seit dem fünften Weltklima­bericht von 2014 an Popularität. Seither wurden zahlreiche Studien zum Kohlenstoff­budget publiziert, die mit verschiedenen Methoden sehr unterschiedliche Werte berechneten.

Einige davon sind in der folgenden Grafik aufgeführt. Angegeben ist jeweils die Menge an CO2, die gemäss den jeweiligen Autoren maximal noch in die Atmosphäre gelangen darf, damit die Erwärmung 1,5 Grad nicht übersteigt.

Beachtliche Bandbreite

Kohlenstoffbudgets gemäss ausgewählten Studien

Goodwin et al. (2018)765 Gigatonnen CO2Millar et al. (2017)735 Friedlingstein et al. (2014)653 IPCC-Sonderbericht zu 1,5 Grad (2018)580 Mengis et al. (2018)349 Fünfter Sachstandsbericht des IPCC (2014)265 Gasser et al. (2018)80

Maximale CO2-Emissionen zur Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels, gerechnet ab dem Jahr 2018. Quelle: Rogelj et al. (2019)

Man sieht, dass die Schätzungen teils ziemlich auseinander­gehen. Das liegt an diversen Dingen: an den verwendeten Klima­modellen etwa oder auch daran, dass im Übereinkommen von Paris nicht explizit festgelegt wird, was unter «globaler Durchschnitts­temperatur» überhaupt genau zu verstehen ist – je nach Definition weichen die Werte ziemlich voneinander ab.

Für den Spezial­bericht des Klima­rats über eine Erwärmung von 1,5 Grad Celsius aus dem Jahr 2018 wurde darum ein einheitliches Konzept erarbeitet. Es definiert das Kohlenstoff­budget im Wesentlichen anhand von vier Parametern:

1. Die historische Temperatur

Um zu messen, ob 1,5 Grad Erwärmung erreicht sind oder nicht, muss man sich nicht nur darüber einig sein, was als globale Durchschnitts­temperatur gilt. Sondern man braucht auch einen Referenz­wert: 1,5 Grad im Vergleich wozu? Auch das wird im Überein­kommen von Paris nicht klar deklariert.

Der Klimarat hat die Periode von 1850 bis 1900 als standard­mässige Ausgangs­basis gewählt. Gegenüber damals hat sich die Temperatur aufgrund des menschlichen Einflusses bisher um knapp ein Grad erhöht.

2. Die Erwärmung, die CO2 verursacht

Im Zentrum der Berechnung des Kohlenstoff­budgets steht die Frage: Wie stark beeinflusst das CO2, das wir bisher ausgestossen haben, die Temperatur?

Dieser wichtigste Parameter ist eng verwandt mit einem Konzept, das wir an dieser Stelle vor einem Monat besprochen haben: der Klima­sensitivität. Sie gibt an, um wie viele Grad Celsius die Temperatur über einen Zeitraum von Jahr­hunderten hinweg zunimmt, nachdem sich die CO2-Konzentration in der Atmosphäre verdoppelt hat. Gemäss dem Klimarat liegt die Sensitivität im wahrscheinlichen Bereich von +1,5 bis +4,5 Grad.

Zur Berechnung des Kohlenstoff­budgets wird ein ähnliches Konzept verwendet: die transiente, vorläufige Klimaantwort. Sie bezeichnet die Temperatur­zunahme, die sich unmittelbar einstellt – nicht erst Jahrhunderte nach einer Verdopplung der CO2-Konzentration –, und beträgt zwischen +1 und +2,5 Grad. Die Zunahme ist zu diesem Zeitpunkt geringer, weil die Ozeane nach wie vor Wärme aus der Atmosphäre aufnehmen und das Klima­system noch nicht im Gleich­gewicht ist.

Übersetzt man die transiente Klima­antwort schliesslich in eine Reaktion auf die Emissionen, so ergibt sich eine Band­breite des Temperatur­anstiegs von +0,2 bis +0,7 Grad pro 1000 Gigatonnen ausgestossenes CO2. Als beste Schätzung wird der Mittelwert verwendet: +0,45 Grad.

