Ein Fanal gegen Korruption: Siegessicherer Demonstrant in der irakischen Stadt Karbala (26. November 2019). Mohammed Sawaf/AFP/Getty Images

Das Jahr der Proteste

Fast in allen Welt­regionen fanden 2019 Aufstände statt. Das ist kein Zufall: Was wir sehen, ist eine Rebellion gegen Alternativ­losigkeit.

Von Guillaume Paoli, 30.12.2019

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Zweifellos erlebte das soeben zu Ende gehende Jahr eine Entfachung sozialer Unruhen in bisher ungekannter Gleichzeitigkeit. Allein im Herbst fanden in über zwanzig Ländern Massen­bewegungen und Aufstände statt, in manchen Fällen wurden sie gnadenlos in Blut ertränkt. Reicht das, um von einer globalen Revolte sprechen zu können? Bei einer solch kühnen Behauptung ist Vorsicht geboten. Sie lässt ja einen einheitlichen Willen vermuten, der offen­sichtlich nicht vorhanden ist.

Simultanität ist noch kein Beweis für Gemeinsam­keit. Die Schnitt­menge zwischen Protest­motiven etwa im Iran und in Haiti dürfte ziemlich gering sein. Insbesondere Katalonien und Hong­kong, wo die nationale Frage überwiegt, ragen aus der Gemengelage heraus. Regionale Zusammen­hänge sind da als bestimmende Faktoren plausibler. Wenn die Bevölkerung Algeriens, des Libanon und des Irak zeitgleich aufbegehrt, wird vermutlich der Arabische Frühling in Ländern fort­gesetzt, die 2011 aus verschiedenen Gründen nicht rebelliert hatten. In Latein­amerika wiederum fand offenbar ein Ansteckungs­prozess zwischen Ecuador, Bolivien, Chile und Kolumbien statt.

Die Gemeinsamkeit der Volksaufstände

Und doch ist die Gleichzeitig­keit all dieser Proteste nicht ganz zufällig. Wenn in Quito die Strasse aufbegehrt, wird das zum Ansporn für die Beiruter Menge. Pariser Demonstranten fühlen sich von Wütenden in Santiago bestätigt. Als Affinitäts­medium dienen die sozialen Netzwerke. Bilder von Massen­umzügen, Tränengas­wolken und versehrten Gesichtern ähneln sich überall und verbreiten sich viral. Zudem offeriert die globale Kultur­industrie gemeinsame Erkennungs­zeichen, die Joker-Masken etwa, oder Bruce Lees Kampf­anweisung «Be water». Wenn Demonstranten in Beirut wie in Bogotá «Bella ciao» anstimmen, dann nicht aufgrund des anti­faschistischen Ursprungs des Liedes, sondern weil es durch die Netflix-Serie «Haus des Geldes» welt­berühmt wurde.

Der Joker trotzt Wasserwerfern der Polizei: Proteste in Chiles Hauptstadt Santiago (4. November 2019). Esteban Felix/AP Photo/Keystone

Auch eigens erfundene Symbole werden an ganz anderen Orten übernommen. Die Gelb­weste, Kenn­zeichen der französischen Bewegung, wurde binnen Wochen von Protestierenden in zwei Dutzend Ländern getragen. Da ist mehr als bloss Mimikry im Spiel. Mit der grellen Leucht­kraft des Fluoreszierenden kommen hier die Unsicht­baren ans Licht und erkennen sich als kollektive Kraft – das Sinnbild ist universal anwendbar. Zudem werden über Länder­grenzen und spezifische Kontexte hinweg technische Erfahrungen ausgetauscht. Gegen Hong­konger Proteste werden in Frankreich hergestellte Wasser­werfer eingesetzt, dafür lernen auf Youtube-Videos französische Demonstrantinnen von Hong­kongern, wie man Reizgas­patronen unschädlich macht.

