Serie «Mein Vater, der Gangster» – Teil 4

Bis keiner mehr da war

Wer war ihr Vater wirklich? Und führt die Spuren­suche zu seinem Mörder? Langsam wird der Blick frei auf das Leben von Yens Vater, wie er war, wer er sein wollte – und wieso das alles so tragisch endete. Teil 4 der Serie «Mein Vater, der Gangster».

Von Renato Beck, 28.12.2019

Wie viel Wert hat ein Menschen­leben? Dung Duong.

14. San Marino, Juli 2019

Yen will den Mörder sehen. Sie will ihn konfrontieren mit sich und mit ihrer Geschichte, will wissen, weshalb er ihr den Vater genommen hat. Sie will eine Antwort finden auf das Gefühl, das sie manchmal spürt, eine tief sitzende Wut.

Serie «Mein Vater, der Gangster»

In den 1980er-Jahren betreibt eine vietnamesische Gang in Kalifornien brutale Geschäfte. Zu den Draht­ziehern gehören die Brüder Dung und Hung, die 1979 als Flüchtlinge in den USA gelandet sind. 1990 wird Dung erschossen, bald darauf auch Hung. 30 Jahre später will Dungs Tochter Yen, die mit ihrer Familie in Basel lebt, heraus­finden, wer ihr Vater war. Und wer ihn getötet hat. (Einige der Namen wurden aus Gründen des Persönlichkeits­schutzes geändert.)

Teil 3

Die Leiche im Porsche

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Bis keiner mehr da war

Im Nordosten von Los Angeles, in einem öffentlichen Park im wohlhabenden San Marino, haben wir uns mit zwei Frauen verabredet. Unsere Spuren­suche neigt sich dem Ende zu, Amy und Olivia sind unsere letzte Hoffnung, doch noch an Informationen zu gelangen.

Amy war die beste Freundin von Yens Vater, Olivia die Mutter seines zweiten Kindes. Olivia hat in der Familie keinen besonders guten Ruf: Komisch sei sie geworden in all den Jahren, verbittert und verschlossen. Nichts davon ist wahr. Olivia ist eine offenherzige, kluge und reflektierte Frau. Sie ist die einzige, die in all den Jahren verarbeitet hat, was geschehen ist, und die deshalb mit Yen teilen kann, was sie weiss.

Olivia ist schlank und gross gewachsen. Sie kam mit der zweiten Welle aus Vietnam in die USA, nachdem sie ein Flüchtlings­boot auf eine philippinische Insel gebracht hatte. Olivia hat harte Gesichts­züge, die sich in viele kleine Falten auflösen, wenn sie lacht. Und sie lacht viel im Gespräch, manchmal auch dann, wenn die Sache nicht besonders lustig ist. Olivia kam mit Yens Vater Dung zusammen, nachdem dieser sich von Yens Mutter Linh getrennt hatte. 17 Jahre alt war sie damals. Mit 19 bekam sie ein Kind von ihm, das sie Jules taufte – Yens Halbbruder. Noch während sie schwanger war, verliebte er sich in eine andere.

Olivia: Was ich dir von deinem Vater erzählen werde, ist nichts Schönes, Yen. Kannst du damit umgehen?

Yen: Ich will alles wissen, das Gute und das Schlechte.

Olivia: Ich schwöre, es ist nur schlecht.

Yen: Du hörst dich wie meine Mutter an. Okay, ich bin alt genug dafür.

Olivia: Einmal kam er nach Hause. Ich sah ihn an und spürte, dass er sich verliebt hatte. Er rief ein Mädchen an. Ich hörte am zweiten Apparat mit. Ich hörte sie sprechen. Ich wurde so wütend und ging in die Küche, holte ein Messer und schlitzte mein eigenes Bein auf.

Sie zeigt die Narbe, lacht.

Yen: Habt ihr euch dann getrennt?

