Basel, das unscheinbare Herz der Welt

Was bedeutet es, in einer Stadt wie Basel zu leben – für Menschen, die von weit her kommen, und für jene, die schon immer da waren? Gedanken des ivorischen Dichters und Historikers Henri Michel Yéré.

Von Henri Michel Yéré (Text), Barbara Villiger Heilig (Übersetzung) und Diana Pfammatter (Bilder), 26.12.2019

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«Ich bin in Basel gelandet»: Henri Michel Yéré auf der Mittleren Brücke neben der Statue «Helvetia auf Reisen».

Zu diesem Beitrag

Henri Michel Yéré hat seine Sicht der Dinge im Rahmen der Veranstaltungsreihe «Being here, doing this!» des Instituts Neue Schweiz (INES) dargelegt. Der Historiker und Dichter ist 1978 in Abidjan, Côte d’Ivoire, geboren und lebt seit 2003 in Basel. Er ist Forschungs­assistent beim Zentrum Afrika­studien der Universität Basel. Davor war er im Bereich Diversität und Inklusion in der Privat­wirtschaft tätig. Sein Vortrag ist auch ein Erfahrungsbericht. – Yéré bedankt sich für den kritischen Beitrag der Künstlerin Legion Seven zu diesem Text.

Warum bin ich hier?

Viele von Ihnen wird es wunder­nehmen, warum ich heute hier vorne stehe.

Ich bin hier, weil ich mich frage: Was kann ich tun, dass meine in Basel aufwachsenden Kinder von meinem Herkunftsland – der Côte d’Ivoire – und meinem Herkunfts­kontinent – Afrika – nicht das gängige verzerrte Bild übernehmen? Was kann ich tun, dass sie deshalb keinen Minderwertigkeits­komplex entwickeln? Wie schaffe ich es, meinen Nachkommen eine Welt zu vermitteln, in der wir uns gegenseitig mit Respekt und Bewunderung begegnen – nicht einfach als Individuen, sondern als Angehörige von Völkern und Kulturen, die aktiv zur Schönheit dieses herausforderungs­reichen Lebens beitragen?

Was können wir tun, dass solche Heraus­forderungen von der kommenden Generation produktiv weiter­entwickelt werden?

Wir können – so stelle ich mir vor – unseren Kindern die Welt­geschichte in einer Art nahebringen, die sich direkt von der Erfahrung herleitet, in Basel zu leben. Mit meinem Vortrag möchte ich diesen Gedanken nachzeichnen.

Oft sage ich: «Ich bin in Basel gelandet.»

Diese Formulierung – «landen, gelandet sein» – drückt meine Überraschung darüber aus, hier zu sein. Eine Überraschung, die nach all den Jahren bleibt. Wenn ich mich an die Person erinnere, als die ich hierherkam – bevor ich «gelandet bin» –, wird mir bewusst, dass damals in meinem Kopf ein klarer Lebens­entwurf vorgezeichnet war. Basel tauchte darin lediglich als Zwischen­stopp auf, keinesfalls als Ziel.

Im Ausdruck «gelandet sein» schwingt eine unausgesprochene Recht­fertigung mit. Sie richtet sich an ein unsichtbares Publikum, ein Publikum aus all den Ichs, die sich hätten heraus­bilden können – aber nicht herausgebildet haben.

Diese vielen möglichen Personen, die man in der eigenen Vorstellung hätte werden können, sind wie Besucher, die uns eine Zeit lang begleiteten. Wir unterhielten uns mit ihnen, liessen ihre Energie in unsere Seele fliessen. Schliesslich zogen wir weiter, von einem anderen dieser Besucher verführt, einer neuen Idee, einer neuen Ambition.

Aber die alten Besucher lösten sich nicht einfach in Luft auf. Sie quartierten sich in einem Winkel unserer Seele ein. Dort gehen sie auf und ab wie in einem Wartesaal. Obwohl eine verbindliche Verabredung mit ihnen nie zustande kam, verschwanden sie nie.