So kommt unversehens eine Art virtuelle Inter­nationale zustande. Freilich keine tatsächliche. Die gelbe Weste ist nicht die rote Fahne, sie deutet auf keine Ideologie, auf kein Programm hin. Doch gerade diese Abwesen­heit verbindet all die genannten Unruhe­herde. Sie eint zumindest, was sie nicht sind.

Rebellion gegen die Ungleichheit

Selbst wenn nicht alle Merk­male auf jeden Einzel­protest zutreffen, lässt sich doch ein Grund­muster umreissen. In der Regel haben wir es mit spontanen Ausbrüchen zu tun, die keiner organisierten Opposition entspringen. Sie werden nicht einmal von charismatischen Leadern angeführt. Es erhebt sich eine unbestimmte Menge, die weder mit soziologischen Kategorien (Unterschicht oder Mittelstand) noch mit politischen (links oder rechts) eindeutig fassbar ist.

Auch ethnische oder (im Fall Libanon) konfessionelle Zugehörigkeiten werden beiseite­geschoben. Der Auslöser ist scheinbar geringfügig, eine weitere Preis­erhöhung, eine neue Steuer, der sprich­wörtliche Tropfen, der das Fass der erduldeten Miss­stände zum Über­laufen bringt. Die Haupt­sache ist, dass alle gleicher­massen davon betroffen sind; so können sie sich kollektiv widersetzen. Ob es ihnen bewusst ist oder nicht, rebellieren sie nicht nur gegen die eigene Regierung, sondern gegen globale Institutionen, die solche Teuerungen erzwingen, sei es durch eine Kredit­bedingung des IWF, übernationale Abkommen oder wie im Iran durch Wirtschafts­sanktionen. So oder so müssen die Unter­privilegierten die Zeche zahlen.

Ganz schnell richtet sich dann der Volks­zorn explizit auf das ganze «System» und insbesondere auf die nationalen «Eliten», die sich von Entbehrungen ausnehmen und ihr Vermögen legal wie illegal vermehren. Im Grunde haben wir es mit einer globalen Protest­welle gegen soziale Ungleich­heit zu tun. Wen wunderts? Seit Jahren wird die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich empirisch belegt. Erstaunlich ist höchstens, dass die Ober­schicht von den logischen Folgen kalt erwischt wird.

Gegen das Empfinden krasser sozialer Ungleich­heit helfen auch die üblichen Relativierungen nicht, wonach Bewohnerinnen einer bestimmten Nation doch im Vergleich zu anderen in relativem Wohl­stand lebten. Psychologisch kommt es auf die Binnen­verteilung des Reich­tums an, weil die Menschen sich mit den Mitgliedern der eigenen Gesell­schaft vergleichen. Chile mag ausgezeichnete Wirtschafts­daten vorweisen, es gehört dennoch zu den unegalitärsten Ländern der Welt, mit 1 Prozent der Bevölkerung im Besitz von 35 Prozent des Reichtums. Frappierend ist, wie sich die Beschwerden überall ähneln. Nicht das ungedeckte Bank­konto an sich ist das Problem, sondern viel­mehr der ungleiche Zugang zu existen­ziellen Ressourcen wie Gesundheit, Bildung, Mobilität, Alters­sicherung.

Das sind nicht nur ökonomische Parameter. Die Empörung dagegen hat eine starke moralische Komponente. Die verachteten Loser der derzeitigen Verhältnisse schreien nach Gerechtig­keit und einem würdigen Leben. Gegen die Gewinner lässt sich jedoch nicht so leicht kämpfen. Potentatinnen in armuts­geprägten Nationen ebenso wie CEOs in wohl­habenden Ländern verstehen sich darauf, unerreichbar zu sein. Zur Rechen­schaft kann allein die Politik gezogen werden.

