«Kaum ein friedlicherer Ort»: Schloss Friedrichsruh auf einer Aufnahme von 1884. akg-images/Historisches Auge/Keystone

Wo Deutschland stirbt

Ein Schloss des tausendjährigen Erinnerns: Friedrichsruh in Norddeutschland ist Stammsitz der Familie Bismarck, hier treffen sich bis heute die Rechtskonservativen, die alten und die neuen Nazis – und auch ein RAF-Terrorist war schon da.

Von Katarina Holländer, 27.12.2019, Update 27.02.2020

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Hinter Hamburg fuhr man einfach nicht weiter. In Richtung Osten ging es vielleicht noch nach Reinbek, falls man zum Rowohlt-Verlag musste, oder durfte. Aber weiter? Kaum. Hamburg ist mit seinem dicken Mündungs­arm der Elbe offen nach Westen, nach dem nördlichen Dänemark und zum ausgedehnten Süden hin, in welchem sich das Land seinen Flüssen entlang zu den Alpen hin erstreckt.

Im Osten lag noch der Sachsenwald, und hinter dem Sachsenwald … da wollte man lieber gar nicht hin. Dort lag noch Schwarzenbek. Und danach wurde es immer düsterer, man gelangte nach Grabau, und dahinter lag Müssen. Wer will das schon. Und auch wenn etwas nördlicher – zwischen Roseburg und Besenthal – Göttin lag: Man fuhr da einfach nicht hin. Sofern man nicht musste.

Zur Autorin

Katarina Holländer ist Autorin, Publizistin und Fotografin. In der ČSSR geboren, lebt sie seit 1968 in der Schweiz. Sie war unter anderem Lektorin beim Benteli-Verlag und Redaktorin der Kultur­zeitschrift «Du». 2019 erschien von ihr «Diheime» in «Unsere Schweiz – Ein Heimatbuch für Weltoffene». Demnächst erscheint ein Text in der Anthologie «Dunkelkammern» (Suhrkamp 2020).

Jahrzehntelang kam der Eiserne Vorhang bedrohlich die Elbe hinauf auf Hamburg zugekrochen, bevor er nach Norden knickte und Schleswig-Holstein von Mecklenburg-Vorpommern trennte. Das Land entvölkerte sich hier spürbar. Man befand sich in weitgehend vergessenem Niemands­land, keine 20 Kilometer hinter dem Sachsenwald lag noch Lauenburg, wo Friedrich W. Murnau für seinen Grusel­klassiker «Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens» Aussen­aufnahmen drehte. Hier war man am Zonenrand, und dahinter lag der Todes­streifen. Dead end.

Noch 1953 schossen sowjetische Düsenjäger hier einen britischen Bomber ab. Kalter Krieg, heisse Jagden, schweiss­treibende Schikanen: Damals wollte auch Ernst Reuter, der regierende Bürger­meister Westberlins, hier mal rüber in die DDR. Doch nix da: Die ostdeutschen Grenzer liessen ihn nicht durch. In seinem Interzonenpass vermissten sie nicht nur die Hausnummer, sondern auch den Strassen­namen. Manchmal gelang einem dieser Grenz­beamten die Flucht in den Westen.

Dabei hätte in diesen Gegenden die Achse zwischen den beiden grössten Städten Deutschlands – Berlin und Hamburg – eigentlich einiges beleben können: Die Reichsautobahn, die sie verbinden sollte, wurde schon in den 1930er-Jahren begonnen und hätte hier die spätere innerdeutsche Grenze gequert. Doch als der Autobahnbau beim Sachsenwald angelangt war, brach der Krieg aus, die Arbeitskräfte wurden anderweitig vergeudet und die Arbeiten abgebrochen. Erst spät in den Achtzigern wurde die Autobahn, die entlang man durch Kümmernitztal auf Herzsprung-Heiligen­grabe zurasen würde, um nach Berlin zu gelangen, endlich fertiggestellt.

Letzter Halt also: Sachsenwald. Diesen schenkte Kaiser Wilhelm I. aus seinem eigenen Besitz dem ersten deutschen Reichs­kanzler Otto von Bismarck im Jahre 1871 zur Reichs­gründung als kleinen Dank für dessen Verdienste um sie.

Bismarck war beglückt. Keine andere Besitzung, meinte er, entspreche seinen «Neigungen und Idealen» so sehr wie diese. An seiner westlichen Flanke, vor den Toren Hamburgs, kaufte er sich in Friedrichsruh, direkt an der Bahnlinie nach Berlin gelegen, mehrere Anwesen und lebte fortan bis zu seinem Tode hier auf seinem Alters­sitz, und seine Nachkommen wohnen bis heute in diesem «Schloss». Friedrichsruh, heute ein Ortsteil von Aumühle, ist nach Friedrich Karl August, Graf und Edler Herr zur Lippe-Biesterfeld, Sternberg und Schwalenberg benannt. 1706 in Biesterfeld geboren, hat er sich 1763 hier ein Jagdschlösschen erbauen lassen, in dem er 1781 verstorben ist.

Otto Fürst von Bismarck, von 1871 bis 1890 erster Reichskanzler des Deutschen Reiches. akg-images/Historisches Auge/Keystone
Schloss Friedrichsruh, Wohnsitz der Familie Bismarck, um 1913. ullstein bild/Getty Images
Otto von Bismarck (vorne rechts) im Kreise von engen Verwandten und Bekannten in Friedrichsruh. Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo/Keystone

Als es mit Bismarck selber ans Sterben ging, machte er mit seiner Verbundenheit zu diesem Landstück dem herrschenden Kaiser Wilhelm II., der ihn am 20. März 1890 entlassen hatte, am Ende ein Strichlein durch die Rechnung. Der Kaiser stellte sich nämlich einen gloriosen Staatsakt anlässlich der Grablegung des «eisernen Kanzlers» vor, von «Deutschlands grossem Sohn», eine Art Heimholung in die Fürsten­gruft des Berliner Domes.

Und das telegrafierte er auch sogleich in die Welt hinaus. Doch der verblichene Kanzler hatte seine eigenen Vorstellungen gepflegt und hinter dem Bahnhof von Friedrichsruh auf dem bescheidenen Schnecken­berg sein eigenes, immerhin vom Theoderich­grab zu Ravenna inspiriertes Mausoleum geplant und testamentarisch verfügt, dort bestattet zu werden. «Ein treuer deutscher Diener Kaiser Wilhelms I.» sollte sein unmissverständlicher Grabspruch sein.

In der Bestürzung über sein Ableben am 30. Juli 1898 gingen die Emotionen hoch, und es entbrannte eine öffentliche Diskussion um Bismarcks letzte Bleibe. Auch Theodor Fontane, dem in Berlin keine zwei Monate Lebenszeit mehr verblieben, konnte die Tränen nicht zurück­halten, als mit dem Reichs­kanzler ein Pfeiler seiner Welt wegbrach.