Von ihrem Standort aus betrachten sie uns mit ernstem Blick und stellen Fragen, die wir lange zu überhören versuchten: Weshalb hast du dich entschieden, hier zu leben? Dich hier nieder­zulassen? Wieso nicht in Zürich, Genf? Warum bist du nicht in London, Paris, Berlin? Warum nicht in Abidjan, deiner Geburtsstadt?

Die Antwort hat einen Widerhaken: Ich bin glücklich an einem Ort, an dem ich mir nicht vorstellen konnte, glücklich zu werden. Und es ist, als nähme ich es mir übel, dass ich gern in Basel lebe. Als würde ich die Ziele und Sehnsüchte des jungen Mannes, der ich einst war, verraten. Ein Paradox: In das Glücks­gefühl mischt sich eine Spur Traurigkeit.

Vermutlich sollte ich an dieser Stelle ein Loblied auf Basel anstimmen. Doch ich nutze die Gelegenheit, um laut und deutlich zu sagen, was mir das Ankommen in dieser schönen Stadt erschwert hat. Gäbe ich hier einzig und allein meine Dankbarkeit Basel gegenüber kund, würden nämlich viele meiner alltäglichen Erfahrungen wertlos! Würde ich die verächtlichen Blicke im Tram nicht erwähnen oder die Bereitwilligkeit zur Belehrung, noch bevor man etwas falsch gemacht hat; würde ich nicht davon sprechen, dass man aufgrund seiner fremdartigen Erscheinung für weniger gebildet gehalten wird; würde ich die bevormundende Annahme verschweigen, dass man auf jeden Fall, egal in welchem Zusammen­hang, dankbar zu sein hat für den blossen Umstand des Hierseins – dann würde das Wort Dankbarkeit seinen Sinn verlieren.

Ja, meine Damen und Herren, ich lebe in Basel, nicht im Himmel. Dankbarkeit bringt Wahrheiten zum Verstummen, die wir normaler­weise nur mit denjenigen teilen, die wir aufrichtig lieben.

Wir sind dankbar, weil wir etwas bekommen, was man uns schenkt. Doch Dankbarkeit kann uns den Mund verschliessen. Wir sagen dann vielleicht nicht mehr, dass wir um das, was man uns gibt, gar nicht gebeten haben. Dankbarkeit verunmöglicht uns zu sagen, was wir eigentlich gerne wollten. Nach einem berühmten afrikanischen Sprich­wort ist die Hand, die gibt, immer über der Hand, die empfängt. Deshalb erkläre ich mich, den Titel eines Buchs von Irena Brežná aufgreifend, zum «undankbaren Fremden».

Mein etwas gekünstelter Mangel an Dankbarkeit, Ladies und Gentlemen, ist allerdings eine strategische Finte: Sie schafft die Grundlage dafür, dass wir uns über die Vorstellungen von unserem Zusammen­leben unterhalten können. Diese Unter­haltung eröffne ich nicht als Ankläger mit einer Liste von Vorwürfen an die Adresse der Stadt und ihrer Bevölkerung. Vielmehr hoffe ich auf einen Austausch zwischen Ihnen und mir, vor allem aber auch zwischen Ihnen und Ihnen: über uns alle, unsere Stadt und die Welt. Denn ich bin überzeugt: Basel ist mehr, als Sie denken.

Von Schweizern erwartet man keine Dankbarkeit dafür, dass sie hier geboren sind. Man erwartet von ihnen, dass sie ihren Bürger­pflichten nachkommen und auf die Einhaltung ihrer Rechte achten. Eins dieser demokratischen Rechte ist das Recht auf freie Meinungsäusserung.

Herkunft ist nicht bloss eine Frage des Reisepasses

Lassen Sie mich kurz beschreiben, wer ich bin. Zum besseren Verständnis dessen, was folgt. Ich glaube behaupten zu dürfen, dass ich so etwas wie eine Migrations­karriere vorweisen kann.

Geboren bin ich in Abidjan, Côte d’Ivoire. Damals hatte die Stadt gut eine Million Einwohner. Heute sind es sechs Millionen. Abidjan ist eine der vibrierendsten Städte Westafrikas, ein Trendsetter in Bezug auf Musik, Mode, Sprache, Architektur. Und ein wichtiger Migrations-Hub, der Millionen Menschen anzieht, vorwiegend aus Westafrika, aber auch aus der restlichen Welt.