Dass diese Schätzung ziemlich nah an der Realität ist, zeigt die Vergangenheit. Multipliziert man die Menge an Kohlen­dioxid, die seit der Industrialisierung ausgestossen wurde – rund 2300 Gigatonnen –, mit dem Mittel­wert, erhält man ziemlich genau die Erwärmung, die sich seither eingestellt hat: +1 Grad.

Steiler Anstieg

Aufsummierter CO2-Ausstoss

1879191919692019010002000 GigatonnenTotal:2323

Start der Grafik in der Mitte die Referenzperiode. Quelle: Global Carbon Budget (2019)

Wie die Grafik zeigt, nehmen die Emissionen ungebremst zu. Wie viele davon es im Hinblick aufs 1,5-Grad-Ziel noch verträgt, dazu kommen wir gleich.

Zunächst noch zwei weitere Aspekte, die das Kohlenstoff­budget beeinflussen.

3. Die Erwärmung, die nicht von CO2 ausgeht

Neben Kohlendioxid wirken auch andere Treibhaus­gase auf die Temperatur. Dazu zählen etwa Methan und Lachgas. Um sie im Kohlenstoff­budget zu berücksichtigen, braucht es eine Schätzung dafür, wie viel sie ihrerseits zur Erwärmung beitragen werden, während gleich­zeitig CO2 ausgestossen wird.

Im Hinblick auf das 1,5-Grad-Kohlenstoff­budget wurde diese Erwärmung auf 0,1 Grad Celsius geschätzt. Der Effekt der weiteren Treibhaus­gase ist also deutlich geringer als jener von Kohlen­dioxid, aber nicht vernachlässigbar.

4. Die nicht berücksichtigten Feedbacks im Klimasystem

Für die Klima­sensitivität und die transiente Klima­antwort – also das Herz der Berechnungen zum Kohlenstoff­budget – werden fast nur die physikalischen Klimafeedbacks berücksichtigt, die ziemlich rasch in Gang kommen.

Einige dieser Feedbacks haben wir bereits kennengelernt: Meereis schmilzt, Wolken verändern sich, die Luft wird feuchter. Sie führen dazu, dass es noch wärmer wird. Darüber hinaus gibt es aber noch zahlreiche weitere Rückkopplungsprozesse, die den Temperatur­anstieg durch CO2 verstärken.

Um diese nicht zu ignorieren, hat der Klimarat eine Korrektur vorgeschlagen: Basierend auf Schätzungen wird davon ausgegangen, dass der Einfluss dieser Feedbacks bis zum Jahr 2100 etwa gleich­bedeutend ist mit dem Ausstoss von 100 Gigatonnen CO2. Hinter diesem Pauschal­betrag steht jedoch ein grosses Fragezeichen: Möglich, dass der Einfluss der Feedbacks grösser ist.

Dasselbe gilt für den langfristigen Wärme­austausch zwischen Atmosphäre und Ozean: Auch hier könnten neue Forschungsergebnisse dazu führen, dass sich das Kohlenstoff­budget zusätzlich verringert.

Eine Frage der Wahrscheinlichkeit

Beruhend auf all diesen Parametern bezifferte der Klimarat das Budget per Anfang 2018 auf 580 Gigatonnen CO2. Zieht man davon die Emissionen der letzten beiden Jahre ab (jeweils gut 40 Gigatonnen) und den Wert für die nicht berücksichtigten Feedbacks (100 Gigatonnen), so erhält man ein verbleibendes Budget von knapp 400 Gigatonnen CO2 per Anfang 2020.

Der grösste Teil ist aufgebraucht

Historische CO2-Emissionen und Budget

Kumulierte Emissionen bis und mit 2019
Verbleibendes CO₂-Budget ab 2020
2323 GigatonnenBisheriger Ausstoss395 GtZukunft

Verbleibendes CO2-Budget ab 2020 (inklusive Klima­feedbacks) für eine 50-prozentige Chance zur Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels. Quelle: Global Carbon Budget (2019), Rogelj et al. (2019), IPCC (2018)

400 Gigatonnen klingen nach einer grossen Menge – doch es ist wenig: Es entspricht beim aktuellen Tempo gut zehn Jahren an globalen CO2-Emissionen.