Ob des Gezerres griff der greise Romancier zur Feder und warf das Gewicht seines Dichtertums in die Waagschale. Mit wenigen gereimten Pinsel­strichen zeichnete er Bismarck als ein die Zeiten überragendes Natur­ereignis, welches die Dimensionen der Hohenzollern­gruft, ja sogar die Epoche des Christentums sprengt und in die Natur des sich ewig erneuernden Sachsenwalds eingeht, den sein Geist zur ewigen Stätte seiner Werte erhöht:

Wo Bismarck liegen soll

Nicht in Dom oder Fürstengruft,
Er ruh’ in Gottes freier Luft
Draussen auf Berg und Halde,
Noch besser tief, tief im Walde;
Widukind lädt ihn zu sich ein:
«Ein Sachse war er, drum ist er mein,
Im Sachsenwald soll er begraben sein.»
Der Leib zerfällt, der Stein zerfällt,
Aber der Sachsenwald, der hält,
Und kommen nach dreitausend Jahren
Fremde hier des Weges gefahren
Und sehen, geborgen vorm Licht der Sonnen,
Den Waldgrund in Epheu tief eingesponnen,
Und staunen der Schönheit und jauchzen froh,
So gebietet einer: «Lärmt nicht so! –
Hier unten liegt Bismarck irgendwo.»

Sohn Herbert von Bismarck sah sich bestärkt und liess sich nicht beirren. Er vollstreckte den letzten Willen seines Vaters und bestellte den Bau der Mausoleums­anlage, und schon im Frühjahr 1899 wurden die sterblichen Überreste des Kanzlers und seiner Gemahlin in den Bau überführt, wo sie seither in Sarkophagen ruhen.

Sarkophag von Otto von Bismarck in der Gruft auf Friedrichsruh. Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo/Keystone

Diese letzte Ruhestätte Otto von Bismarcks, sein neoromanisches Mausoleum mit Kapelle hinter dem Aumühler Bahnhof, scheint mittler­weile eher vergessen in der Gegend herumzustehen. Doch sollte man seine magnetische Wirkung nicht unterschätzen. Wo rote Teppiche ausgerollt worden waren, zeigte sich grosse Robe auch nach Bismarcks Tod weiterhin mit Vergnügen, entstieg den Kutschen und Zugwaggons und promenierte in der edlen Natur. Die Hamburger, aber auch Gäste von weiter her, strömten in das Naherholungs­gebiet mit seinen Teichen, Bächen, den wilden Tieren, die zur Jagd zu laden schienen, und zu dem Schloss mit dem gewissen Etwas.

Während um den Stammsitz der Familie von Bismarck leise ein Nobelvorort wuchs, zog die Gruft des Reichs­kanzlers, dem man im ganzen Land monumentale, ja monströse Denkmale geschaffen hatte, auch eine Schar Ewiggestriger mit nicht nachlassenden Zukunfts­phantasmagorien von völkischer Grösse an.

Jährlich pilgerte ab 1898 etwa Georg von Schönerer nach Friedrichsruh. Auf einer dieser Reisen starb zwar seine Frau, aber dem Führer der Deutsch­nationalen Bewegung, welche die Vereinigung der deutsch­sprachigen Gebiete Österreichs mit dem Deutschen Reich forderte, ging in Aumühle schliesslich dennoch ein Herzens­wunsch in Erfüllung. Er verfügte testamentarisch, dass er mit seiner Gemahlin in Bismarcks Nähe beigesetzt werden wolle, und 1922, zu Bismarcks 107. Geburtstag, wurde der «eiserne Kanzler» mit Schönerers feierlicher Beisetzung in einem Dauergrab auf dem Friedhof beschenkt.

Dass «der Reichsgründer» den Rassisten, der 1888 wegen antisemitischer Ausschreitungen den Adelstitel einbüsste, zu seinen Lebzeiten nicht ausstehen konnte, war ein bald vergessener Wermuts­tropfen. Die Inschrift der Grabplatte hatte auch der Führer der Alldeutschen Bewegung Österreichs selber bestimmt: «Georg Ritter von Schönerer, Gutsherr zu Schloss Rosenau, Niederösterreich, 1842–1921. Ein Kämpfer für Alldeutschland».

Seine letzte Rede als Führer der Alldeutschen hatte Schönerer 1913 anlässlich der 100-Jahr-Feier der Völker­schlacht bei Leipzig gehalten und kulminierend ausgerufen: «Alldeutschland ist und war mein Traum! Heil dem Bismarck der Zukunft, Retter der Deutschen und Gestalter Alldeutschlands! Heil ihm, dreimal Heil!»

Das «Heilen» kam nicht aus der Mode. Als der in seiner Zeit berühmteste «völkische» Politiker Österreichs neben seinem Bismarck in die deutsche Erde gelegt wurde, war er bereits das grosse Vorbild des anderen deutsch­fanatischen Österreichers, der sich gerade im Grosswerden übte: 1922 liess Adolf Hitler sich nach Mussolinis Marsch auf Rom mit einem wirksamen PR-Gag als «deutscher Mussolini» anpreisen, und die Welt fing an, von der Faszination Notiz zu nehmen, die diese kuriose Figur ausübte.

Die «New York Times» berichtete erstmals über Hitler, während man in Deutschland versuchte, den Kerl aus dem Land zu weisen und die NSDAP zu verbieten. Schönerers «Dreimal Heil» fing Hitler – der sich in «Mein Kampf» deutlich auf ihn bezieht – wie einen zugespielten Ball in der herbei­gesehnten Zukunft auf; den Anschluss Österreichs ans Reich erledigte er mit fliegenden Fahnen und drückte Gross­deutschland auf die Weltkarte.

Rassist und Pilgerreisender nach Friedrichsruh: Georg von Schönerer (um 1880). akg-images/Keystone
Bernhard zur Lippe-Biesterfeld, Ururururenkel des Erbauers von Friedrichsruh: Als Prinz Bernhard der Niederlande wollte er nichts mehr von seinen grossen Sympathien für die Nazis wissen. (Fotografiert als Mitarbeiter von US-General Eisenhower, um 1944). SSPL/Getty Images

Die Aumühler Stafette formierte sich. Der Ururururenkel jenes Friedrichs, nach dem die Ruhe hier benannt ist, Prinz Bernhard, ist zur Zeit der Beisetzungs­zeremonie von Schönerer elf Jahre alt und müht sich mit seinen Hauslehrern ab. Er wird später Hitlers NSDAP beitreten, die 1922 bereits ihre ersten 50’000 Mitglieder registriert hatte. Der Nachfahre des Jagd­schlösschen-Erbauers von Friedrichsruh wird auch der Reiter-SS angehören, doch kurz bevor er Anfang 1937 die niederländische Königin ehelicht, wird er aus der Nazi-Partei austreten und den Rest seines Lebens diese Aktivitäten verschweigen und leugnen – auch wenn er noch wenige Tage vor der Hochzeit seinem verehrten Hitler schrieb, dass es ein Fehler gewesen sei, anlässlich der Hochzeit in den Niederlanden die Hakenkreuz-Fahnen abzuhängen.