Von Abidjan über New York, Caen und Kapstadt nach Basel: Eine Migrationskarriere.

Vom Balkon unserer Wohnung aus konnte ich an den Kleidern der Passanten, an den Sprachen, in denen sie plauderten, oder an ihren Ziernarben im Gesicht erkennen, aus welchem Land sie stammten. Dieser simple Umstand – weit entfernt von plakativem Festlegen auf Identitäten – gab mir ein Gefühl von Reichtum, ja sogar eine gewisse Über­heblichkeit: Meine Heimat, damals eine friedliche Ecke im unruhigen westafrikanischen Umland, musste ein ausser­gewöhnlicher Ort sein und wir, die Ivorerinnen und Ivorer, ein ausser­gewöhnliches Volk. Denn was, wenn nicht wir selbst, machte aus diesem Land eine Art gelebte Utopie? Wie sonst wäre es möglich, dass unsere Wirtschaft derart prosperierte und die Politik so angenehm unaufgeregt verlief? Ich empfand mich damals nicht als überheblich, erst im Nachhinein kommt mir meine Haltung so vor … Ich dachte ganz einfach, so, wie es war, sei es auch richtig.

Schon vor meinem ersten Geburtstag zog unsere Familie nach New York. Mein Vater erhielt eine Stelle bei der Uno. Zwei meiner Geschwister kamen in New York zur Welt. Wir verliessen die Stadt wieder, bevor ich sechs wurde.

Nach diesem USA-Aufenthalt, der mir das Privileg einer zweisprachigen Kindheit verschaffte, kehrten wir nach Côte d’Ivoire zurück. Dort absolvierte ich die Primar- und die Sekundar­schule. Nur deshalb fühle ich mich berechtigt, von meiner ivorischen Herkunft zu sprechen. Herkunft ist nicht bloss eine Frage des Reisepasses. Und es geht auch nicht einfach darum, wo man geboren wurde. Wir können in einem einzigen Leben mehrmals geboren werden. Wenn wir plötzlich Wurzeln spüren, von denen wir bisher nichts ahnten. Freundschaften, Essen, das Sonnen­licht um vier Uhr nachmittags, starker Regen, die Sprache, ihr Akzent: In diesem ganzen Wirbel von Eindrücken wurde ich wieder­geboren und geprägt für den Rest meines Lebens.

Nach dem Schulabschluss studierte ich in Frankreich: drei Jahre in Caen. Da aber Ökonomie und Betriebs­wirtschaft definitiv nicht meine Sache waren, erklärte ich meinen Eltern, ich müsse Geschichte studieren.

Mir ihrem Einverständnis zog ich nach Südafrika, um in Kapstadt meinen lang gehegten Wunsch – das Geschichts­studium – zu verwirklichen. Unglaubliche Jahre. Sie eröffneten mir eine afrikanische Perspektive auf die Welt, wie ich sie bis dahin nicht für möglich gehalten hatte.

Von Kapstadt kam ich nach Basel.

Es ist mir ein Anliegen, die Reise, die mich schliesslich nach Basel brachte, hier nachzuzeichnen, obwohl ich weiss, dass viele in dieser Stadt solche Reisen hinter sich haben. Und natürlich ist mir meine privilegierte Lage bewusst: Meine Familie verfügte über genügend Mittel, um mir das Studium in Frankreich und Südafrika zu finanzieren.

Was meint, was ist dieses «Basel» eigentlich?

Andere Menschen kamen auf ganz anderen Wegen nach Basel, per Zufall oder nach langer Wanderschaft. Viele mussten sich den Weg hierher physisch und psychisch erkämpfen, Hindernisse überwinden, Qualen erleiden. Dass sie nun hier sind und wir alle auf denselben Pflaster­steinen herum­spazieren, ist überhaupt schon der grösste Triumph. All diesen Erfahrungen widme ich meine Rede.

