Wie die Grünen die Wahlen 2023 gewinnen
Die Nichtwahl von Regula Rytz in den Bundesrat ist ein Glücksfall für die Grünen – im Hinblick auf die nächsten Wahlen, bei denen der Erfolg alles andere als gesichert ist.
Von Claude Longchamp, 16.12.2019
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Das Speziellste am Wahljahr 2019 war nicht, dass mit Regula Rytz erstmals eine grüne Politikerin Ambitionen auf einen Bundesratssitz hegen durfte.
Aussergewöhnlich war, was sich in der Schweiz zuvor abgespielt hatte.
Noch vor 8 Jahren waren die Grünen in keiner der gut 2200 Gemeinden im Land die wählerstärkste Partei gewesen; noch vor 4 Jahren standen die Grünen auf kommunaler Ebene nur gerade 5-mal an der Spitze.
Seit den Eidgenössischen Wahlen vom Herbst listet das Bundesamt für Statistik jedoch ganze 73 Kommunen auf, in denen sich die meisten Wählerinnen um die GPS geschart haben. In Oltigen (BL), Onsernone (TI) oder Les Enfers (JU) hat mehr als jeder dritte Einwohner grün gewählt.
Die Grünen – das zeigten auch die Karten nach der Wahl – verfügen inzwischen ähnlich wie die CVP oder die SVP über ihre eigenen Hochburgen.
Am deutlichsten wird dies im Kanton Genf: In 28 der dortigen 45 Gemeinden führt die Grüne Partei neu die Parteienlandschaft an. Das sind fast zwei Drittel aller Kommunen im Kanton am Ende des Genfersees.
Die Analyse dieser Lokalphänomene hilft zu verstehen, wie es zum jüngsten Erfolg gekommen ist. Und sie zeigt auf, was aus Sicht der Grünen passieren muss, damit die Partei bei den Wahlen 2023 nicht abstürzt.
Die Grünen im Kanton Genf
Dass die Grünen gerade in Genf so stark sind, kommt nicht von ungefähr. 1986 schrieb der Kanton als Erster ein Verbot für Kernenergie in die Verfassung. 2006 legten Vertreter von FDP und Grünen ein gemeinsames Aktionsprogramm vor – ein Novum für die Schweiz. 2007 etablierte sich dann eine rot-grüne Allianz, die bis heute beide Ständeratssitze besetzt – auch das ist einzigartig, ebenso wie die Tendenz, Volksinitiativen anzunehmen, welche die restliche Schweiz ablehnt. In der Stadt Genf sind die Grünen seit 1991 ununterbrochen in der Regierung, im Kanton seit 1997.
Die langen Jahre der Regierungsbeteiligung haben der Partei viele Vorteile gebracht: Sie konnte wichtige Teile ihres Programms umsetzen. Doch die Einbindung zeitigte auch Nachteile: 2013 wurde die Partei bei den kantonalen Wahlen regelrecht abgestraft, nachdem sie für den schlechten Zustand des öffentlichen Verkehrs verantwortlich gemacht worden war.
Erstmals geriet die erfolgsverwöhnte Partei aus der Bahn. Anders als in anderen welschen Kantonen fiel sie in Genf unter die Marke von 10 Prozent.
Antonio Hodgers, bis dahin Fraktionschef unter der Bundeshauskuppel, musste nach Genf zurückkehren, um seiner Kantonalpartei als Regierungsrat aus der Patsche zu helfen. Das Beispiel macht deutlich: Mit dem Erfolg kam bei den Grünen immer auch eine gewisse Labilität.
Die Grünen in der Westschweiz
Die Wende brachte erst die Schülerinnen-Bewegung gegen den Klimawandel. Sie bescherte der GPS bei den nationalen Wahlen vom Oktober im Kanton Genf einen Wähleranteil von 24,6 Prozent. Damit sind die Grünen erstmals die wählerstärkste Partei in einem Kanton. In Neuenburg liegt die GPS neu auf Platz 2 und in der Waadt auf Platz 3, mit jeweils rund 20 Prozent.
Auch dieses Ergebnis ist nicht dem Zufall geschuldet, sondern das Resultat einer tief greifenden Veränderung der sozialen und politischen Verhältnisse.
Noch um 1990 dominierten in der Westschweiz die liberalen Parteien FDP und LPS. Es folgten mit einigem Abstand die SP und die CVP. Seither ist alles in Bewegung geraten: Die Liberalen stiegen rasant ab und vereinigen heute fusioniert noch halb so viele Wähleranteile auf sich. 2003 erwischte es dann die CVP, 2011 die SP und 2019 schliesslich die vormalige Aufsteigerin: die SVP.
Die Volkspartei muss sich neuerdings mit 16 Prozent begnügen – viel weniger, als sie in den restlichen Landesteilen erzielt. Sie liegt damit sogar hinter den Grünen, die 19 Prozent einsammelten und fast bis zur SP aufschlossen.
Der Hauptgrund für den Erfolg der Grünen in der Suisse romande: die Offenheit gegenüber der gesellschaftlichen Modernisierung. Sie wird von rechts wie auch von links vorteilhaft beurteilt. Nationalkonservative Positionen sind auch im bürgerlichen Lager wenig verbreitet.
Begünstigt wird diese Haltung durch die urbane Struktur mit einer hohen Dichte an Hochschulabgängern. Die grüne Kernwählerschicht, zu der besonders Junge und Frauen gehören, ist in der Westschweiz stärker ausgebildet als in anderen Regionen. Auch auf dem Land und neuerdings im ganzen Jurabogen stossen ihre Einstellungen nicht auf Ablehnung. Dies half, Themen wie die Ökologie in der Politik breit zu verankern.