Dass der Katholiken­gegner und rabiate Antisemit von Schönerer, der den «Rassen­antisemitismus» wesentlich mitgeprägt hat, in Aumühle begraben ist und einen Gedenkstein hat – beziehungsweise wer mit diesem klingenden Namen gemeint ist –, wollte man im lauschigen Villen­vorort lange nicht so genau wissen. Auch einiges andere will man nicht gewusst oder schnell vergessen oder nie bemerkt haben.

Es ist ja auch ausnehmend schön und ruhig hier an der frischen Luft, und im Schatten des Sachsenwaldes, des einstigen kaiserlichen Jagdgebiets, geht es nobel zu und her. Man schätzt den Frieden und die Flora und die Fauna und die Gaststuben mit Bismarck-Flair, den frischen Fisch und die farben­prächtigen Schmetter­linge, die alljährlich zumeist aus Costa Rica als Larven eingeflogen werden, um hier in Deutschlands ältestem Schmetterlings­garten der Bismarcks flatternd vor Eintritt zahlenden Gästen als Symbole der Wieder­geburt zu verenden.

Die «Welt» ortete 2007 in diesem Gewächs­haus einen «Garten der Menschlichkeit», während andere Gärten der alarmgesicherten Villen Aumühles von der Strasse und vom Plebs gerne abgeschirmt werden. In hanseatischen Gegenden, deren Schatten man hier verspürt, geziemt es sich nicht zu protzen. So war denn auch das grösste Bismarck-Denkmal, das ausgerechnet in Hamburg steht und den Kanzler in der Rüstung der Kreuzritter aufstellt, eine peinliche Verfehlung und mit seinen 35 Metern Höhe und 625 Tonnen Gewicht politischem Kalkül geschuldet.

Protzbau: Bismarck-Denkmal im Alten Elbpark in Hamburg, um 1910. Sammlung Rauch/Interfoto/Keystone

Um Bismarcks Mausoleum wuchsen nicht nur die Villen aus dem Boden. Im Boden des Sachsen­waldes keimte auch ein gediegener Friedhof – der «Waldfriedhof» von Aumühle. Einst auf bismarckschem Boden tief im Wald gelegen, liegt er inzwischen am Waldrand hinter der evangelisch-lutherischen Bismarck-Gedächtnis­kirche, einem Rundbau im Stil des Hamburger Backstein­expressionismus der späten 1920er-Jahre: Für viele ist dieser Waldfriedhof der schönste Friedhof Deutschlands. Vier prähistorische Grabhügel auf seinem Gelände verbinden die Dahin­gegangenen mit einer Geschichte von geschätzten 5000 Jahren Totenkult.

In diesem Totenpark wurde tatsächlich die irdische Ewigkeit mit eingeplant: Über eine übliche Ruhezeit der Gräber von 25 Jahren hinaus gab es im 1911 eröffneten Waldfriedhof auch Grabplätze «für immer» zu erwerben. (Diese Ewigkeit endete dann allerdings in der auch in Bezug auf die Toten­bestattung etwas prosaischeren Nachkriegs­zeit.) Der Friedhof war begehrt und musste wiederholt erweitert werden. Ferdinand von Bismarck war auch nicht abgeneigt, auf entsprechende Wünsche einzugehen. Neue gewundene Wege wurden in den Wald gezogen, neue Totenfelder angelegt, und noch Mitte der 1980er-Jahre kämpfte man in Aumühle um eine weitere riesige Erweiterung. Inzwischen gehören die Grundstücke von Friedhof und Kirche nicht mehr der Familie von Bismarck, sondern der Kirchgmeinde und einer Stiftung.

Dabei war die Erweiterung gar nicht einfach. Gemäss Forst­meister Hugo Titzes ursprünglichem Plan sollte man schon vom Eingangstor zum Friedhof her das Gefallenen­denkmal im Auge haben, zu dem eine schnurgerade feierliche Hauptachse gelegt wurde. Obwohl deshalb jenseits des krönenden Ehrenmals (das im Grundriss wie die Apsis eines Domes daliegt und das Soldaten­gedenken an den symbolischen Ort des Altars verlegte) keine Erweiterung denkbar war, musste der Charakter der Anlage mit Fantasie und Verhandlungs­geschick als künstlicher Naturwald bewahrt bleiben.

Mit den Gestorbenen ist es in Deutschland allerdings irgendwie schwierig. Da wollte man mit dem zentralen Denkmal doch der Toten gedenken, was aber herauskam, war kein Trauer­gedenken, sondern eine Helden­feier: Der von 1909 an eingeplante Platz für das Denkmal war bei der Eröffnung 1911 leer geblieben. Und blieb auch weiterhin eine Leerstelle.

Dann kam der Erste Weltkrieg. Und wer hätte nach dieser epochalen Katastrophe noch um früher Gefallene zu trauern gewagt? Ein Verein setzte sich nun für die Errichtung eines Ehrenmals für die Gefallenen des verlorenen Weltkriegs ein. Von einer gerundeten Mauer umfangen, sollte für sie auf einem Sockel aus Feldsteinen ein riesiger Findling aufgestellt werden. Nebst den Zahlen 1914 und 1918 wurden Stahlhelm und Schwert in den Naturstein gemeisselt. Darunter prangte eine Tafel mit der Inschrift:

Die Edelsten sind auf deiner Höhe erschlagen. Wie sind die Helden gefallen. 2. Sam. Vers 19

Mit Zitaten ist es wie mit dem Toten­gedenken. Nicht immer gelingen sie. Der Vers 19 entstammt der Totenklage Davids, des künftigen Königs der Juden. Er klagt hier um den ersten König Israels, Saul, und dessen Sohn Jonathan, Davids Freund, die im Kampf getötet worden sind. Als er von ihrem Tod erfährt, klagt David: «Die Edelsten in Israel sind auf deinen Höhen erschlagen. Wie sind die Helden gefallen!» – Aber mit den toten Juden ist das auch so eine Sache. Seit 2000 Jahren. Das darf einfach nicht sein; die zwei Wörtchen «in Israel» wurden in Aumühle unterschlagen.

Das fehlende Denkmal ist schliesslich erst 1924 dank Freiwilligen­arbeit errichtet worden. Die deutsche Gesellschaft steckte da gerade mitten in heftigen Diskussionen um den Geist des Toten­gedenkens, seit 1922 im Reichstag eine erste offizielle Toten­gedenk­feier abgehalten worden war. Im Jahre 1926 wurde zwar ein Frühlings­sonntag zum «Volks­trauertag» erklärt, doch ein offizieller Feiertag wurde nicht daraus.

Es waren andere Stimmungen, die sich in jenen Jahren ausbreiteten. Zunehmend wurden «Gedenk­veranstaltungen» von konservativen Kräften gestaltet, bis die National­sozialisten den Gedenktag vollends übernahmen. Die Feier wurde aufgerüstet, und statt um die Gefallenen zu trauern, war am «Helden­gedenktag» feierliche Helden­verehrung vorgeschrieben. Goebbels verbot an mitgeführten Fahnen jeglichen Trauerflor, und überhaupt waren die Flaggen vollständig zu hissen und sollten nicht mehr auf halbmast gesetzt werden.

