Binswanger

Das traurige Krippenspiel

Globegarden steht für das Versagen eines Unternehmens. Doch bei der Frühbetreuung versagt auch die Schweizer Politik.

Von Daniel Binswanger, 21.12.2019

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In verschiedenen Politik­feldern ist die Schweiz – eines der globalisiertesten, reichsten und, so könnte man meinen, fortschrittlichsten Länder der Welt – verblüffend rückständig. Man sollte sich immer mal wieder der Verspätung erinnern, mit der die Eidgenossenschaft das Frauen­stimmrecht eingeführt hat, und besser nicht der Illusion erliegen, wir hätten seither aufgeschlossen zur gesellschafts­politischen Avantgarde. Wahr ist häufig das Gegenteil.

Jetzt also der Globegarden-Skandal – und der Skandal einer Aufsichts­behörde, die sich allen Ernstes so benimmt, als gäbe es gar kein Problem. Die von der Republik angeprangerten Missstände bei Globegarden, dem grössten privaten Krippen­betreiber in der Schweiz, müssen von den Besitzern und der Unternehmens­leitung verantwortet werden. Sie sind jedoch auch ein Symptom der gravierenden Defizite, die das ganze System der Schweizer Früh­betreuung untergraben. Sie sind das Ergebnis einer Politik, die sich nicht leiten lässt von den realen Gesellschafts- und Familien­strukturen, sondern von einem ideologisierten Affekt­gemenge aus Staats­feindlichkeit und Anti­feminismus. Ob das neue Parlament mit seinem stark erhöhten Frauen­anteil nun endlich eine Wende einleitet, bleibt offen. Gesichert – das zeigt auf eindrückliche Weise die Globegarden-Recherche – ist einzig der Handlungs­bedarf.

Als allgemein anerkannt gilt heute die Erkenntnis, dass bildungs­politisch nichts so sinnvoll ist wie gute Betreuungs­angebote für Kleinkinder zwischen 0 und 4 Jahren. In keinem anderen Bereich der Nachwuchs­förderung können öffentliche Gelder mit vergleichbarer Hebel­wirkung eingesetzt werden – wie vor kurzem etwa wieder ein Unesco-Bericht in Erinnerung gerufen hat. Und wo steht die Schweiz bei der Frühförderung im Vergleich zu allen anderen OECD-Staaten? Auf dem allerletzten Platz.

Laut OECD-Statistik beträgt der für die 0- bis 5-Jährigen vorgesehene Anteil am Gesamt­budget für Kinder bis 17 Jahre, welches die Familien- und Bildungs­ausgaben umfasst, lediglich 15 Prozent – gerade mal etwa halb so viel wie in Frankreich, Deutschland, Österreich oder Luxemburg. Obwohl bei der Vergleich­barkeit zwischen den Ländern eine gewisse Vorsicht geboten ist, könnten die Zahlen deutlicher gar nicht sein: Im Verhältnis zur Gesamt­summe der Bildungs- und Familien­förderungs­ausgaben vernachlässigen wir die Frühförderung auf spektakuläre Weise. Entweder die Eidgenossen sind aufgrund einer magischen Besonderheit samt und sonders förderungs­unbedürftige Wunder­kleinkinder – oder wir haben es mit einer absurden Fehl­allokation zu tun.

Was ist die offizielle Krux der helvetischen Früh­betreuung? Sie kostet viel zu viel, lautet die gängige Analyse. Worin liegt die Lösung? Darin, dass bürokratische Hürden beseitigt und überflüssige Qualitäts­sicherungs­massnahmen und Regulierungen abgeschafft werden. Dann werden die Krippen nicht nur viel billiger, sondern auch gleich noch viel besser – sollte man jedenfalls meinen. Das Problem ist lediglich, dass an dieser reflex­artigen Standard­antwort ganz einfach alles falsch ist.

Eine aufwendige Studie aus dem Jahr 2015, die von Infras und dem Institut für Empirische Wirtschafts­forschung der Universität St. Gallen im Auftrag des Bundes­amtes für Sozial­versicherungen durchgeführt wurde, vergleicht die Frühbetreuung in Österreich, Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Sie kommt zu einem glasklaren Befund: Schweizer Krippen sind nicht teuer.

Für Standorte im Kanton Zürich und in der Waadt (Stadt- und Land­gemeinden) errechnete die Studie durchschnittliche Vollkosten von 112 beziehungsweise 111 Franken (der Untersuchungs­zeitraum liegt schon etwas zurück). Das liegt nur leicht über dem Kosten­schnitt in den umliegenden Ländern (104 Franken). In den urbanen Zentren sind die Vollkosten eines Betreuungs­tages in Deutschland (Frankfurt) und Frankreich (Lyon) sogar deutlich höher als in der Schweiz, nämlich 136 Franken. Kaufkraft­bereinigt bewegen sich die Kosten eines Schweizer Krippen­platzes auf derselben Höhe wie in den Nachbar­ländern. Die Fama vom kosten­treibenden helvetischen Über­perfektionismus ist schlicht und einfach Humbug.

Kinderbetreuung ist – wie Olivia Kühni gestern hier in ihrer Hintergrundanalyse dargelegt hat – eine Dienst­leistung, deren Kosten­basis weitestgehend aus Personal­kosten besteht. Man hat in der Schweizer Diskussion so getan, als wären überzogene Bau- und Hygiene­vorschriften daran schuld, dass die Krippen­tarife so hoch sind. Auch diese Behauptung ist Nonsens.