Für die Dekarboni­sierung bleibt also nicht mehr viel Zeit: Über 85 Prozent des gesamten Budgets haben wir seit der Industrialisierung schon verbraucht.

Und wie gesagt, die 400 Giga­tonnen sind keines­wegs ein definitiver Wert. Fast alle Parameter sind mit einer gehörigen Portion Unsicherheit behaftet.

Wie sich diese Unsicher­heit auswirkt, zeigt folgendes Beispiel:

  • Angenommen, die Temperatur steigt pro 1000 Giga­tonnen Emissionen nicht um +0,45 Grad, sondern um +0,55 Grad: Dann verringert sich das Budget von 395 auf 240 Gigatonnen CO2. Uns blieben nur noch gut 6 Jahre.

  • Umgekehrt würde eine schwächere Klima­antwort von +0,35 Grad bedeuten, dass das Budget noch 644 Giga­tonnen gross ist. Also blieben gut 16 Jahre.

Bereits relativ kleine Unterschiede in den zugrunde liegenden Parametern können das Kohlenstoff­budget also um mehrere hundert Giga­tonnen verändern respektive um mehrere Jahre ausdehnen oder verkürzen.

Unsichere Schätzungen

Kohlenstoffbudgets je nach transienter Klimaantwort

+0,35 Grad644 Gigatonnen CO2+0,45 Grad395 Gigatonnen CO2+0,55 Grad237 Gigatonnen CO2

CO2-Budgets ab 2020 (inklusive Klima­feedbacks). Quelle: Rogelj et al. (2019)

In der Wissen­schaft versucht man, diesen Unsicher­heiten durch die Angabe von Wahrscheinlichkeiten zu begegnen. So geht der Klimarat davon aus, dass die transiente Klima­antwort rund um den Mittel­wert herum normal verteilt ist – ähnlich wie es beispiels­weise auch bei unserer Körpergrösse der Fall ist (sehr grosse und sehr kleine Menschen sind seltener als durch­schnittlich grosse Menschen).

Fürs Kohlenstoff­budget bedeutet dies:

  • Halten wir die Limite von 395 Gigatonnen ein, die aus dem Mittelwert von +0,45 Grad resultiert, so liegt die Chance, dass sich die Erde bis 2100 um maximal 1,5 Grad erwärmt, bei 50 Prozent.

  • Halten wir das kleinere Kohlenstoff­budget ein, das sich basierend auf einer angenommenen Klima­antwort von +0,55 Grad ergibt, so steigt diese Chance – und zwar auf 66 Prozent.

  • Halten wir dagegen nur das grössere Budget ein, basierend auf der Klima­antwort von +0,35 Grad, so sinkt die Chance auf 33 Prozent.

Die Unsicher­heiten mahnen uns zur Vorsicht, denn egal, welches Budget wir aufstellen und einhalten: Eine Garantie darauf, dass der Klima­wandel genau so stark ausfällt, wie wir dies im Vorfeld abgeschätzt haben, gibt es nicht.

Ausblick

Knapp 10 Jahre lang «weiter wie bisher»: Die Mensch­heit gibt sich mit ihren derzeitigen Emissionen eine gefährlich kleine Marge, um das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten. Liegt die Temperatur­reaktion am oberen Ende des wahrscheinlichen Bereichs oder sind die übrigen Treibhausgas-Emissionen grösser, könnte es sogar noch enger werden. Nichts davon ist auszuschliessen.

Die grösste Unsicherheit betrifft momentan aber die nicht berücksichtigten Feedbacks. Rund 100 Gigatonnen an Emissionen bleiben eine Blackbox. Was verbirgt sich dahinter? Mehr dazu im nächsten Klimabeitrag.

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