Es dauerte bis zum Helden­gedenktag des Jahres 1932, dass in Aumühle – bereits in aufgeputschter Stimmung – am Sockel des Denkmals doch noch die konkreten Namen der aus Aumühle, Friedrichsruh und Wohltorf stammenden gefallenen Soldaten angebracht wurden. «Es wurde ein pompöser Festakt. Die Vereine und Verbände aus Aumühle und Wohltorf hatten Abordnungen mit den Vereins­fahnen entsandt. Wenn man das Foto von der Veranstaltung sieht, ist sofort klar, das war keine Trauer­feier, keine Mahnung, sondern ein Helden­gedenken, so wie es der Zeit des erstarkenden nationalen Gefühls entsprach. Bis zum Jahr 1945 wurde im März der Helden­gedenktag vor dem Ehrenmal begangen», schrieb Lothar Neinass, ehemaliger Leiter des Amtes Hohe Elbgeest, als Autor einer Broschüre zur Geschichte des Waldfriedhofs, die er 2012 unter dem Titel «Waldfriedhof in Aumühle 1911–2011, Blick in die hundertjährige Geschichte des Waldfriedhofes» in vier Kapiteln herausbrachte.

Eine eigentümliche Unruh herrscht unter den hohen Nadel- und Laubbäumen von Friedrichsruh. Seinen seelischen Trauerort scheint das Toten­denkmal im Waldfriedhof nie gefunden zu haben: Erst wurde es ausgelassen, dann ging es vergessen, um daraufhin, noch ungeboren, umgewidmet zu werden, es schummelte sich mit einem biblischen Betrug an den Juden ins Zentrum der Feierlaune, während die Namen jener, um die man hatte trauern wollen, noch lange fehlten, und waren sie einmal da, wurde das Trauern selber untersagt, bevor am Ende auch das Feiern verboten wurde.

In den Fünfziger­jahren wurde den Aumühlern ihr Findling dann dermassen peinlich, dass sie den Brocken kurzerhand auf dem Friedhof, dem er den kollektiven Sinn hätte eingeben sollen, begruben. Er wurde zu Füssen seines eigenen Sockels verscharrt. Für eine letzte Radikalität reichte der Elan dann aber doch nicht. Der Sockel selbst blieb stehen und gab ein verschämtes Restdenkmal ab, alles und nichts sagend, wie es dem verschleiernden Zeitgeist entsprach: «Den Opfern von Krieg und Gewalt 1914–1918 und 1939–1945» ist darauf zu lesen.

Und so kam man weiter jährlich am Volks­trauertag um den Stummel des Gedenkens zusammen. «In den ersten Jahren nach dem Krieg war die Beteiligung gross. Alle Verbände und Vereine erschienen mit möglichst vielen Mitgliedern. Feuerwehr, DRK und Schützen kamen in Uniform bzw. in Tracht. Jeder Verein legte am Ehrenmal einen Kranz nieder. Die Ansprachen hielten vielfach Prominente aus den Gemeinden. Schüler der Aumühler Schule lasen Gedichte und Texte. Der Gesang­verein und die Feuerwehr­kapelle umrahmten musikalisch die Veranstaltung», berichtet Neinass, und im Rückblick kann er nicht umhin festzustellen: «Auch wenn das Gedenken an die Toten des Krieges und der Gewalt­herrschaft immer stärker in den Vorder­grund trat, kam doch auch bei einigen Rednern das Helden­gedenken früherer Jahrzehnte durch.»

Neinass bleibt stets diskret, und weiter als zu solchen Anspielungen versteigt er sich in der Regel nicht. Etwas aus der Fassung gerät er jedoch beim Versuch, einem anderen Gedenk­stein auf den Grund zu gehen, der seit dem Jahr 2001 auf dem Friedhof steht und dessen Aufschrift besagt: «In den Jahren von 1941–1942 wurden mehr als 30 unbekannte russische Kriegs­gefangene auf dem Friedhof Aumühle beigesetzt. Sie waren im Lager Oedendorf untergebracht und arbeiteten im Forst Sachsenwald. Zwischen 1950 und 1960 wurden die meisten auf russische Soldaten­friedhöfe umgebettet.»

Der Autor der Friedhofs­geschichte stellte 2012 erstaunt fest, dass sich keiner der ein Jahrzehnt zuvor an der Aufstellung beteiligten Kirchen­vorstands­mitglieder oder Pastoren daran erinnern mochte, warum der Stein aufgestellt worden war. Oder warum nur das Lager Oedendorf, auf der Nordseite des Sachsen­waldes, erwähnt wird und warum nicht auch die lokal im Aumühler Lager gestorbenen Zwangs­arbeiter auf dem Aumühler Friedhof beerdigt sein sollten.

Seine Recherchen ergaben allerdings, dass während des Krieges gar keine Zwangs­arbeiter auf dem Friedhof beerdigt worden waren. Entsprechend fehlt auch von Umbettungen jede Spur. Weder im Gemeinde­archiv noch in der schleswig-holsteinischen Liste der Gefangenen­lager ist das Kriegs­gefangenen­lager von Aumühle aufgeführt, das gemäss Neinass 1940 wohl in der Gastwirtschaft Bauernstube eingerichtet wurde, die der Familie von Bismarck gehörte. Ältere Aumühler erinnern sich an etwa 30 bis 50 dort untergebrachte Männer, die im Sachsenwald arbeiteten und auch von Privaten als Hilfskräfte angefordert werden konnten. Obwohl die Behörden – mit Sterbe­fällen im Kriegs­gefangenen­lager ganz offensichtlich rechnend – bereits 1941 östlich des Waldfriedhofs ein rund 100 Quadratmeter grosses Gräberfeld beantragt hatten, scheinen solche Sterbefälle nirgends beurkundet worden zu sein. Neinass schlussfolgert, dass die Inschrift auf dem Gedenk­stein nicht stimmen könne. Ein weiterer untauglicher Toten­gedenkstein. Ohnehin findet man an ihm, anders als an anderen Gedenk­stätten des Hamburger Vororts, keine Kränze oder andere Zeichen der Zuwendung.

Anders erging es dem begrabenen Toten­denkmal. Es wurde 1978 wieder ausgegraben. Doch die ursprüngliche Absicht von Christian Luther, dem einstigen Vorsitzenden des Friedhofs­ausschusses, den Brocken aus der guten alten Zeit wieder auf seinen Sockel zu hieven, erschien dann doch als irgendwie zu dreist. Man platzierte ihn zu Seiten seines einstigen Sockels – nun des zentralen Denkmals. Und so kam es, dass der auferstandene Findling von 1929 heute mit Stahlhelm und Bajonett rechts von sich selber steht.

