Die Kita-Heuchelei

Kinder anständig zu betreuen, ist unfassbar teure Arbeit. Solange die Politik das nicht anerkennt, bezahlen jene den Preis, die diese Arbeit leisten: in der Regel Frauen.

Ein Kommentar von Olivia Kühni, 20.12.2019

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«Feminismus bedeutet immer schon Ökonomie. Virginia Woolf wollte ein Zimmer für sich allein, und das kostet Geld.»

Katrine Marçal, «Who Cooked Adam Smith’s Dinner?»

Zu wenig Personal, ständig knappes Budget, zu viele Kinder: Zahlreiche ehemalige Mitarbeiterinnen der Kita-Kette Globegarden berichten der Republik von unhaltbaren Arbeitsbedingungen. Ihre Schilderungen sind drastischer als die von Betreuerinnen in anderen Kitas. Doch wer diese Branche kennt, weiss: Fast überall verdienen die Eigentümer kein Geld, leben von der Substanz – oder, eben, geben den Druck an die Angestellten weiter.

Wenn nun der Zürcher Sozial­vorsteher Raphael Golta die Verantwortung für die Misere einseitig an die Eltern abschiebt und witzelt, in der Kita seiner Kinder sei das Essen jetzt auch nicht «die herausragende Eigenschaft» gewesen, und er koche zu Hause auch «öfters Spaghetti Carbonara», so hat er offenbar den Ernst der Lage nicht verstanden – sowohl was den Fall Globe­garden als auch die Situation der gesamten Branche betrifft.

Die Probleme der Kitas sind systemisch, tief greifend und politisch gemacht – und was bei Globe­garden passiert, ist eine Folge davon.

Selbst in der Kita-Hochburg Zürich schrieb 2014 fast jede zweite Krippe Verluste. Seither hat sich die Lage noch verschärft. Dank der finanziellen Aufbauhilfen des Bundes ist die Zahl der Kitas explodiert: von 8603 Betreuungsplätzen im Jahr 2014 auf inzwischen 10’860 Plätze. Gut für junge Eltern, für deren Umfeld und für Arbeit­geberinnen – schlecht für die Kinder­krippen: Viele kämpfen seither auch noch mit unbesetzten Plätzen.

Die naheliegende Lösung wäre, die Preise zu erhöhen. Doch das ist in vielen Gemeinden nicht möglich, ohne aus dem staatlichen Subventions­system zu fliegen: In Zürich liegen die offiziellen Maximaltarife zurzeit bei 120 Franken pro Tag für ältere Kinder und bei 145 Franken für Klein­kinder unter 18 Monaten.

Damit es auch wirklich ankommt: Wir haben es hier mit einem politischen Problem zu tun. Und mit einem feministischen: einer verbreiteten und fundamentalen Gering­schätzung jener Arbeit, die vor allem Frauen seit Jahr­zehnten selbst­verständlich hinter den Kulissen erledigen – sei es zu Hause oder in professionellen Kinder­tagesstätten.

Der Preis der Mütter

Wer glaubt, man könne einfach ein paar Räume mieten, zwei Praktikanten anstellen, und fertig sei eine völlig ausreichende Kleinkinder­betreuung für ein paar hundert Franken – der Zürcher Kantonsrat berät gerade wieder über höhere Gruppengrössen –, hat sich mit grosser Wahrscheinlich­keit noch nie Gedanken darüber gemacht, wie viel diese Arbeit eigentlich kostet.

Kinder anständig zu betreuen, ist unfassbar teuer. Und zwar auch dann, wenn Frauen sie zu Hause hinter den Kulissen erledigen – wo weder der Zürcher Kantonsrat noch Herr Golta sie sehen.

Ein Rechenbeispiel: Ein mittlerer Lohn für Frauen in einer durch­schnittlichen Branche in der Schweiz beträgt rund 6000 Franken, also 1200 Franken (ein Fünftel davon) für jeden einzelnen Wochentag. Das bedeutet: Wenn eine Mutter beispiels­weise jeden Dienstag zu Hause die Familien­arbeit übernimmt, verzichtet sie damit auf ein Einkommen von 1200 Franken. Übernimmt sie drei Tage die Woche, macht das jeden einzelnen Monat satte 3600 Franken. Das ist der Wert ihrer Arbeit – in Zahlen ausgedrückt. Langfristig ist er sogar noch höher, weil mit zunehmender Erfahrung und Verantwortung im Job das Einkommen noch gestiegen wäre. Die Einbussen in der Vorsorge sind dabei noch nicht einmal einberechnet.

