Aus der Arena

Warum lebens­lange Prinzipien­treue und Reinheit in der Politik eine widerliche und schmutzige Sache sind

Zur Niederlage von Jeremy Corbyn in Grossbritannien.

Von Constantin Seibt, 20.12.2019

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Jeremy Corbyn ist einer der wenigen Politiker, die nie ihre Prinzipien verraten haben. Nicht im Parlament, wo er 428 Mal gegen seine Partei stimmte. Aber auch nicht als Parteichef, als ihn dafür die rechte Boulevard­presse ohne Gnade angriff.

Ohne Rücksicht auf Nachteile blieb er sein Leben lang der höfliche, aber überzeugte Sozialist, der er schon immer gewesen war. Auch als Oppositions­führer machte er keine Konzessionen. Er verlor zwar zwei Wahlen, aber nie den Kompass.

Was lässt sich dazu sagen?

Das: Die Tage wären heller, die Menschen glücklicher, wenn er nie geboren worden wäre. Der Labour-Chef Jeremy Corbyn ist das übelste, mieseste, verkommenste Arschloch, das je das britische Parlament betrat.

Deshalb: Jeremy Corbyn hat die wichtigste Wahl seit Jahrzehnten verloren. Und damit sein Land im Stich gelassen, seine Partei zerstört und das Leben von vielen Bürgerinnen Grossbritanniens verraten.

Noch im Herbst taten die Tories alles, um Labour an die Macht zu bringen. Sie hatten in zehn Jahren fast alle öffentlichen Einrichtungen in den Ruin gespart, in den vergangenen drei Jahren ihr einziges Ziel, den Brexit, nicht auf den Boden gebracht, zwanzig ihrer besten Leute aus der Partei gefeuert, die unbeliebtesten Funktionäre in die Regierung gesetzt und einen Serien­lügner zu ihrem Chef gemacht.

Und trotzdem gewannen sie im Triumph die Wahl. Und das nicht, weil sie gross zugelegt hatten: Sie stiegen von 42 auf 43 Prozent. Sondern weil Labour um 8 Prozent absackte. Das genügte für einen Erdrutsch­sieg der Tories und die schwerste Labour-Wahl­niederlage seit 1935. Zum ersten Mal seit hundert Jahren verlor eine Partei nach neun Jahren in der Opposition überhaupt Sitze.

Dabei hätte Corbyn nicht einmal eine Wahl riskieren müssen: Mit den von Johnson aus der Partei gefeuerten Konservativen hätte ein Labour-Chef mit diplomatischem Talent als Premier­minister regieren können.

Doch trotz seiner Höflichkeit und seiner Prinzipien­treue war Corbyn ein Politiker, mit dem niemand koalieren wollte. Der Grund war genau der obige: Er stellte die Prinzipien­treue über nur schon Gedanken an einen politischen Deal.

Und riskierte so lieber, die Wahl zu verlieren. Und das Land dem unseriösesten Premier­minister und der rechtesten konservativen Partei seit dem Krieg auszuliefern – und dem Plan eines harten Brexit. Einem Plan, der, wie nicht nur die Bank von England sagte, in einem ökonomischem Desaster enden wird.

Corbyn versagte als Parteichef wegen einer der drei grössten Todsünden der Linken: der Korrumpiertheit durch die eigene Unkorrumpiertheit.

In der Tat hätte Corbyn mit egal welchem Kompromiss mit politischen Konkurrenten vielleicht mehr riskiert als mit einer möglichen Niederlage. Denn seine Kompromiss­losigkeit hatte eine ganze Generation blutjunger Aktivisten begeistert. Labour war durch sie wieder zur Partei der Massen und der radikalen Jugend geworden.

Diese Jugend hatte den jahrzehnte­langen Aussen­seiter im Sturm zum Wahlsieg als Parteichef getragen und ihn die letzte nationale Wahl nur unerwartet knapp verlieren lassen. Die massenhaft eingetretenen neuen Aktivisten nahmen sich Jeremy Corbyn zum Vorbild: seine Bescheidenheit, seinen Fleiss, seine politische Reinheit.

Und widmeten sich den Todsünden zwei und drei der Linken.

  1. Nicht das Land, sondern lieber die eigene Partei kontrollieren und verändern zu wollen.

  2. Diese Herrschaft durch einen Reinheits­wettbewerb auszufechten.

In der Tat entwickelte sich die Labour-Partei unter Corbyn zu einem Kampf­platz der linken Prinzipientreue.

Die jungen Aktivisten begannen, oft nur wenige Minuten nach dem Partei­eintritt, langjährige Labour-Abgeordnete anzugreifen mit dem Vorwurf, nicht wirklich links zu sein.

Und unter den Neuen selbst startete der grosse Wettbewerb, wer radikaler über Theorie reden, veganer essen und treuer gegenüber Jeremy wäre.
Der grosse Preis für die reinsten Radikalen war: Sie durften nach oben in die Parteispitze.

Kein Wunder, begann der Parteitag in Brighton damit, dass der Chef der Jugend­organisation Momentum in einer Sitzung der Parteileitung versuchte, Tom Watson abzuschiessen – Jeremy Corbyns europa­freundlichen Vize, der gerade mit seinem Sohn in einem chinesischen Restaurant sass. Das scheiterte nur an einer Stimme.

Dafür gelang es den Momentum-Leuten, wegen eines nicht ausgefüllten Formulars die unbedeutende, aber gemässigte Labour-Studenten­organisation vom Parteitag auszuschliessen.

Bei der wichtigsten Abstimmung, Labours Haltung zum Brexit, gab es ein unklares Resultat. Der Saal war gespalten zwischen klaren Europa-Befürwortern und den Anhängern von Corbyns Strategie. Die Stimmen­zähler entschieden ohne Auszählen, dass das Corbyn-Lager gewonnen hatte.