Der 8. Mai 1945 gilt als das Ende des Krieges. In Aumühle beging man den Tag mit einem feierlichen Begräbnis. Am 29. April war ein gezielter Angriff britischer Jagdbomber auf das bismarcksche Schloss erfolgt, in welchem sich zu der Zeit auch die in Hamburg verbliebenen schwedischen und schweizerischen Diplomaten befanden. Der Schweizer General­konsul Adolf Ludwig Zehnder, seine Frau Else sowie die Wirtschafterin Else Schuldt waren in den Flammen umgekommen.

Historiker schliessen nicht aus, dass die Briten Heinrich Himmler im Schloss vermuteten oder dessen Geheim­verhandlungen mit dem schwedischen Grafen Folke Bernadotte um einen Separat­frieden mit Grossbritannien und den USA unterbinden wollten; Fürstin Ann-Mari von Bismarck (1907–1999), die Gemahlin von Otto Fürst von Bismarck, dem Enkel des «eisernen Kanzlers», war von Geburt Schwedin.

An diesem 8. Mai 1945 verkündete Gross­admiral Karl Dönitz in seiner Rundfunk­ansprache zur Kapitulation des Deutschen Reiches: «Deutsche Männer und Frauen! In meiner Ansprache am 1. Mai, in der ich dem deutschen Volk den Tod des Führers und meine Bestimmung zu seinem Nachfolger mitteilte, habe ich es als meine erste Aufgabe bezeichnet, das Leben deutscher Menschen zu retten. Um dieses Ziel zu erreichen, habe ich in der Nacht vom 6. zum 7. Mai dem Ober­kommando der Wehrmacht den Auftrag gegeben, die bedingungs­lose Kapitulation für alle kämpfenden Truppen auf allen Kriegs­schauplätzen zu erklären. (...) Die in unzähligen Schlachten bewährten Soldaten der deutschen Wehrmacht treten den bitteren Weg in die Gefangenschaft an (...)»

Am 4. Mai hatte die Wehrmacht ein erstes Mal kapituliert. Am folgenden Tag stand der Urururur­enkel jenes Friedrichs von Friedrichsruh, Prinz Bernhard der Niederlande, das einstige Reiter-SS-Mitglied, nun als Kommandant der nieder­ländischen Streitkräfte, neben dem kanadischen General Foulkes und dem deutschen Ober­befehlshaber Blaskowitz im Hotel de Wereld in Wageningen, als die Kapitulation der deutschen Einheiten im noch besetzten Teil der Niederlande verhandelt wurde.

Dönitz hatte bis zuletzt unerbittlich gehetzt. Noch Mitte Februar sprach er im Rundfunk die «lebens­bejahende» Jugend an, um sie sinnlos in den Tod zu hetzen: «Ihr seid vom Schicksal in die grösste Zeit unseres Volkes gestellt worden», schwadronierte er, er forderte weiterhin «fanatische Hingabe», «mit Leib und Seele dem Führer anzuhängen» in bedingungs­loser Treue und so weiter. Nach sehr kurzer Ausbildung sollten sich die jungen Männer gegenüber dem Feind «bewähren». Nicht dass ihr Führer selber zu ihnen «bedingungslose Treue» auch nur ansatzweise gezeigt hätte; deren Mangel trieb Hitler in jenen Wochen dazu, sich unbewährt aus dem Staub zu machen. Er überliess die verlorene Sache Dönitz und verkrümelte sich.

Am 3. Mai bezog die deutsche Regierung unter dem Kriegs­verbrecher Karl Dönitz, nun Reichs­präsident, in Flensburg-Mürwik ihr Hauptquartier. Drei Wochen später wurde Dönitz dort an Bord der Patria verhaftet, wo er sich eingerichtet hatte. Im Kapitäns­zimmer hatte er eine kleine Hitler-Büste aufgestellt. Die Patria war das letzte grosse Passagier­schiff, das die Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (Hapag) vom Stapel laufen liess – jene Hapag, die der Jude und deutsche Patriot und Pazifist, der «Reeder des Kaisers» Albert Ballin, dessen Namen die Nazis überall ausradiert hatten, in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zur grössten Schifffahrts­linie der Welt gemacht hatte. Die Patria wurde zum letzten Sitz von Hitlers Nachfolger. Als er verhaftet wurde, blieb der kleine Hitler in Plastik an Bord. Das Schiff selber fuhr ab 1946 und bis 1985 als «Rossiya» für die Sowjets über die Meere.

Hitlers Grossadmiral, der in seinem Schlusswort an den Nürnberger Prozessen erklärte, er «müsste das genauso wiedertun», wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt. Danach liess er sich als bereits dritter Reichskanzler im Schatten Bismarcks in Aumühle nieder: Auch Wilhelm Cuno hatte es, in den Zwanziger­jahren, hierher verschlagen. Cuno war als General­direktor der Hapag der direkte Nachfolger von Albert Ballin und als Reichskanzler 1922/1923 ein Vorgänger von Hitler und Dönitz gewesen. Er lebte teilweise in Aumühle und verstarb dort im Jahr 1933. Die unnachgiebige Haltung seiner Regierung gegen die Reparations­zahlungen beschleunigte in der Zwischen­kriegszeit den Ruin der deutschen Wirtschaft.

Dönitz, der unauffällige Rentner von nebenan, schrieb in Aumühle Bücher. Bücher, in welchen die Fakten verschleiert und verzerrt wurden. «Ich bin das legale Staats­oberhaupt Deutschlands, und das bleibe ich auch, bis ich sterbe», fand er auch noch lange nach Kriegsende. Als er im diskreten Aumühle an Heiligabend des Jahres 1980 zu atmen aufhörte, hatten Kinder, die dort aufwuchsen, noch nie von dem Onkel von nebenan gehört. Ihre Eltern schienen von nichts zu wissen.

Auch nicht, als zu seinem Begräbnis am Dreikönigstag 1981 plötzlich Tausende «alter Kameraden» auftauchten, manche – obwohl ihnen das ausdrücklich verboten worden war – in Uniform; denn neben Hans-Ulrich Rudel, dem höchst­dekorierten Soldaten der Wehrmacht, der ungebrochen rechts­extremistisch politisch aktiv war, und Hitlers Stellv­ertreter Rudolf Hess, die beide etwas später in den Achtzigern verstarben, war Dönitz der meistgefürchtete alte Nazi.

Der Kriegsverbrecher, der für einige Tage Reichspräsident sein durfte: Karl Dönitz in seiner Wohnung in Aumühle. Imagno/Votava/ullstein bild
In ewigem Gedenken: Die Beerdigung von Karl Dönitz am 6. Januar 1981 in Aumühle ... Klaus Rose/ullstein bild
...wurde zur Manifestation alter und neuer Nazis. Klaus Rose/ullstein bild

Der Grabstein des Aumühler Schrift­stellers fügt sich wie alle anderen hier den strengen Vorschriften: Polierte Grabsteine sind verboten. Es muss Naturstein sein, höchstens roh behauen, oder dann ein Findling. Gelungene Camouflage ist auch die unmilitärisch ungelenke Schrift, mit der durch Vertiefungen die sechs Buchstaben des Namens Dönitz und sonst nichts weiter aus dem Rohling heraus­gearbeitet sind. Herr Dönitz liegt neben seiner 1962 verstorbenen Frau, und eine Tafel trägt auch die Namen von zwei Söhnen – gefallen 1943 im Nordatlantik und 1944 im englischen Kanal. Papa hat sie alle überlebt.