Olivia: Nein, weil ich Jules schon hatte. Ein paar Tage später ging ich ins Kino und traf sie beide dort an. Er nahm sie sogar zu uns nach Hause, während ich daheim war.

Yen: Deshalb kehrte meine Mutter in die Schweiz zurück.

Amy: Es gibt wirklich nicht viel Gutes zu sagen.

Amy, wie Olivia als Teenager aus Vietnam nach Kalifornien gekommen, muss früher eine attraktive, selbst­bewusste junge Frau gewesen sein. Heute wirkt sie fragil, vom Leben verunsichert. Draussen trägt sie stets eine Sonnen­brille, was ihr eine geheimnis­volle Ausstrahlung verleiht. Ihr Lachen ist nervös, ihre Stimme aufgeraut. Wird ihr das Gespräch zu viel, steht sie vom Tisch auf und zündet sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an.

Yen: Was hat die Gang für Verbrechen begangen, Amy?

Amy: Einbrüche, Überfälle, Morde auch, denke ich. Davon habe ich gehört. Aber nie direkt, immer nur aus dem Umfeld. Sie haben uns nie gesagt, was sie anstellten. Bloss einmal sah ich, wozu sie fähig waren. Dein Vater wurde von einer anderen Gang bedroht. Da kam dein Onkel Hung mit ein paar Männern und riegelte das Haus ab. Er setzte einem Mann die Pistole an den Kopf, schrie ihn an: «Bist du jetzt immer noch so stark?» Dann drückte er ab, doch er schoss am Kopf vorbei. Aber solche Dinge waren die Ausnahme. Wir merkten nicht viel von all dem. Wir hatten meistens einfach eine gute Zeit zusammen, gingen viel in die Clubs.

Olivia: Vier Tage in der Woche.

Amy: Wir haben alle zusammen in einem grossen Haus in Rosemead gewohnt, das deinem Vater gehörte. Wir hatten so viel Spass. Haben deinen Vater angezogen wie eine Ballerina. Und er ist umher­gegangen und hat Dollar­scheine regnen lassen.

Olivia: Er machte Pho für alle. Nur Suppe und Frühlings­zwiebeln. Die Leute liebten es.

Yen: Wer wohnte da alles?

Olivia: Immer etwa zehn oder zwanzig Leute. Wer wollte, konnte bei ihm schlafen. An den Wochen­enden nach der Party schliefen die Leute einfach auf dem Boden. Aber ich musste nach Hause gehen, weil ich noch nicht 18 war.

Yen: Wie war er so?

Amy: Sehr, sehr lustig.

Olivia: Nur zu dir.

Amy: Er war zu allen Mädchen im Haus lustig.

Yen: Das war das Problem?

Olivia: Er konnte sehr kalt sein. Ich glaube, deine Mutter konnte damit nicht umgehen. Ich glaube, deine Mutter und ich sind uns ähnlich. Sie liebte diesen Typ so fest. Und er war sehr grausam zu ihr.

Auf mich wirkt es im Gespräch, als würden Yen die Frauen­geschichten ihres Vaters zusetzen. Mehr als seine Zugehörigkeit zur Gang, was womöglich darin begründet liegt, dass sich die Geschichte eines Gangsters erklären – und verklären – lässt. Jene eines Mannes, der Frauen schlecht behandelt, nicht.

Yen: Wie war deine Beziehung zu ihm, Olivia?

Olivia: Die ersten sechs Monate waren normal. Dann ging er ins Gefängnis und veränderte sich sehr. Als ich schwanger wurde, ging alles in die Brüche.

Yen: Wart ihr noch zusammen, als er starb?

Olivia: On und off. Aber er behandelte mich nicht, wie man einen Menschen behandelt. Ich hörte auf, für ihn zu existieren. Er brachte eine neue Frau nach Hause und sagte zu mir: Bleib, wenn du willst. Du bist allen egal.