Gemäss der zitierten Studie entfallen im Schnitt 72 Prozent der Gesamt­kosten eines Krippen­platzes auf die Löhne. Weitere 14 Prozent müssen in Zürich eingesetzt werden, um die Mietausgaben zu decken. Etwas an Hygiene­vorschriften oder baulichen Vorgaben herumzuschrauben, würde marginale Kosten­senkungen bringen. Einschneidende Ersparnisse lassen sich an genau einem Ort erzielen: beim Personal.

Man könnte beispielsweise den Betreuungs­schlüssel noch weiter senken – eine Bestrebung, die im Kanton Zürich bereits in vollem Gange ist. Oder man könnte die Betreuerinnen noch schlechter bezahlen, die Arbeits­verhältnisse noch prekärer werden lassen, das Ausbeuten von Praktikantinnen noch systematischer betreiben, die Fluktuation noch weiter forcieren. Diese Lösung scheint für private Krippen­betreiber eine ständige Versuchung darzustellen – und dann im Extremfall zu Zuständen zu führen, wie sie bei Globegarden vorherrschen.

Wenn es nicht die realen Kosten sind, was unterscheidet dann das deutsche, österreichische oder französische Krippen­system von demjenigen der Schweiz? Genau ein Faktor: die öffentlichen Subventionen. In der Schweiz wird der Löwen­anteil der Früh­betreuung von den Eltern getragen. In der Stadt Zürich sind es 70 Prozent. Die 30 Prozent öffentliche Kosten­deckung kommen zudem vornehmlich einkommens­schwachen Familien zugute, der Mittelstand wird geschröpft. In unseren Nachbar­ländern beträgt der öffentliche Finanzierungs­anteil mindestens 75 Prozent. In den urbanen Zentren liegt er häufig auch sehr viel höher, in der Stadt München zum Beispiel bei 85 Prozent. Alle Krippen­plätze sind stark subventioniert, und Eltern bezahlen überall in Frankreich, Deutschland und Österreich maximal 20 bis 40 Prozent der Vollkosten.

Das ist die fürchterlich banale Wahrheit: Fast alle europäischen Länder lassen sich die Vereinbarkeit von Beruf und Familie viel Geld kosten. Weil der Doppelverdiener-Haushalt zur Normalität geworden ist, weil die Berufs­tätigkeit der Frauen für die Volks­wirtschaften nötig und für die Gleich­stellung unverzichtbar ist, weil vernünftige Geburten­raten im eminenten Interesse der Gesamt­bevölkerung liegen. Fast alle europäischen Länder ausser die Schweiz. Wir halten uns stattdessen an eine lieb gewordene Lebenslüge: Vereinbarkeit, wenns unbedingt sein muss – aber bitte nur zum Nulltarif!

Wer ist für dieses gleichstellungs­politische und wirtschafts­politische Desaster verantwortlich? Die bürgerlichen Parteien. Es waren FDP-Politiker wie der selbst ernannte Krippen­experte Filippo Leutenegger, die jahrelang breitbeinig durch die Fernseh­studios zogen, um den Miteidgenossen darzulegen, dass das Betreuungs­kosten-Problem lediglich durch überzogene Bauvorschriften und staatliche Schikanen verursacht werde – sehr zum Entzücken der reaktionären Gleichstellungs­feinde. Es war die SVP, die mit ihrer «Staatskinder»-Kampagne 2013 den ohnehin völlig zahnlosen Familien­artikel versenkt hat. Und es war eine bürgerliche Phalanx aus SVP, CVP und FDP, die 2016 im Kanton Zürich die Initiative «Für eine bezahlbare Kinder­betreuung» abwehrte. Immerhin schlugen sich die BDP und die EVP ins Ja-Lager. Die GLP beschloss wieder einmal Stimmfreigabe.

Es liessen sich weitere Beispiele nennen. Auch heute spürt man von einem Gesinnungs­wandel kaum einen Hauch. Die FDP hat vor drei Monaten im Zürcher Kantonsrat einen Vorstoss gemacht mit dem Ziel, die Regulierung und die Qualitäts­kontrolle für Kinder­krippen «auf das Minimum zu reduzieren». CVP-Regierungs­rätin Silvia Steiner hat die Debatte zu beruhigen versucht mit dem Hinweis, dass ab Frühjahr 2020 der obligatorische Betreuungs­schlüssel ohnehin gesenkt werde. Zusätzliche Lockerungs­massnahmen seien ebenfalls beschlossen. Der Ausverkauf der Qualitäts­standards wird zur offiziellen Rückfall­position der bürgerlichen Gleichstellungspolitik.

Wir sollten dieser Heuchelei ein Ende setzen. Entweder die bürgerlichen Parteien nehmen die Sache des Feminismus und der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ernst. Dann müssen sie bereit sein, dafür Geld auszugeben. Oder sie halten fest am schlanken Staat als heiligster Mission, dann sollen sie auch klar deklarieren, dass bürgerliche Politik für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht zuständig ist. So viel Ehrlichkeit muss sein. Das Herum­lavieren auf dem Rücken der Kinder richtet Schaden an.

Illustration: Alex Solman

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