Das Pilgern nach Aumühle hat nie aufgehört. Dönitz’ Grab ist bis heute ein Hotspot für Neonazis. Während Jahr um Jahr die einschlägigen Nostalgiker zum Grab des Hitler-Nachfolgers pilgerten und die NPD Kränze niederlegte, schaute die Öffentlichkeit in nah und fern lieber weg.

In den Neunziger­jahren gab es Aufmärsche von Uniformierten, die man nicht bemerkt haben wollte, und auch zu AfD-Zeiten versammeln sich Rechts­extreme im distinguierten Ausflugs­ziel am Toten­sonntag am Grab ihres Helden. Sie organisieren sich untereinander, sie rufen zu Spenden auf für das wacklige Kruzifix über dem Grab, ein schwarzes Kreuz, an das ein gekrönter Christus genagelt ist, der auf einen niederblickt und dessen ausgemergelte Gestalt mit ihren hervor­tretenden Rippen Assoziationen an dieses oder jenes wecken kann, von dem Dönitz so gar nichts gewusst haben wollte.

Fremdsprachige NS-Pilger geben sich untereinander Ratschläge. Für Amerikaner, die vor lauter deutschen Bäumen das Grab nicht finden und nicht zu lange zwischen unbedeutenden Toten herumtapsen wollen, klingt das dann zum Beispiel so: «If you do not speak German, simply say ‹Bitte Doenitz Grab› (loosely translates to ‹Please Doenitz grave›). From personal experience, I felt the caretakers are truly proud to have this great historical figure buried in their cemetery», hiess es im Netz auf einer Seite, die nicht mehr in Betrieb ist (www.karl-doenitz.com).

Zumindest ein Schüler hatte allerdings doch mitbekommen, wer da in Aumühle als Memoiren­schreiber seinen Lebens­abend ungestört verbrachte. Der 18-jährige Schüler­sprecher (und spätere Minister­präsident) Uwe Barschel lud Grossadmiral Karl Dönitz zu einer «Geschichts­fragestunde» in sein Gymnasium im wenige Kilometer entfernten Geesthacht ein. Den «militaristischen bis faschistischen Ausführungen» des Rentners wurde 1963 kaum etwas entgegengesetzt, und der Schuldirektor meinte zum Abschluss zum properen Dönitz: «Wir wollen Ihnen glauben, dass Sie von dem Völkermord keine Ahnung hatten.» Als die Sache publik wurde, nahm der Schulleiter sich das Leben.

Barschel wurde 1987 in Genf vermutlich ermordet. Aber auch der Skandal, den die Geesthachter Schulstunde durchs Land und darüber hinaus galoppieren liess, konnte die bleierne Decke des Schweigens, die im privaten Raum ausserhalb der Medien schwer über den Verbrechen des National­sozialismus lag, kaum lüften. In den Augen von Stadt­archivar William Boehart stellte dies in Deutschland die erste Auseinander­setzung dieser Art mit dem Thema dar. Insbesondere die Lehrer sollen wie «betrunken» an den Lippen des Grossadmirals gehangen haben, erinnerte sich der Geesthachter. Nur ein einziger Pädagoge scheint aus Protest die Veranstaltung verlassen zu haben. Als 1962 der Historiker Saul Friedländer von der Schweiz herkommend Dönitz in Aumühle besucht hatte, gab dieser auch ihm sein «Ehrenwort», dass er von der «Juden­verfolgung» nichts gewusst habe; müde, berichtet Friedländer, habe das Treffen mit Dönitz ihn gemacht.

Uwe Barschel, der Aufsteiger aus dem Kreis Herzogtum Lauenburg, der es als CDU-Politiker 1982 bis 1987 zum Minister­präsidenten von Schleswig-Holstein brachte, blieb Aumühle verbunden. Er heiratete hier 1973 die nach der nordischen Fruchtbarkeits­göttin benannte Freya von Bismarck, die Erstgeborene des Kaufmanns Hans-Joachim von Bismarck, der im Sommer 1945 die Holländerin Josephine van Vloten geheiratet hatte. Freya war in Aumühle aufgewachsen, und ihr Mann arbeitete in seinem an der Zonen­randlage leidenden Wahlkreis Lauenburg-Süd auf eine deutsche Wieder­vereinigung hin.

Gemäss Dieter Hartwig, Autor einer Dönitz-Monografie, imponierte dem CDU-Mann die «unheimlich ruhige, gradlinige Art und tiefe Frömmigkeit» des Herrn Dönitz. «Als Privatmann» soll Barschel seinen Nachbarn mit zu Grabe getragen haben, angeblich, wie Hartwig von einem Zeitzeugen erfuhr, «mit falschem Bart und Zylinder» unkenntlich gemacht.

Mehr wäre offenbar aus dem Jenseits zu erfahren. Nach Barschels Ermordung nahm seine Witwe über die Schweizerin Kim-Anne Jannes als Medium, und vom Fernsehen medien­wirksam gefilmt, Kontakt zu ihrem Mann im Jenseits auf, nachdem es bei ihr zu Hause zu spuken begonnen habe. «Die Frau aus der Schweiz wusste so viele Dinge über mich und meinen Mann, die sie gar nicht wissen konnte», fand die Witwe, dass man sich fragt, warum die Ermittler da nicht selber draufgekommen sind.

Übrigens war Gerhard Stoltenberg, Barschels Mentor und als Minister­präsident sein Vorgänger, bis zu seinem Tod im Jahr 2001 der erste Vorsitzende des Kuratoriums der bundes­unmittelbaren Otto-von-Bismarck-Stiftung in Friedrichsruh. Dank der Stiftung gelingt es den Bismarcks, die zu den reichsten Bundes­bürgern zählen, staatliche Gelder in Millionen­höhe für ihre Zwecke zu verwenden. Wenn etwa der historische Bahnhof von Friedrichsruh im Privat­besitz der Bismarcks als Sitz der Stiftung umgebaut wird, sind es die Steuerzahler, die die Millionen dafür aufbringen.

Im Kuratorium sitzen immer auch Mitglieder der Dynastie Bismarck ein. Wie etwa der 1961 in Zürich geborene und auch in den Schweizer Bergen gern gesehene Carl-Eduard, genannt «Calle». Er ist nicht nur dank Alkohol­exzessen und vier Ehen ein Dauer­brenner der gelben Presse, das ehemalige Mitglied der CDU, das gemäss «Focus online» 6 Millionen Dollar in zehn Jahren verprasst hat, ist als der faulste Abgeordnete bekannt geworden, der zwar seine Diäten hemmungslos kassierte, doch in Berlin über Jahre hin nicht gesichtet wurde. 2007 zwang man ihn zurückzutreten.