Ebenfalls dazu kommt die Unter­stützung der Gross­eltern, insbesondere der Gross­mütter, die ihre Enkel oft ebenso selbst­verständlich, unsichtbar und unbezahlt betreuen wie die Mütter. 160 Millionen Stunden übernehmen sie pro Jahr – das entspricht einem volkswirtschaftlichen Wert von 8 Milliarden Franken.

Wer nun glaubt, mit ein wenig Business­wissen müsse eine gute Kinder­betreuung doch für ein paar Franken am Tag zu haben sein, versetzt nicht nur all den hundert­tausenden Frauen (und immer mehr Männern) einen Fusstritt, die diese Arbeit Tag für Tag machen.

Er versteht auch nicht viel von Wirtschaft.

Kindertages­stätten sind keine Stecknadel­fabriken

Zwischenmenschliche Arbeit – Pflege, Betreuung, Erziehung, Beratung – ist deshalb so teuer, weil sie auf Beziehung aufbaut. Sie lässt sich nur begrenzt skalieren. Das hätte schon Adam Smith gewusst, wichtigster und oft falsch verstandener Philosoph der Industrialisierung.

Als er seinen Zeitgenossen, gewohnt an ein korruptes Feudal­system, aufzuzeigen versuchte, warum Arbeits­teilung sich lohnt, wählte er das Beispiel von Steck­nadeln. Bauen mehrere Menschen jeder für sich jeweils ganze Steck­nadeln von Anfang bis Ende zusammen, so Smith, kommen sie damit kaum voran. Tut man sich jedoch zusammen und einer liefert den Stahl, einer formt die Stifte, einer die Köpfchen und einer spezialisiert sich nur auf den Verkauf, beginnt sich die Angelegen­heit zu lohnen. Kooperation, nicht Gier, ist die Grund­lage der kapitalistischen Revolution.

Dieses Streben nach Effizienz ist nicht grund­sätzlich so grausam, wie es sich anhören mag: So wenige natürliche Ressourcen wie möglich für die Deckung menschlicher Grund­bedürfnisse zu verschleissen, ist eine gute Idee. Und eine effiziente Industrie verschafft uns – unter den richtigen politischen Rahmen­bedingungen – Zeit und Geld für das, was wir mit gutem Grund nicht der Effizienz aussetzen wollen: sorgfältig angebaute Lebens­mittel, gute öffentliche Schulen und Spitäler, Kunst, Wissen­schaft, Altenpflege.

Oder eben: Kinderbetreuung.

Die Probleme beginnen allerdings, wenn jemand meint, Kinder­tagesstätten seien letztlich auch nichts anderes als Stecknadel­fabriken. Mit ein bisschen Business-Know-how und etwas Wettbewerb werde sich doch wohl auch in diesem Bereich einiges machen lassen – insbesondere, wenn der Staat Neugründungen auch noch kräftig finanziell unterstützt.

Teilweise stimmt dies sogar: Der Einkauf von Möbeln lässt sich auch in Kitas effizient gestalten, die Lohn­abrechnungen, das Marketing, mit Vorsicht allenfalls gar das Kochen.

Aber Kinder sind eben keine Stecknadeln.

Kinder lassen sich nicht betreuen, indem einer alle Hände übernimmt, einer alle Beine, einer alle Hintern, und am Schluss automatisiert man idealer­weise noch alle Arbeits­schritte. Zwischen­menschliche Arbeit ist, von ihrer Natur her, fundamental ineffizient. Und wird es, soll sie ihre Würde behalten, immer sein.

Genau darum haben sich Menschen in ihrer Geschichte von der Klein­familie bis zur Gemeinde stets in unter­schiedlichen Formen zusammen­getan, um sie überhaupt finanzieren zu können. Um Pasta oder ein paar WC-Vorschriften weniger geht es hier nicht im Geringsten.