Das in einer Partei, in der laut Umfragen fast 90 Prozent der Mitglieder für das Verbleiben in der EU waren.

Jeremy Corbyn hatte es zuvor drei Jahre lang geschafft, aus seiner Meinung zur wichtigsten politischen Frage seit dem Zweiten Weltkrieg ein absolutes Geheimnis zu machen.

In der EU bleiben? Oder gehen? Und wenn Brexit, wie? Corbyn antwortete, man solle lieber über die soziale Frage reden.

Corbyns Lösung des Brexit-Dilemmas war schliesslich: Er würde als Premier zunächst einen besseren Vertrag aushandeln, dann eine Abstimmung zum Bleiben oder zum Vertrag machen, dabei neutral bleiben und das Ergebnis umsetzen. Doch nun wolle er lieber über die soziale Frage reden.

Das tat Labour dann auch: mit einem Manifest, das kostenlose Bildung, kostenlosen Transport, kostenloses Internet, die 4-Tage-Woche zu vollem Lohn und ein bedingungs­loses Grund­einkommen versprach. Unter anderem.

Das Manifest wurde nicht zufällig mit dem ähnlich radikalen Manifest des Labour-Partei­chefs Michael Foot von 1983 verglichen. Dieses wurde nach der krachenden Niederlage «Der längste Selbstmord-Abschieds­brief Gross­britanniens» getauft.

Corbyns Manifest war dreimal länger. Fast jeder Aktivist hatte sein Lieblings­thema untergebracht.

Die Wahlversprechen waren so zahlreich, dass ein Labour-naher Analyst seufzte, es den Wählerinnen zu erklären sei gewesen, «als würde man jemandem Wasser aus einem Hochdruck-Hydranten zu trinken geben».

Kurz, Labour schaffte es:

a) die Pro-EU-Wählerinnen zu überzeugen, dass Labour den Brexit wollte. Während Brexit-Befürwortern klar war, dass Labour eine Bleiben-Strategie fuhr.

b) trotz der Popularität von linker Verkehrs-, Gesundheits-, Wirtschafts- und Bildungs­politik die Leute davon zu überzeugen, dass sie ihre Vorschläge niemals solid finanziert hinkriegen würden.

c) konservative Ideologen rational und gemütlich aussehen zu lassen, indem die Labour Jung­politiker in öffentliche Debatten schickte, die sich stolz «revolutionäre Kommunisten» nannten.

d) dass der lebenslange Antirassist Jeremy Corbyn mit ernsthaften Antisemitismus-Vorwürfen eingedeckt wurde. Einerseits wegen seiner früheren Nahost­politik, andererseits, weil junge Radikale jüdische Labour-Mitglieder wegen ihrer Israel-Freundlichkeit zu mobben begannen.

e) dass der moderate Partei­flügel in dem nur sechs Wochen dauernden Wahlkampf derart gemobbt wurde, dass er sich auflöste. Corbyns Stellvertreter Tom Watson etwa verliess nach dreissig Jahren angeblich «aus rein persönlichen Gründen» die Spitzen­politik, um Fitness-Instruktor zu werden und «vielleicht ein Buch übers Abnehmen zu schreiben». (Er hatte es nach einer Diabetes-Diagnose geschafft, 50 Kilo abzunehmen.)

f) dass der privat durchaus freundliche Mensch Jeremy Corbyn nicht nur im rechten Lager als Irrer und baldiger Diktator beschrieben wurde. Und mit 16 zu 76 Prozent – das heisst, drei Viertel der Briten sind mit Corbyn als Anführer der Opposition unzufrieden, nur jeder Siebte ist zufrieden – zum unbeliebtesten Oppositions­führer seit mindestens 1977 wurde (vorher gab es diese Umfrage noch nicht).

g) dass Boris Johnson als Wahl­argument wegfiel. Jeremy Corbyn weigerte sich, die Serien­lügen des Premier­ministers zum Thema zu machen – denn er fand, der persönliche Angriff sei «nicht mein Stil».

Kurz: Es war ein Wunder, dass überhaupt noch jemand bei Verstand Labour wählte.

Trotzdem zeigte sich Jeremy Corbyn nach der vernichtenden Niederlage in der wichtigsten Wahl seit dem Krieg nicht allzu geknickt. Er sah auch das Positive: Die Wähler hätten das Manifest geliebt. Und die Ideen, die er der Partei hinter­lasse, seien «ewig gültig».

Damit hat das unverantwortliche Arschloch wahrscheinlich recht. Denn nicht nur die Tories haben die am weitesten rechts stehende Parlaments­fraktion seit dem Weltkrieg, Labour hat auch die am weitesten links stehende Fraktion seitdem.

Kurz: Great Britain is fucked. Und das doppelseitig.

Corbyns Beispiel zeigt, wie mörderisch Reinheit in der Politik ist. Versucht die politische Rechte, ihr Programm in Reinheit umzusetzen, wird es meist lebens­gefährlich für alle anderen. Versucht es die politische Linke, wird es erfreulicher­weise meist nur lebens­gefährlich für sie selbst.

PS: Konsequenz wird sowieso überschätzt. Denn die Idee der Reinheit führt nicht nur in der Politik zu einer Katastrophe. Auch in der Liebe, im Geschäft, im Denken – bei Licht betrachtet ist Reinheit eine der schmutzigst­möglichen Sachen. Wirklich brauchbar ist persönliche Reinheit eigentlich nur für ein Mitglied einer Sekte.

Was übersetzt heisst: immer.

Denn sobald man ernsthaft Reinheit ins Leben bringen will, verwandelt sich, was immer man berührt, wie durch Sauberhand in eine Sekte.

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