Bis zu diesem Jahr, als er im Juli 2019 verstorben ist, war sein Vater Ferdinand von Bismarck der Repräsentant der Dynastie gewesen. Auch in der Stiftung. Unter seiner Ägide, seiner Art der patriotischen Ausrichtung, ist die Otto-von-Bismarck-Stiftung «ein fester Bezugs­punkt für rechts­konservative Nationalisten geworden» («Antifaschistisches Infoblatt» vom 24. Mai 2015).

Rechtsextremistische Kundgebung am Grab von Otto von Bismarck in Aumühle am 8. August 1998. picture-alliance

Ferdinands 1975 verstorbener Vater Otto III. hatte als Reichstags­abgeordneter und Diplomat schon 1933 in der NSDAP mitgemacht, ist nach dem Krieg aktiv in der Politik verblieben und war unter anderem Mitglied des Europarats. 1965 hat man ihm das Grosse Bundesverdienst­kreuz verliehen.

Gerne wird darauf verwiesen, dass der Bruder von Otto III. auch in Friedrichsruh begraben ist, allerdings im Gelände, ausserhalb der Familien­gruft im Mausoleum. Denn Gottfried Graf von Bismarck war ein präsentabler Nazi. Er wurde zwar ebenfalls schon 1933 Parteimitglied und 1944 SS-Brigadeführer und gehörte bis 1945 dem Reichstag an. Unterwegs schlug er sich jedoch zum konservativen Widerstand und unterstützte das Attentat vom 20. Juli 1944 auf Hitler. Dafür wurde er in Konzentrations­lager gesteckt, doch einen Bismarck töten zu lassen, schien Hitler nicht für opportun zu halten. Gottfried kehrte lebend aus dem Krieg zurück. 1949 kam er mit seiner Frau bei einem Autounfall ums Leben.

Es wimmelt in Friedrichsruh von Toten und Untoten, und im Wald von gepflegten und versteckten Denkmälern für und gegen das Vergessen kann man in Aumühle leicht die Übersicht verlieren. Nicht alle werden so gerne erwähnt wie der gute Nazi Gottfried, der Otto von Mendels­sohn Bartholdy vor der Deportation nach Theresien­stadt bewahrt hatte. Zwar musste man kürzlich die Flügel seines Adlers bei einer Renovation frisch frisieren, doch davor wollte man lange auch das von Georg von Schönerer gestiftete Bismarck-Denkmal vor dem Bismarck­turm lieber gar nicht bemerkt haben.

Für die Strasse an jenem Turm, die einst in Georg-von-Schönerer-Strasse umbenannt worden war, hatte man schon länger wieder einen neuen Namen gefunden. Nur einschlägig bekannt dürfte ein in der Nähe des Mausoleums stehender Gedenk­stein sein, mit dem an die 1941 auf dem versenkten Schlachtschiff Bismarck verlorenen Marine­soldaten erinnert wird. Und wer weiss schon, dass auf dem Gelände der Bismarck-Familie ein Deutsch-Ostafrika-Ehrenmal von 1955 zu finden ist?

Nicht nur nicht erwähnt, sondern nicht einmal kommentiert wird von der Familie Bismarck ein anderer Fund im Sachsenwald. Bei der Pflege und der Bewirtschaftung des Waldes sind die Bismarcks auf Hilfe von Forstarbeitern angewiesen, was sie zu einem wichtigen Arbeit­geber im Ort macht. Einer der Waldarbeiter wurde am 20. Dezember 1960 bei der Arbeit im Sachsenwald verhaftet. Der Waldarbeiter war auch in der Verwaltung, ja sogar als Hausmeister offenbar gerne eingesetzt worden.

Richard Baer war kein kleiner Fisch. Der 1911 geborene Baer war der letzte Kommandant der Konzentrations­lager Auschwitz und danach noch Mittelbau-Dora. Die Liste seiner früheren Einsätze im Kampf und in Konzentrations­lagern, bei denen er sich mit sogar in diesem Umfeld hervor­stechender Grausamkeit in die Erinnerung der Überlebenden eingegraben hatte, ist nicht kurz. Baer, seit 1946 bei den Bismarcks untergetaucht, sollte im ersten Frankfurter Auschwitz­prozess der Hauptangeklagte werden. Kurz bevor es zum Verfahren kam, starb er im Juni 1963.

Vom KZ-Kommandanten zum Forstarbeiter im Dienst der Familie Bismarck: Richard Baer (ganz rechts), als er sich Karl Neumann nannte. Dank diesem Zeitungsfoto wurde Baer 1960 erkannt und verhaftet – er starb drei Jahre später, noch vor Beginn der Hauptverhandlung. Keystone/Hulton Archive/Getty Images

Als sich die Front näherte, hatte Himmler im November 1944 befohlen, in Auschwitz-Birkenau die Vergasungen abzubrechen und radikal mit dem Verwischen der Spuren zu beginnen. Baer war der dafür verantwortliche Kommandant des KL Auschwitz und auch für die grausame Evakuierung der verbliebenen, meist zu Tode ausgezehrten Häftlinge zuständig.

Als er am 3. April 1945 im thüringischen Nordhausen mit der Reichsbahn über weitere Häftlings­transporte verhandelte, verletzte er sich bei der Bombardierung der Stadt am Fuss, und als er bei Kriegsende dann nach Hause ging, wurde er unterwegs von den Amerikanern, die ihn kontrollierten, nicht als SS-Mann mit Lagerkarriere entlarvt.

Während seiner fast 15 Jahre dauernden Anstellung bei den Bismarcks in Friedrichsruh konnte er sich inkognito ein Häuschen kaufen und lebte mit seiner Frau aus dem nahen Bergedorf ein geruhsames Leben. In der Haft stritt der von verschiedenen Seiten als der schlimmste Lager­kommandant von Auschwitz bezeichnete Baer jegliche Mitverantwortung für die Morde an jüdischen Menschen im Lager ab. Im Prozess sollte er für die «Befehle zur Tötung einer Vielzahl von Menschen, insbesondere von Juden aus Ungarn» angeklagt werden. «Der Arbeit­geber gab dazu keine Erklärung ab», heisst es im Zusammenhang mit Baer über die Bismarcks.

Eine der interessantesten Begrabenen von Friedrichsruhe war Daphne. Eine Femme fatale nicht nur für Apoll. Als an einem regnerischen Novembertag des Jahres 1982 ein schlanker 30-jähriger Mann mit einem Rad in den Sachsenwald gefahren kam und dann im Jogging­anzug zu Daphne wollte, beging er damit einen Fehler. Er wurde schon erwartet. Zu seinem Empfang waren im Schloss Beobachtungs­kameras installiert und um Daphne herum Löcher in die Erde gegraben worden, die als Versteck dienten.