Er war süchtig nach dem Schönen, sagt Olivia. Er wollte das schönste Auto, die schönste Frau, die schönsten Kleider. «Er liess sich einmal die Woche die Haare machen», sagt Olivia und lacht los: «Er trug mehr Make-up als ich.» Er war ein Dandy. Aber er war auch ein Verbrecher, und darauf lenkt Yen nun das Gespräch. Sie will wissen, wie alles angefangen und wie es geendet hat.

Yens Vater in der Schweiz.

Das Gefängnis, sagt Olivia, damit hätten die Probleme begonnen. Er fand neue Freunde. Falsche Freunde, wie Yens Onkel schon damals sagte. Er zog nach dem Knast von L.A. rauf nach Oakland an die Bucht von San Francisco, wo er als bookie arbeitete, als Buch­macher für illegale American-Football-Wetten. «Er war zu dieser Zeit raus aus der Gang», sagt Olivia. Aber bald holte ihn die Vergangenheit ein. In einem Nachtclub geriet er mit Mitgliedern einer anderen Gang in einen Streit. Welcher? Olivia kann oder will es nicht sagen. Die Polizei vermutet: Mitglieder der Triade Wo Hop To.

Die andere Gang folgte Yens Vater und seinen zwei Begleitern ins heutige New Gold Medal Restaurant, an Oaklands 8th Street. Dort lieferten sich beide Gruppen ein Wortgefecht. Einer von Dung Duongs Begleitern verliess das Lokal, um aus dem Auto eine Waffe zu holen. In diesem Augenblick trat einer der fremden Männer an seinen Tisch. Er zog seine Pistole, eine kleine 25er, und schoss aus nächster Nähe auf Dung. Dessen zweiter Begleiter sprang von seinem Stuhl und versteckte sich unter dem Tisch. Der Schütze drückte dreimal ab, schoss in den Kopf, ins Herz und in den Hals. Die Angreifer flohen, und als die Polizei eintraf, hatte niemand etwas gesehen.

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San Francisco

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1 New Gold Medal Restaurant, der Tatort, wo Dung am 16. September 1990 erschossen wurde Daly City, Wohnort von Evelyn, der zweiten Frau von Hung, dem Bruder von Dung


Olivia: Die Polizei hat behauptet, ein Streit sei eskaliert. Aber ich glaube nicht daran. Es war ein Set-up, sie wollten ihn unbedingt töten.

Yen: Warum ihn?

Olivia: Es war eine Botschaft an deinen Onkel Hung: «Wir holen dich jetzt.»

Yen: Wer hat meinen Vater umgebracht?

Olivia: Der Typ ist tot. Ein halbes Jahr nach dem Mord im Restaurant kam dein Onkel zu mir und sagte mir, er habe ihn fertiggemacht.

Yen: Was ist mit Papis Begleitern passiert?

Olivia: Demjenigen, der sich unter dem Tisch versteckt hatte, erging es nicht besonders gut, weil er deinen Vater nicht verteidigt hat. Sie töteten ihn. Was mit dem anderen passiert ist, der die Waffe holen wollte, weiss ich nicht.

Mit der Ermordung von Yens Vater begann das tödliche Domino­spiel. Die Täter wussten, wie eng die Beziehung zwischen Yens Vater Dung und Yens Onkel Hung war. Sie wussten: Wenn wir Dung töten, wird sein Bruder die Kontrolle verlieren. Dann wird er lieber sich selbst und seine Gang zugrunde richten, als den Tod des geliebten kleinen Bruders ungesühnt lassen. 200 Menschen kamen 1990 zur Beerdigung von Yens Vater. Keiner traute sich, nicht zu erscheinen. Als Hung ein halbes Jahr später bestattet wurde, kam nicht mal die Hälfte der Leute. Niemand musste Hung Pho mehr respektieren und schon gar nicht fürchten.

New Gold Medal Restaurant – der Ort, an dem Yens Vater erschossen wurde. Renato Beck

Doch das Töten war damit noch nicht zu Ende. Ein paar Monate nach dem Tod von Hung wurde ein weiterer Onkel von Yen ermordet. Die feindliche Gang schickte ihm einen Killer nach Vietnam hinterher, wo er in den Ferien weilte.