Zieht die Deutschschweiz beim gesellschaftlichen Wertewandel nach, so verspricht dies auch auf nationaler Ebene weitere Gewinne für die Grünen.
Die Grünen in der ganzen Schweiz
Doch so einfach ist es nicht. Die politische Grosswetterlage, aber auch die Konkurrenzverhältnisse unter den linken und liberalen Parteien bestimmen die Entwicklung der Grünen im nationalen Parlament entscheidend mit.
Das zeigt sich im Rückblick auf die letzten Jahrzehnte. Übers Ganze gesehen, hat das linksliberale Lager über die vergangenen 40 Jahre an Macht gewonnen: 1979 vereinigten SP und Grüne (damals noch ohne GLP) 25 Wählerprozente auf sich, dieses Jahr sind es schon 38 Prozent.
Doch innerhalb des Lagers kommt es von Wahl zu Wahl zu Verschiebungen. 2019 wollten die Grünen eigentlich gemeinsam mit der SP gewinnen – so, wie es etwa 2003 gelungen war. Doch es kam anders: Die Sozialdemokraten verloren Wählende an die Grünen – so wie 2007. Umgekehrt war es 2015 gewesen: Damals liessen die Grünen nach, während sich die SP stabil hielt. Und 2011 verlor man mit dem ersten schweizweiten GLP-Auftritt gemeinsam.
Ob die beiden Linksparteien zusammen überhaupt über 30 Prozent kommen können, ist fraglich. Gut möglich, dass das Pendel in 4 Jahren wieder von Grün nach Rot zurückschlägt. Auch Absetzbewegungen hin zur GLP sind ein Phänomen, das sowohl die Grünen als auch die SP schwächen kann.
Die Grünen bleiben also trotz der demografisch-kulturellen Veränderungen, die ihnen auf die lange Sicht zugutekommen, verletzlich. Wozu dies bei den nächsten Wahlen führen kann, hängt nicht zuletzt vom Wahlkampf ab.
Die Grünen im Wahlkampf
Dieser nahm 2019 eine erstaunliche Wendung. Nur einen Monat vor den Wahlen lagen die Grünen etwa in der Suisse romande laut Wahlbarometer noch bei 13,7 Prozent. Am Ende waren es fast 5 Prozentpunkte mehr – ein last swing, ausgelöst durch die Klimademo knapp einen Monat vor der Wahl.
Wahlforscher nennen dieses Phänomen campaign volatility. Erklärt wird es damit, dass Entscheidungen stufenweise fallen: Zuerst legt man sich als Wählerin bestimmte Parteien oder Kandidierende zurecht, die überhaupt infrage kommen. Diese werden anschliessend einer genaueren Prüfung unterzogen, bevor in der letzten Phase die finale Entscheidung fällt.
Genau in dieser letzten Phase starteten die Grünen dieses Jahr durch.
Dass sich diese Dramaturgie im Wahlkampf 2023 wiederholt, ist allerdings nicht garantiert. Weder ist die künftige politische Grosswetterlage bekannt, noch ist klar, ob die Mobilisierung der Grünen gleich gut klappt wie 2019.
Wollen die Grünen in 4 Jahren punkten, kommen zwei Strategien infrage:
der Schwenk in die Mitte, wo es mehr bisherige Wählende gibt;
die Mobilisierung neuer Personen, die bisher noch nicht gewählt haben.
Wenn die Grünen schlau sind, wählen sie den zweiten Weg. Wähler in der Mitte abzuwerben, wäre höchstens bei Ständeratswahlen sinnvoll – bei Nationalratswahlen mit Proporzwahlrecht allerdings nicht. Das gilt erst recht, seitdem die GLP diese Position bereits erfolgreich bewirtschaftet.
Neue Wähler zu mobilisieren, ist erfolgversprechender. Das hat die GPS 2015 nach der zweiten nationalen Wahlniederlage in Folge richtig erkannt. Und ihren Fokus auf die vielen Nichtwähler gelegt, die es in der Schweiz gibt.
Grüne werden hierzulande stärker, wenn es ihnen gelingt, bisherige Wahlabstinente anzusprechen – wenn sie sich für die Sprach- und Stimmlosen interessieren, insbesondere bei nachfolgenden Generationen.
Genau dies ist einfacher zu erreichen, wenn man nicht in der Regierung sitzt.
Die Grünen in der konstruktiven Opposition
Deshalb ist für die Grünen nicht die Mitarbeit im Bundesrat, sondern die Basisarbeit in zentralen Themen wie dem Klimawandel wichtig: Die Partei muss Forderungen aus ausserparlamentarischen Bewegungen ins Parlament hineintragen. Das hält den Druck auf die Institutionen hoch und sichert die Mobilisierungskraft. Gegenüber der GLP hat die GPS den Vorteil, an einem Pol positioniert zu sein und so weniger Kompromisse eingehen zu müssen.
Die härteste Konkurrenz dürfte in den kommenden 4 Jahren von der SP kommen. Sie verlor dieses Jahr 4 Sitze im Nationalrat und 3 im Ständerat – bis auf wenige Ausnahmen gingen sie alle an die Grünen. Das wird die SP bald zu kompensieren versuchen. Ihr bleibt dabei nichts anderes übrig, als es über eine überzeugende Regierungsarbeit zu versuchen. Da können die Grünen am besten dagegenhalten, wenn sie aus der konstruktiven Opposition agieren: als strategischer Partner der Regierung, der jedoch eigene Akzente setzen kann.
Dass Regula Rytz der Sitz im Bundesrat verwehrt wurde, ist im Hinblick auf 2023 nichts Schlechtes. Sondern das Beste, was den Grünen passieren konnte.