Politik für Oligarchen

Hier liegt auch eine Gemeinsam­keit aller Volks­ausbrüche seit Beginn des Jahr­hunderts. Gerufen wird jeweils nicht nur nach Absetzung des amtierenden Staats­oberhaupts, sondern gleich der politischen Klasse in toto. Es dominiert das Gefühl, von niemandem vertreten zu sein. Die Politik wird nur noch als Interessen­vertretung der Oligarchie wahr­genommen, bar jeglichen Bezugs zum Gemeinwohl. Dafür sind die Biografien von Emmanuel Macron und Sebastián Piñera exemplarisch. Immer mehr verfestigt sich der Eindruck, dass es Millionären obliegt, über die Geschicke ihrer Lands­leute zu entscheiden. In den USA profiliert sich Bloom­berg als best­möglicher Heraus­forderer von Trump mit dem Argument, dass er der Reichere ist. Mit anderen Worten: Die Politik wird nicht für ihre über­zogenen Ansprüche abgelehnt, sondern umgekehrt: weil sie ihr Vorrecht auf Gestaltung (und damit in letzter Konsequenz sich selbst) aufgibt. Daher die schein­bare Paradoxie, Forderungen an eine Regierung zu stellen, deren Entlassung man sich wünscht.

Aufgegriffen im Tränengas-Meer: Polizeiaktion gegen Demonstranten in Hongkong (18. November 2019). Ng Han Guan/AP Photo/Keystone

Die Welt wird immer unregier­barer – so zumindest eine zurzeit oft geäusserte Klage. Gemeint sind nicht nur die disruptiven Ausbrüche des Volks­zorns; auch der chronische Unmut der Wähler in demokratischen Staaten trägt zur pessimistischen Diagnose bei. Immer häufiger entscheiden sie sich für rechte wie linke Protest­parteien, mit dem Effekt, dass der liberale Konsens verdrängt und lahm­gelegt wird.

Bemerkenswert an dieser Weh­klage ist, dass es sie schon einmal gab. Der Präzedenz­fall ist wichtig, um die gegen­wärtige Sequenz in historischer Perspektive zu begreifen.

In seiner kürzlich erschienenen Untersuchung «Die unregierbare Gesellschaft» zeigt der französische Philosoph Grégoire Chamayou, wie eben dieser Topos den Auftakt der neoliberalen Epoche einleitete. In den 1970er-Jahren begannen nämlich die Entscheidungs­träger an der Kompatibilität von Kapitalismus und Demokratie zu zweifeln. Zum einen wurde das autoritäre Fabrik­regime von der Arbeiter­schaft immer weniger toleriert, zum anderen waren neue Akteure aufgetreten, Konsumenten­verbände, Umwelt­schützer, Frauen, marginalisierte Gruppen, die nach mehr gesellschaft­licher Teil­habe trachteten. Allseits wurde diese demokratische Ausweitung als «Krise der Regierbarkeit» gedeutet. Aus wahl­taktischen Gründen sahen sich Volks­vertreter genötigt, ihr Tätigkeits­feld ständig auszudehnen, was für Verfechter der freien Markt­wirtschaft einem schleichenden Kommunismus gleichkam.

Ein Blick zurück auf Chile

Bekanntlich begann die Gegen­offensive mit Pinochets Staats­streich, von den Chicago Boys tatkräftig unterstützt, und es verwundert nicht, dass heute die Revolte besonders in Chile virulent ist. Wie Friedrich August Hayek 1978 unverblümt schrieb: Die persönliche Freiheit sei manchmal unter einem autoritären Regime besser geschützt als unter einer demokratischen Regierung. Notfalls also mit Mord und Folter? Die Botschaft war auch eine Warnung an alle künftigen Links­regierungen der Welt.

Dennoch ist selbst für radikalste Neoliberale die Diktatur kein Zweck, sondern allenfalls ein provisorisches Notmittel. Das eigentliche Ziel ist, ein Umfeld zu schaffen, das die Wirtschafts­sphäre vor den Unwägbar­keiten des allgemeinen Wahl­rechts schützt. Entgegen einer häufigen Meinung ist Neoliberalismus keine blosse Ideologie, er ist eine Technologie der Macht. Institutionelle Rahmen­bedingungen werden geschaffen und gesichert, damit der Politik ganz gleich welcher Färbung systemisch untersagt wird, zum Nachteil des Kapitals Umverteilung zu betreiben.