«Verstehst du, Yen, was passiert ist?», fragt Olivia. «Es war Rache. Einer für den anderen, bis keiner mehr da war.»

Ich klinke mich ins Gespräch ein und stelle Olivia eine Frage: Und der Friedhofs­mord 1992 war der Abschluss dieser blutigen Abrechnung?

Olivia: Was weiss ich schon, Leichen sprechen nicht. Niemand hat den Mord wirklich untersucht. Die Männer, die gestorben sind, waren Müll, keiner hat sich für sie interessiert.

Ich: Wer war dafür verantwortlich, Olivia?

Olivia: Ich glaube nicht, dass ich dir das sagen sollte.

«Ein Polizist …» beginne ich einen Satz, und Olivia mustert mich aufmerksam. Yen unterbricht mich und wirft mir einen wütenden Blick zu: «Hör sofort auf, warum sprichst du von der Polizei?!»

Ich hätte mit Olivia gerne die Ermittlungs­ergebnisse der Polizei geteilt, an die wir gelangt sind. Hätte ihr gerne unsere Puzzleteile hingelegt und geschaut, ob sie mit ihren kombiniert ein stimmiges Bild der Ereignisse ergeben. Aber vermutlich gilt in Little Saigon noch heute: Mit der Polizei spricht man nicht.

Unser Kontakt bei der Polizei von Anaheim vermutet, dass sich Yens Vater mit Mitgliedern von Wo Hop To eingelassen hat. Die mächtige Triade aus Hongkong fasste Ende der 1980er-Jahre in Kalifornien Fuss. Kaum angekommen, führte sie einen blutigen Krieg um Einfluss und Geld mit der dominanten Triade Wah Ching. Diese Geheim­gesellschaft wurde in den 1960er-Jahren von chinesischen Einwanderern in San Francisco gebildet, sie zählt heute wie Wo Hop To zu den grössten asiatischen kriminellen Organisationen in Nordamerika. Die vermeintlichen neuen Freunde von Yens Vater sollen Hung Pho bald als Übernahme­ziel identifiziert haben. Mit der Hilfe von illoyalen Hung-Pho-Mitgliedern merzten sie die Gang schliesslich innert weniger Jahre komplett aus.

Yens Vater war die Schwach­stelle im Konstrukt Hung Pho, weil er von seinem mächtigen Bruder über alle Massen geliebt wurde. Er war der Domino­stein, der fallen musste, um das ganze Gebilde zum Einsturz zu bringen.

Wir beschliessen das Gespräch mit Olivia und Amy. Yen ist aufgewühlt, ich bin irritiert. Die Banalität der Hinter­gründe verblüfft mich. Die Männer liessen ihre Gang, ihre Familie zugrunde gehen, weil sie keine andere Strategie kannten als jene der Blutrache. Sie konnten sich der neuen Ordnung mit einem übermächtigen Gegner nicht anpassen, weil sie lieber ihre Familie opferten als ihre Familien­ehre. Deshalb verschwanden die Gebrüder Duong und ihr kriminelles Netzwerk von der Welt.

Die Behörden waren besorgt über die Veränderungen in der kalifornischen Unterwelt. Im Herbst 1991 sagten Ermittler an einem Hearing vor dem US-Senat aus – über die Aktivitäten der asiatischen Mafia-Organisationen. Hung Pho, so die FBI-Leute, sei vollständig in die Triade Wo Hop To integriert worden. Und in Südkalifornien würden verbliebene Hung-Pho-Mitglieder nun die Drecks­arbeit für andere kriminelle Gruppen erledigen, etwa für die aus Taiwan stammenden United Bamboo. Die Palette der Verbrechen erinnerte an die Anfangszeit der Strassen­gangs auf den endlosen Boulevards von Orange County: Sie arbeiteten in legalen und illegalen Pai-Gow-Clubs, raubten die Gewinner aus, drangen in Häuser ein, raubten, erpressten, mordeten.