Weltweit gilt «Basel» auf den verschiedensten Gebieten als Synonym für Prestige: wegen der Uhren- und Schmuck­messe, der Kunst­sammlungen, der Pharma­industrie und natürlich der Banken­regulierung. Aber «Basel» meint auch das, was von der Arbeit abgestumpfte Gesichter erzählen, Gesichter, die wir täglich zwischen fünf und sieben Uhr im Drämmli sehen, morgens und abends.

Mein Blick möchte alle diese verschiedenen «Basel» umfassen. Einen Treffpunkt, wo sich nicht bloss zwei Wirklichkeiten berühren, sondern der als Zentrum eines Sterns Myriaden von Wirklichkeiten zusammen­führt. Zu Basel gehört mehr, als wir normaler­weise denken. Versuchen wir, die Stadt als einen solchen Treffpunkt zu verstehen.

Wenn ich in Côte d’Ivoire erzähle, ich würde in der Schweiz leben, folgt oft die Frage, wie mir Genf denn gefalle. Meine Antwort – dass ich nicht in Genf, sondern in Basel wohne – provoziert leere Blicke, so, als spräche ich von einem unbekannten Ort.

Kleinbasel mit Weltfirma: Blick aufs Rheinufer mit dem Roche-Turm.

Offensichtlich zählt Basel nicht zu den weltweit berühmtesten Schweizer Städten. Aus der Nähe betrachtet verlor Basel den Glanz, der mich von fern fasziniert hatte. Basel war kein Ort, an dem kosmo­politische Exil­schriftsteller die Poesie neu erfunden hatten. Basel war nie die Hauptstadt eines Kolonial­reichs gewesen, wo der Traum von Unabhängigkeit und Freiheit die Nacht jener erleuchtete, die im Exil auf Revanche und Revolution hofften. Basel hatte keinen Lenin, Trotzki oder Tristan Tzara beherbergt. Basel schien keine Stadt zu sein, die unsere Gegenwart mitgeformt hatte. Eine ruhige, ja langweilige Ecke Westeuropas. Bourgeois, selbst­zufrieden und sauber.

Was ist Weltgewandtheit? Und wem nützt sie?

Für den romantischen Fünfundzwanzig­jährigen, der ich bei meiner Ankunft war, wog all das schwer: Wo blieb die mir so wichtige Weltgewandtheit?

Welt­gewandtheit setzt sich zusammen aus Lebens­erfahrung, Raffinement, Bildung, Klugheit. Weltgewandt sein bedeutet, in der Welt wie auf einer Bühne zu agieren, die Tendenzen der Zeitläufte zu beeinflussen, angesagte Lokale zu frequentieren, über die Vorzüge bestimmter Flughäfen oder über Flugzeug­typen zu diskutieren. Ich spürte, dass ich einen Teil dieser Eigenschaften in meinem Gepäck mitbrachte – und dass sie alle bedeutungslos wurden, als ich vor rund sechzehn Jahren hierherzog.

Ich wiederhole: Meine damalige Welt­gewandtheit beruhte auf Privilegien. Ein grosszügiges Stipendium ermöglichte mir, als Gast in diesem Land zu studieren, wo der Universitäts­besuch nicht für alle selbst­verständlich war.

Wer privilegiert ist, meint, die Welt gehöre ihm. Er bewegt sich unter seines­gleichen: unter akademisch gebildeten, der englischen Sprache mächtigen Professionals oder Freelance-Kreativen, für die das Reisen zum Alltag gehört. Reisen ist für sie ein Zustand.

Solche Leute tragen stolz das Etikett «Weltbürger» zur Schau. Nationalität und Staats­bürgerschaft sind für sie nur administrative Zuschreibungen. Bei Konferenzen, an Partys, bei der Arbeit oder auf Flughäfen nehmen wir Nuancen in der Aussprache unserer Kollegen wahr. Aber die Sorge, die eigene Nationalität könnte bei einem Visum­antrag Probleme machen, existiert in diesen Kreisen nicht – bis sie es doch plötzlich tut und wir überrascht merken, dass unsere Welt Grenzen hat.