Sondern um ein grund­sätzliches zwischen­menschliches und ökonomisches Problem.

Und jetzt?

Es ist aus vielerlei Gründen sinnvoll, dass reiche, westliche Länder die Kinder­betreuung auch professionalisieren. Erstens, weil Arbeits­teilung in Gesell­schaften tatsächlich eine gute Idee ist – statt Generationen von Frauen (oder auch Männern) ans Haus zu fesseln. Zweitens, weil sich viele die Intensiv­betreuung innerhalb der Familie mitsamt dem entsprechenden Einkommens­ausfall gar nicht leisten könnten – selbst mit Unter­stützung der Gross­eltern nicht. Und drittens, weil Kitas nicht nur Betreuung, sondern auch Bildung und Chancen­gleichheit für die Kinder bedeuten.

Trotzdem bleibt die schlichte ökonomische Tatsache: Kinder­betreuung ist teuer. Daran lässt sich nicht rütteln, auch mit noch so viel Pseudo-Wettbewerb nicht. Was wir mit dieser Einsicht anfangen, ist allerdings ein politischer Entscheid.

Und es wird langsam Zeit, dass er fällt.

Entweder wir sehen Kinder­tagesstätten als Teil einer öffentlichen Infrastruktur, wie Schulen, Landschafts­pflege oder Strassen. Dann sollten wir sie auch direkt öffentlich finanzieren. Ohne Umweg über ein kompliziert gebautes Subventions­system, das nicht nur jede Menge planwirtschaft­lichen Aufwand schafft – jede Familie muss jedes Jahr nach­weisen, dass sie Bedarf hat –, sondern absurder­weise auch noch ausgerechnet gut ausgebildete Frauen davon abhält, ihr Pensum zu erhöhen. Sie verlieren heute über einem bestimmten Einkommen ihre Subventions­berechtigung – und haben unter dem Strich oft kaum mehr Geld übrig, als wenn sie auf die zusätzliche Erwerbs­arbeit verzichteten.

Oder – auch das ist möglich – wir sehen die Kita-Branche als einen Markt, auf dem Vielfalt und unter­schiedliche Angebote wichtig sind. Dann aber müssen wir es mit den gebundenen Tarifen sein lassen, jede Krippe ihre eigenen Preise setzen lassen und damit rechnen, dass viele davon 200 Franken am Tag oder noch mehr verlangen werden. Will man, dass sich trotzdem möglichst alle das Angebot leisten können, können die Gemeinden frei einlösbare Betreuungs­gutscheine verteilen – letztlich nichts anderes als eine unbürokratische Subvention für alle. Auch das ist ein mögliches Modell. Viel Geld aber kostet auch das.

Was auch möglich ist, natürlich: die ersten Lebens­jahre von Kindern als rein privat zu finanzierende Angelegen­heit sehen. Dann aber schaffen wir eine feudalistische Gesell­schaft, die sich – wie in vielen Ländern ausser­halb Europas – in Dienst­herrinnen und Nannys spaltet. Denn gerade gut verdienende Frauen werden sich nicht mehr aus dem Erwerbs­leben zurückziehen. Niedrig­verdienende erst recht nicht, und unter welchen prekären Umständen sie wiederum ihre Kinder betreuen lassen müssen, zeigen abschreckende Beispiele wie etwa die USA.

Was ganz sicher kein Weg ist: einfach weiter machen wie bisher.

Zu rudern und zu hoffen, dass sich das Problem irgendwie von alleine löst – wenn wir nur ein wenig hier an den Vorschriften schrauben, dort ein paar zusätzliche Praktikantinnen zu Billig­löhnen einstellen und einfach einmal öfter Spaghetti Carbonara kochen.

Denn die Arbeit bleibt. Sie bleibt teuer. Und jemand muss sie tun.

PS: Falls Sie die Quellen­angabe zum Eingangs­zitat aufmerksam gelesen haben: Die Antwort auf die Frage «Who Cooked Adam Smith’s Dinner?» lautet: seine Mutter. Es war Adam Smith’s Mutter, die bis zu ihrem Tod für ihn gekocht und den Haushalt geführt hat, während er unter anderem sein Beispiel von der Stecknadel­fabrik schrieb.

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