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1 San Marino: Treffen mit Amy und Olivia, der Mutter von Dung Duongs zweitem Kind Chino Hills, der Wohnort des Ex-Polizisten und Gang-Experten Al Valdez Little Saigon Holiday Inn, das Hotel von Yen Duong und Renato Beck Melrose-Abbey-Friedhof, wo Dung begraben ist und ein bislang ungeklärter Mordanschlag geschah Anchor Street, der Wohnort von Oma Duong


Doch der Ruf von Hungs und Dungs Gang verhallte nicht so schnell. Noch im März 1993, als die meisten Mitglieder unter der Erde lagen oder sich anderweitig umgeschaut hatten, warnte der kalifornische Generalstaats­anwalt in einem Ausblick auf das Jahr 2000 vor Hung Pho. Aber bald verschwand die Gang aus den Ermittlungs­akten. Das Segel­schiff von Haiphong, das so viele Oberkörper zierte, war ausgelöscht – ausser in der Erinnerung der Überlebenden, wo es bis heute herumspukt. Und auf dem Rücken eines jungen Mannes aus San Francisco, Yens Cousin, der unlängst seinen College-Abschluss gemacht hat.

Einen Tag nach dem langen Gespräch im Park ruft Olivia Yen im Hotel an.

«Was ich dir noch sagen wollte, und das ist wichtig, damit du das alles verstehst: Es war eine andere Zeit damals. Ein Menschen­leben hatte keinen Wert. Dein Vater und seine Brüder – viele Junge dieser Generation – hatten die Hölle hinter sich. Sie hatten die Gewalt im Krieg erlebt, hatten das Flüchtlings­lager in Hongkong überstanden, wo täglich gemordet und geraubt wurde. Mit diesen Erfahrungen kamen sie nach Kalifornien, wo ihnen nichts geschenkt wurde. Wollten sie neue Kleider, mussten sie sie stehlen. Sie bekamen von ihren Eltern keine Autos geschenkt wie die Kids heute. Sie haben für alles gekämpft, und sie haben auf eine Weise zusammen­gehalten, wie es heute undenkbar ist. Meine Highschool damals war völlig irre. Alle waren in einer Gang. Wir mussten nach der Schule nur über die Strassen gehen, und da warteten sie auf uns. Wir kannten nichts anderes. Es war die Zeit, Yen.»

Am selben Tag, wir sind im Auto unterwegs, ruft Olivia nochmals an: «Amy will euch unbedingt nochmals treffen. Sie will mit euch auf den Friedhof gehen.» Yen lehnt ab, am nächsten Tag sollten wir in die Schweiz zurück­fliegen. «Bitte, es benötigt auch nicht viel Zeit, sie will mit euch ans Grab.»

Yen überkommt ein seltsames Gefühl. Warum will Amy mit uns auf den Friedhof? Was wissen wir überhaupt von ihr? Wo ist sie unter­gekommen nach all den Morden? Was macht sie eigentlich heute?

«Treffen wir sie und schauen, was passiert, Yen», sage ich. «Es jagt mir Angst ein. Du weisst, was auf dem Friedhof geschehen ist.» Yen lehnt ab. Sie will zwar auf den Friedhof, aber nicht in Begleitung von Amy.

15. Friedhof Melrose Abbey in Anaheim, Juli 2019

Die Sonne flimmert am Himmel. Die Temperaturen sind täglich gestiegen, bis sie die Hitze eines südkalifornischen Sommers erreicht haben. Wir fahren mit dem Auto direkt auf den Friedhof. Yen, ich und Chris, ein Freund der Familie. Sie suchen die Grabsteine, ich warte im Schatten. Sie finden sie, trotz einer dicken Schmutz­schicht, mit der die Grabmale überzogen sind.