Die Privilegien-Welt­gewandtheit, von der ich spreche, ist die emotionale Heimat der Expats, von denen es in der Schweiz viele gibt, ob in Basel, Zürich, Genf, Lausanne oder Zug.

Auf sie schaut die übrige Basler Gesellschaft wie durch eine Glaswand, ohne selbst daran teilzuhaben. Das will sie auch gar nicht unbedingt. Welt­gewandtheit hat viele Gesichter.

So gibt es noch einen anderen emotionalen Kontinent, eine quasi unbemerkte Welt­gewandtheit, nicht getrieben von den movers und shakers der Globalisierung. Eine stillere Form der Kultiviertheit, die sich als solche weder deklariert noch überhaupt erkennt. Sie ist selbst­verständlich. Ein Beispiel, uns allen vertraut: Die Kassiererin in einem Basler Super­markt grüsst uns höchst­wahrscheinlich auf Basel­deutsch. Oder auf Französisch. Dieselbe Person lässt vielleicht auch durchblicken, dass sie Albanisch beherrscht. Und weil sie umgeben von Italienern aufwuchs, ist sie auch in deren Sprache zu Hause. An vielen Orten draussen in der Welt zeichnet ein solch leichtfüssiger Umgang mit Sprachen die gebildete Elite aus. Dass Leute aus bescheideneren Schichten ebenfalls darüber verfügen, ist für mich der Beweis ihrer «unbemerkten Weltgewandtheit».

Verlierer und Gewinner der Globalisierung auf einem Platz

Welche weltweiten Verwerfungen haben innerhalb dieser Stadt­mauern nicht für Widerhall gesorgt? Welche Erschütterungen keine Scherben hinterlassen auf dem Claraplatz? In Basel reicht ein Blick auf die Bevölkerung, um die Krisen aufzulisten, die unsere Welt in den vergangenen fünfzig Jahren geformt haben – denn diese Krisen haben regelmässig Menschen hierher­gebracht. Sitzen wir auf dem Marktplatz, hören wir die Rufe der Demonstrierenden, die vor Krisen flohen. Und gleichzeitig, auf demselben Platz, sehen wir die Gewinner der wirtschaftlichen Globalisierung. Diese Welten treffen sich im Supermarkt, manchmal aneinander vorbeiredend, manchmal hände­schüttelnd, weil die Kinder in der Schule Freundschaft geschlossen haben – ihre Kinder, unsere Kinder, die sich als Baslerinnen und Basler verstehen.

Unsere Kinder sind hier geboren. Sie halten mit Herz und Seele zum FC Basel und sehen in mir, uns, Fremde – obwohl ich mich selbst als zu Basel gehörig empfinde. Was die kommende Generation betrifft, sollte ich mir keine Sorgen machen. Trotzdem tue ich es, weil ich weiss, dass es eines Tages irgend­jemanden gibt, der die Zuversicht unseres Nachwuchses infrage stellen könnte.

Heimisch werden, einheimisch werden bedeutet, die eigene Verantwortung für die Atmosphäre eines Ortes zu spüren. Das Schöne hier ist, dass diese Art von Dasein in der Welt, mit der Welt, diese Möglichkeiten, sich auf die Welt einzulassen, nicht auf Kosten der basel­deutschen Kultur gehen. Die Fasnacht beweist es jedes Jahr. Während viele von uns, allen Bemühungen zum Trotz, den Zugang zur Fasnacht kaum je finden werden, ist das für unsere Kinder kein Problem. Sie sind die Zukunft aller Basler Traditionen. Der emotionale Zusammen­halt der Stadt wird von ihnen abhängen. Die Fasnacht besteigt Jahr für Jahr die Bühne der Welt, um deren beunruhigende Dynamiken zu kritisieren. Einziger Wermuts­tropfen: dass sie sich selbst nicht den gleichen kritischen Blick gönnt.

«Ich bin glücklich an einem Ort, an dem ich mir nicht vorstellen konnte, glücklich zu werden»: Auf dem Basler Marktplatz.

