Am Gericht

Ein Fall, den es nicht geben sollte

Ein Heimat-Hardliner als vorsitzender Oberrichter und ein vorläufig Aufgenommener aus Somalia sind sich einig – das Sozialamt hat überreagiert. Der Dialog zwischen den zwei höchst unterschiedlichen Männern führt zu erstaunlichen Erkenntnissen.

Von Yvonne Kunz, 11.12.2019

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Gerichtsverhandlungen, das wird oft behauptet, seien wenig mehr als Theater. Blosse Inszenierungen von Rechts­staatlichkeit. Da ist was dran. Die Richter kennen schon alle Einzelheiten des Falls, die Protagonistinnen ihre Rollen. Und stets dieselbe Dramaturgie: Beweis­verfahren, Partei­vorträge, Urteil. Oft sehr trocken. Das ist Prozess­ökonomie. Umso erfreulicher deshalb, wenn in einer Verhandlung unversehens ein echter Dialog entsteht. Bei dem sich auch ein verkorkster gesellschaftlicher Diskurs wie jener über die Zuwanderung und den Sozialstaat auf eine pragmatisch-praktische Ebene verlagern kann.

Ort: Obergericht Zürich
Zeit: 8. November 2019, 8.00 Uhr
Fall-Nr.: SB190163
Thema: Betrug, Erwerbs­tätigkeit ohne Bewilligung

«Alles ein Missverständnis», sagt der Somalier zum Vorwurf des Sozialhilfe­betrugs. «Mein Kopf war durcheinander.»

Die Kulturen seien so verschieden, die Normen so anders.

Bei seiner Ankunft in der Schweiz vor elf Jahren erstaunte den heute Vierzigjährigen, was die Leute alles auf die Strasse stellen. Gratis zum Mitnehmen! Mit einem Freund begann er, die Sachen einzusammeln und damit Kleinhandel zu treiben. Mit einem edlen Ansinnen: Sie wollten Bedürftige in der Heimat unterstützen. Der Erlös ging auf drei Konti, die auf den Namen des Somaliers lauteten – fand aber nie den Weg zu den Notleidenden. Der Mann gab das Geld für eigene Zwecke aus.

Auch das war ein guter Zweck, wenn man so will. Er finanzierte unter anderem die Fahr- und die Taxischule sowie Gebühren des Strassen­verkehrsamts – und kam endlich vom Sozialamt los. Das ihn, o bittere Ironie, anzeigte, weil er besagte Konti und Einkünfte von 4500 Franken nicht gemeldet hatte. Zudem soll er acht Tage lang ohne Bewilligung Taxi gefahren sein. Die Sache landete vor Gericht, das Bezirks­gericht Zürich sprach einen Schuld­spruch aus. Doch der Somalier akzeptierte die Verurteilung nicht und zog den Fall vor Obergericht. Er verlangt einen Freispruch.

An der Berufungs­instanz trifft der Vierzigjährige auf Oberrichter Christoph Spiess, der den Prozess als Verhandlungs­vorsitzender leitet. Jurist Spiess ist auch Politiker. Für die Schweizer Demokraten sass er von 1982 bis 1998 und ein zweites Mal von 2010 bis 2014 im Zürcher Parlament, dem Gemeinderat. Für eine Partei also, die sich früher «Nationale Aktion gegen die Überfremdung von Volk und Heimat» nannte. Zum Vokabular von Christoph Spiess gehören Begriffe wie «Afrikanisierung» und «Asyltourismus».

Wie es denn mit seinen Deutsch­kenntnissen stehe, will der Gerichts­vorsitzende vom Beschuldigten als Erstes wissen. Der Somalier versteht ihn ganz gut, spricht leidlich Deutsch, trotzdem: Sicherheits­halber wird die Befragung gedolmetscht.

«Sie haben einen Arabisch-Dolmetscher verlangt. Warum nicht Somali oder Aramäisch?»

«Ich habe Somalia mit vierzehn oder fünfzehn, nach dem Schul­abschluss jedenfalls, verlassen und im Sudan gelebt.»

«Dort haben Sie später als Informatiker auf einer Bank gearbeitet, haben aber Probleme bekommen und sind ausgereist. Warum nach Somalia, dort war doch schlimmster Bürgerkrieg?»

«Ich wurde nach Somalia ausgeschafft, weil ich keine Arbeits­bewilligung hatte. Nach wenigen Tagen reiste ich aber zurück in den Sudan.»

«Irgendwann sind Sie nach Libyen gegangen. Was wollten Sie dort?»

«Alle gingen dorthin.»

«Sie sagen, Sie hätten in Libyen schwarz gearbeitet.»

«Dort gibt einem niemand Geld.»

«Dann gingen Sie nach Malta, konnten dort offenbar als Dolmetscher anheuern.»

«Die haben viele Leute vom Arabischen Golf. Ich dolmetschte bei der Registrierung, beim Aufnehmen der Personalien.»

«Warum haben Sie Malta verlassen?»

«Mein Asylantrag wurde abgelehnt. Und ich hatte Ärger mit anderen Asylbewerbern. Man bezichtigte mich, falsch gedolmetscht zu haben. Also ging ich nach Italien, versuchte zu überleben.»

«2008 kamen Sie in die Schweiz.»