Chris holt Putzzeug aus seinem riesigen GMC Sierra. Sorgfältig reinigen er und Yen die beiden Platten, bis die eingearbeiteten Porträts von Yens Vater Dung und Onkel Hung zum Vorschein kommen. Sie setzen frische Blumen vor die Gräber, dann zündet Yen eine Zigarette an, nimmt ein paar Züge und legt sie noch brennend auf das Grab.

Vietnamesen glauben, dass die Verstorbenen im Jenseits in den Genuss der Grabgaben kommen. Deshalb deponieren Angehörige an den Gräbern Whisky­flaschen, vietnamesischen Kaffee, alle möglichen Dinge. Yen verbeugt sich ein paarmal, dann verlassen wir den Friedhof, und bald darauf Orange County und Yens amerikanische Familie.

Auf der Rückreise sprechen Yen und ich nicht mehr viel miteinander. Wir sind beide für sich damit beschäftigt, die Dinge einzuordnen. Es war keine einfache Reise für uns. Wir haben gestritten, haben geschwiegen. Wir waren zwar als Journalistin und Journalist unterwegs, doch Yen vor allem als Tochter und zurück­gekehrtes Familien­mitglied. Natürlich sorgte das für Spannungen – natürlich haben wir diese unterschätzt.

Yen Duong am 20. Dezember 2019, fotografiert in Basel. Joel Hunn

Zurück in der Schweiz frage ich Yen, weshalb sie eingewilligt hat, diese persönliche Recherche zu veröffentlichen. «Weil es mir den Anstoss gegeben hat, zu dieser Suche aufzubrechen. Ich glaube, ich hätte es sonst nie gemacht. Aber ich will irgendwann unseren Kindern erzählen können, wer ihr Grossvater war», antwortet Yen.

Weiss sie denn jetzt, wer ihr Vater war?

Yen lässt einige der Briefe übersetzen, die ihre Mutter in der Plastik­tüte in ihrer Wohnung aufbewahrt. Das sind die einzigen übrig gebliebenen direkten Zeugnisse ihres Vaters. Einer ist datiert vom 6. Juni 1988. Er trägt den Absender des Gefängnisses in Chino. Von Dung an seine Ex-Frau Linh in die Schweiz. Er schreibt:

Wir hatten eine lange Zeit keinen Kontakt. Heute schreibe ich dir, obwohl ich weiss, dass diese Worte keine Bedeutung für dich haben. Ich muss dir schreiben, um dir zurück­zugeben, was von unserer Liebe noch übrig ist. Bitte, sei nicht wütend auf mich, wenn du diesen Brief liest. Ich weiss, du lebst schweigend, um mich zu vergessen. Ich war ein fürchterlicher Ehemann … Nach all den traurigen Dingen ist Baby Yen die einzige Sache, die uns geblieben ist. Ich weiss, ich habe kein Recht, von ihr zu sprechen, weil ich meine Pflichten als Vater nie erfüllt habe. Trotzdem fühle ich sie, wann immer ich meine Augen schliesse.

Yen lässt einen zweiten Brief übersetzen, den Dung aus dem Gefängnis geschrieben hat.

Ich gewöhne mich daran, zu den Mauern zu sprechen. Ich war drei Tage lang krank und konnte nichts essen. Ich verzehre mich nach Reisbrei, aber es gibt nur Brot. Ich wünschte, du wärst hier und würdest mich pflegen. Ich bin immer noch okay, du brauchst dich nicht um mich zu sorgen. Ich kann mich um mich selber kümmern.

Wie geht es dir und unserer Tochter? Geht es euch beiden gut? Ist unsere Tochter gut geraten? Ich vermisse sie so fest, aber ich kann nichts für sie tun. Ich bete jeden Tag für euch.

Nachdem Yen den Brief gelesen hat, sagt sie mir, er habe sie traurig gemacht. Ich frage sie, weshalb.

Yen überlegt kurz, dann sagt sie: «Weil ich ihm etwas bedeutet habe.»

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