Die Fortführung des Arabischen Frühlings: Streik im Libanon (18. Oktober 2019). Stéphane Lagoutte/M.Y.O.P./laif

Seit vierzig Jahren lebt die westliche Welt unter einem Regime der eingeschränkten Demokratie. Mit dem Stuhlwechsel­spiel zwischen Mitte-links- und Mitte-rechts-Parteien an den Regierungs­spitzen wird ein und dasselbe Programm gegen die Interessen und die Meinung der Bevölkerungs­mehrheit eisern durchgesetzt. Das funktionierte eine Zeit lang durch die Propaganda­arbeit von Stiftungen, Think­tanks und Medien, die die «Reformen» als lang­fristig gewinn­bringend verkauften, vor allem aber auch durch das eingehämmerte Mantra, eine Alternative gebe es sowieso nicht.

Im Zeitalter des «autoritären Liberalismus»

Nun erleben wir Revolten gegen die organisierte Alternativ­losigkeit. Nicht die Menschen haben sich radikalisiert, sondern die Zustände. Die kapitalistische Welt ähnelt immer offen­sichtlicher dem Bild, das ihre radikalen Kritikerinnen schon immer von ihr gemalt hatten. Und es scheint, als seien wir im Zeitalter eines «autoritären Liberalismus» angekommen.

Dieser vermeintlich wider­sprüchliche Begriff wurde laut Chamayou 1932 von dem sozial­demokratischen Juristen Hermann Heller geprägt, um ein paradoxes Gebilde zu benennen: einen starken Staat im Dienst einer freien Wirtschaft. Stark ist der Staat nicht, indem er alle Gesellschafts­bereiche totalitär kontrolliert, sondern umgekehrt, indem er die Gesell­schaft daran hindert, sich in den unregulierten Entfaltungs­prozess des Kapitals einzumischen. Und das tut er gegebenen­falls mit hemmungs­loser Gewalt. Die Ereignisse in Frankreich haben gezeigt, wie weit die Repression in einer modernen (Post-)Demokratie gehen kann. Mit der Aufstands­bekämpfung kommt der eigene Autoritarismus einer bisher liberalen Regierung zum Vorschein und untergräbt so die eigene demokratische Legitimität.

Schutzwall am Arc de Triomphe: Einsatz gegen eine Demonstration der gilets jaunes (16. März 2019). Kiran Ridley/Getty Images

Bislang ist es nirgendwo gelungen, aus den sporadischen Konfrontationen eine dauerhafte Opposition aufzubauen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Zum einen haben tradierte linke Strategien ihr Unvermögen genügend unter Beweis gestellt, eine praktikable und zugleich wünschens­werte Alternative anzubieten. Zum anderen, und das ist die wesentliche Hürde, erfolgt jeder Einzel­protest zwangs­läufig im Rahmen der Nation, wobei er sich doch gegen eine globale Ordnung richtet. Gesetzt den Fall, es würde ein Volks­aufstand in einem bestimmten Land siegen, bliebe nur die Exit-Option übrig, mit unabsehbaren und nicht unbedingt rosigen Folgen für die Bevölkerung. Voraussichtlich wird sich also das Muster des gerade zu Ende gehenden Jahres noch einige Zeit fortsetzen: autoritärer Liberalismus, durch gelegentliche Ausbrüche des Zorns zu temporären Zugeständnissen gebracht. Bis der Status quo nicht mehr haltbar ist.

Zum Autor

Guillaume Paoli (*1959) ist Berliner Franzose, Mitbegründer der Glücklichen Arbeitslosen, ehemaliger Haus­philosoph im Schauspiel Leipzig, Moderator von Theorie­salons und Autor zahlreicher Essays und Bücher. Zuletzt erschienen «Die lange Nacht der Metamorphose. Über die Gentrifizierung der Kultur» (2017) sowie «Soziale Gelbsucht» (Berlin, 2019).

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