Die Polizei harrte tagelang in den Erdlöchern aus. Sie verhaftete den Mann schliesslich im Wald, nur wenige hundert Meter vom Sägewerk in Friedrichsruh entfernt, in dem sie 1960 Lagerkommandant Baer festgenommen hatte. Es war nicht Apoll, der hier zu Daphne wollte, der junge Mann trug keinen Lorbeer­kranz, sondern eine entsicherte Pistole bei sich. Gemäss dem dänischen Pass, den er dabeihatte, handelte es sich um Martin Barbarossa Wymand. Seine Daphne steckte in Plastik­säcken eingepackt im Boden und bestand aus 90 gefälschten Pässen, zahlreichen Waffen und über 10’000 Deutschen Mark. «Daphne» war ein unterirdisches Depot der Rote-Armee-Fraktion (RAF).

Hier spazierte einer der meistgesuchten Männer seiner Generation durch den Sachsenwald. Im Jogginganzug steckte Christian Klar, die bestimmende Figur der sogenannten zweiten Generation der Rote-Armee-Fraktion, der an den meisten Anschlägen der RAF der letzten Jahre beteiligt gewesen war. Klar wurde 1985 zu einer fünffachen lebenslangen Freiheits­strafe und zusätzlichen 15 Jahren verurteilt. Er kam 2008 wieder frei und hat danach im Bundestag gearbeitet.

Heute, da der Trend längst hin zu Mikroformen der Bestattung geht, gibt es auf dem Waldfriedhof Aumühle-Wohltorf immer mehr unbesetzte Grabflächen, und seit 2006 steht hier auch ein kümmerlich wenig genutztes Kolumbarium. Auch im alten Teil mit seinen einst ewigen Liege­plätzen ein Grab zu ergattern, stellt heutzutage keine grosse Schwierigkeit dar, und nicht zuletzt aus pekuniären Gründen sind frühere Beschränkungen gefallen. Man wirbt geradezu um Tote und preist die Vielfalt der Möglichkeiten an, hier in die Ewigkeit einzugehen und Teil des Totenparks zu werden.

Der Friedhof dient nicht mehr nur den Ortsansässigen. Heute kann sich jeder und jede, der oder die will, im Waldfriedhof von Aumühle begraben lassen. Am Charakter der Anlage darf jedoch nicht gerüttelt werden: Geschliffene Grabsteine bleiben verboten. Natur­belassenheit wird nach wie vor grossgeschrieben, und die ehrwürdigen Bäume, unter denen man da ruhen kann, gehören immer noch der bismarckschen Forstverwaltung.

Das Totsein im Sachsenwald hat sich bewährt. Es ist ein Geschäfts­modell, auch wenn der Waldfriedhof heute wirtschaftlich auf wackligen Beinen steht. Doch Bismarcks gehen mit der Zeit und haben hinter Wentorf, nicht gar so tief, tief im Wald, wie Fontane es liebte, sondern in einem lichten Südzipfel des Restwaldes, in Kröppelshagen-Fahrendorf, einen zehn Hektar grossen Urnen­friedhof eingerichtet. Hier vermieten sie den Toten für eine beschränkte Zeit ihre kostbaren Bäume: «Ewigforst Sachsenwald» heisst die Anlage etwas frostig.

«Daphne» hatte hier keine Zeit, ihre mythologische Metamorphose in einen Lorbeerbaum zu vollenden. Sie aber sind zu einer solchen Verwandlung von Gregor Graf von Bismarck persönlich eingeladen. Lorbeer ist nicht im Angebot. Aber Buchen und Eichen. «Für Menschen, die sich eine naturnahe und freie Art der Bestattung wünschen, gibt es wohl kaum einen schöneren und friedlicheren Ort als den Ewigforst Sachsenwald», preist er sein Grundstück «mitten im Sachsenwald» an und erklärt, früher sei der Sachsenwald «kaiserliches Jagdrevier» gewesen, «heute ist er ein von der Zivilisation unbelastetes Naturgebiet. (...) Es gibt kaum einen Wald, in dem mehr Hünengräber zu finden sind.» Als ob die alten Gräber schon Natur­erscheinungen wären.

Hünengrab bei der Waldschänke in Friedrichsruh (1935). Arkivi/imago images

Er bietet «einen Baumbestand, in dem sich 130 bis 140 Jahre alte Buchen und gleich alte Eichen sowie 110 bis 120 Jahre alte Fichten und Kiefern als natürlich gewachsene Grabmäler befinden». Hier lässt die Natur selber also endlich Grabmäler wachsen und erspart den Menschen alle Peinlichkeiten. Da brauchts auch keine grob oder anders behauenen Steine mehr. «An einem Baum gibt es bis zu zwölf Grabstätten. Bei den Einzel­grabstätten erwirbt man einen oder mehrere Urnen­plätze. Bei einem Familien­grab wird ein ganzer Baum mit seinen zwölf Urnen­plätzen erworben.»

Die Toten sind in der Regel ruhige Kunden. Ist nicht auch Vidar, der Natur- und Waldgott, der Krieger des Waldes, ein schweigsamer Gott? Als Gott der Rache rächt der schweigsame Ase in der Endzeit­schlacht den Tod seines Vaters Odin; er ist einer der wenigen Götter, die den Weltuntergang überleben.

Wie viel das romantische Grab auf Zeit kostet? «Die Preisgestaltung bei den Einzel­bäumen sowie den Familien­bäumen ist von der Wertstufe und der Laufzeit abhängig. Bei der Herleitung der Wertstufen sind der Baumumfang, das Kronen­volumen und die Baumart sowie natürlich die Lage des Baumes ausschlaggebend. Alle Grabbäume sind nummeriert und entsprechend mit der Wertstufe (römische Zahlen I bis IV) gekennzeichnet. An dem darunter hängenden Farbstreifen ist zu erkennen, ob es sich um einen Einzel­baum (Blau) oder einen Familien­baum (Gelb) handelt.» Es versteht sich, dass ausschliesslich biologisch abbaubare Urnen zugelassen sind.

Es folgen dann doch noch präzise Zahlen. Sie reichen von 472,50 Euro für ein Einzelgrab auf Wertstufe 1 bei Nutzungs­dauer 25 Jahre bis zu 7903,09 Euro für 99 Jahre auf Wertstufe 4. Darin nicht einberechnet sind eine Gebühr für die Herstellung der Graböffnung und das Verschliessen des Grabes (315,00 Euro) sowie allenfalls eine zusätzliche Gebühr von 105,00 Euro, die ausserhalb der Regel­arbeitszeit etwa am Wochenende anfällt.

Gregor Graf von Bismarck empfiehlt: Für Trauer­feiern kann man das Bismarck-Mausoleum mieten. «Für eine 1,5 stündige Trauerfeier in diesem geschichts­trächtigen Umfeld berechnen wir 350,00 €.» Wobei nicht vergessen wird zu erwähnen, dass sich dank dem Walten der Natur jede Pflege des Grabes ja dann erübrigt. Statt Blumen Geld in der Tasche für ein Abendessen in der bismarckschen Gaststube.

Der Leib zerfällt, der Stein zerfällt, aber der Sachsenwald, der hält. Und kommen nächstes Jahr oder nach Tausenden von Jahren Fremde hier des Weges gefahren, so werden sie staunen: Denn hier unten liegt Bismarck irgendwo – und so mancher andere, man weiss nicht recht, wo.

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