Diese verschiedenen Arten von Welt­gewandtheit stehen keineswegs in Konkurrenz – obwohl die Privilegierten sich selbst im Vorteil glauben. Doch die unter­schiedlichen Aneignungen der Welt kämpfen nicht um die Seele der Stadt. Das Basel­deutsch wird nicht verdrängt, sondern bereichert durch Bruch­stellen und Reibungen. Sie verleihen ihm neue Farben.

Die Versprechen der Welt sind unklar. Vor dreissig Jahren, als die Berliner Mauer fiel, dachten wir zu wissen, wo der Weg langgeht. Eine hellere Zukunft schien auf, in der die Menschen einander näher­kommen würden. Endlich war der Krieg vorbei. Heute müssen wir konstatieren, dass ein kollektives Verlust­gefühl den Weg ins gelobte Land überschattet.

Damals gab es ermutigende Veränderungen. Unvorstellbares geschah. Nelson Mandela wurde aus dem Gefängnis freigelassen. Die EU lockerte ihre Binnen­grenzen. In vielen Teilen der Welt setzte sich die Redefreiheit geradezu dramatisch durch. Lauter Zeichen, die klar in eine Richtung deuteten. Als nähme die Welt eine neue Chance wahr, die Verbindung mit sich selbst wieder­herzustellen. Als könnte das Leben die Menschen wieder zusammen­führen, jenseits von Ideologien und Konfrontationen.

Zugleich sahen die Zeiten nicht wirklich rosig aus. Das Auseinander­brechen von Jugoslawien, der Völker­mord in Ruanda dämpften unseren Optimismus.

Ich glaube, Basel ist einer der wenigen Orte, an denen die Ideale wiederbelebt werden können, die mit dem Ende des Kalten Kriegs aufkamen. Denn mir scheint, sie sind im Verschwinden begriffen. Das merken wir nicht immer, weil uns dieses Land stabile Verhältnisse bietet.

Drei Tage trommeln an der Fasnacht reicht nicht

Nur: Was wollen wir mit dieser Stabilität? Es gibt darin genug Spielraum für die Zukunft einer Gesellschaft, die Barrieren überwindet. Jene Barrieren, von denen man uns glauben machte, es sei nötig, ihretwegen in den Krieg zu ziehen. Der Blick in Richtung Italien, England, Türkei, Syrien, Jemen, Russland, Vereinigte Staaten mag unsere Hoffnung zwar trüben. Aber sie lebt weiter: hier. Wir müssen sie nur mobilisieren, in uns und in unseren Kindern.

Wenn ich Basel das «unscheinbare Herz der Welt» nenne, dann nicht, weil ich meine, unsere Stadt müsse die Welt retten. (Im Übrigen könnte die Welt gut mehrere Herzen gebrauchen.) Vielmehr will ich Basel einen Impuls geben, geheime Kräfte wachrütteln, an die Fähigkeiten des gegen­seitigen Respekts appellieren und an die Kraft der Vorstellung, wenn es darum geht, eine mögliche Welt zu imaginieren. Dafür reicht es nicht, im Sommer den Rhein hinunter­zuschwimmen. Es reicht nicht, drei Tage und Nächte nonstop an der Fasnacht zu trommeln. Es reicht nicht, perfekt Basel­deutsch zu sprechen. Bloss die Luft der Stadt einzuatmen, reicht auch nicht.

Meine Idee einer Welt­geschichte steht nicht einfach in Büchern. Ich denke an eine Geschichte der Welt, die direkt aus der Lebens­erfahrung von Männern und Frauen aus der Schweiz und aus der ganzen Welt hervorgeht. Von Baslerinnen und Baslern, die einen unermesslichen Reichtum an historischen Erfahrungen in sich tragen.

Ein Weg, um uns bewusst zu werden, wer wir sind und was wir können, wäre: dass wir einander unsere Hoffnungen, Enttäuschungen und Errungen­schaften anvertrauen. Gegenseitig und unseren Kindern. So kann Geschichte gelebt werden – gesungen, rezitiert, getanzt. Wir können lernen, die Geschichte der Welt hier und jetzt zu erzählen. Und wir müssen dieses Vermögen einsickern lassen in die Köpfe und Seelen unserer Kinder.

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