«Ich habe ein Asylgesuch gestellt. Aber das wurde abgelehnt, wegen Dublin. Sie gaben mir eine F-Bewilligung, schickten mich zum Sozialamt und in Einsatz­programme.»

«Seit Januar 2018 sind Sie nicht mehr auf dem Sozialamt. Sie verdienen als selbstständiger Taxifahrer etwa 2000 Franken pro Monat. 1000 zahlen Sie für die Wohnung, 200 für die Krankenkasse. Und mit dem Rest kommen Sie wirklich durchs Leben?»

«Ich lebe allein, nehme keine Drogen, muss mich nur ernähren. Den Behörden zahle ich jeden Monat 200 Franken ab, wegen dieser Sache.»

«Sie sagen, Sie unterstützten manchmal Verwandte in Afrika. Wie geht das denn noch?»

«Wenn jemand Hilfe braucht, helfe ich.»

«Aber Sie bräuchten ja eher selbst Hilfe! Bei diesem tiefen Einkommen wundert mich, dass Sie keine Zusatz­leistungen erhalten.»

«Für Kleinhandel habe ich keine Zeit mehr, ich arbeite sechs Tage die Woche. In Malta ist es ganz anders. Wenn man arbeitet, Geld verdient, lässt einen der Staat in Ruhe. Dort kann man arbeiten und bekommt Unterstützung.»

«Auch wenn der Staat weiss, dass man arbeitet?»

«Man bekommt nicht so viel wie hier. Aber wenns nicht reicht, sagen die Ämter: Los, auf die Strasse, arbeiten! Ich möchte Handel treiben zwischen der Schweiz und Afrika. Aber das Migrations­amt unterstützt mich nicht, gibt mir keine Dokumente. Ich bräuchte den C-Ausweis.»

«So schnell schiessen die Soldaten nicht! Zuerst bekommen Sie das B.»

«Wollte ich beantragen. Aber wegen dieser Angelegenheit hier geht das nicht. Woher weiss das Migrationsamt überhaupt von dieser Sache?»

«Unsere Behörden funktionieren!»

«Ach ja? Anstatt dass das Sozialamt mir hilft, zerstört es alles!»

«Sie sollen Einkünfte von 4500 Franken verschwiegen haben. Was sagen Sie dazu?»

«Das Geld war nicht für mich bestimmt. Das Konto habe ich eröffnet, um Geld nach Somalia zu überweisen. Aber das geht gar nicht. Man muss es einem Somalier mitgeben, der heimreist.»

«Das taten Sie aber nicht. Es gibt keine Barbezüge. Trifft es also zu, dass Sie das Geld für eigene Bedürfnisse gebraucht haben?»

«Ja, so war es wohl. Die Informationen in meinem Kopf waren ein Wirrwarr. Ich betrachtete das Geld nicht als meines. Sonst hätte ich es angegeben.»

«Aber spätestens als Sie das Geld für sich brauchten, hätten Sie es doch nachmelden müssen. Sehen Sie das nicht so?»

«Ich wollte das Geld wirklich nach Hause schicken. Ich hätte mit Leichtigkeit einen Betrug begehen können. Vier Jahre lang habe ich immer gearbeitet – ich hätte sagen können, ich sei krank, und woanders arbeiten können. Das Sozialamt hat mich ja nicht ausgebildet.»

«Kann man alles diskutieren. Eine Frage muss ich Ihnen noch stellen: Wenn Sie mit Kleinhandel Geld verdienen, müssen Sie es doch erst für sich brauchen, sonst unterstützt das Sozialamt indirekt Somalia. Sehen Sie das nicht?»

«Das wusste ich nicht.»

«Sie hätten besser einen Verein gegründet.»

«Das wusste ich auch nicht. Das ist ja das Problem.»

«Dann ist da noch die Taxisache. Haben Sie sich um eine Arbeits­bewilligung bemüht?»

«Ja, ich habe das Amt angerufen. Die sagten, die Bewilligung würde mir in einigen Tagen zugestellt.»

«Dann sind Sie schon mal losgefahren.»

«Ja, ich hatte ja die telefonische Zusage!»

Für «sehr kleinlich» hält sogar Oberrichter Spiess die Anzeige des Sozialamts wegen dieser acht Tage «Erwerbs­tätigkeit ohne Bewilligung». So unverblümt er sich in politischen Debatten zur Zuwanderung äussert, so wenig scheut er sich, von der Richterbank aus behördlichen Übereifer zu benennen. «Ein schwerer Kriminalfall» sei dies hier wahrlich nicht, meint er mit leisem Spott.

«Ich habe Mühe mit Ihrer Anspruchs­haltung gegenüber unserem Staat», sagt er dem Taxifahrer bei der mündlichen Urteils­begründung. Auch nimmt ihm das Gericht die Ahnungs­losigkeit nicht ab. Er habe gewusst, dass er nicht korrekt handle. Noch mehr Mühe scheint dem Vorsitzenden aber der Staat mit seiner Anzeige zu bereiten: «Man hätte es bei einer Rückforderung belassen können.» Und man hätte richtig rechnen können, fügt er an. Dann wäre man auf einen geringeren Delikts­betrag gekommen.

Nun aber, da das Verfahren im Gang sei, bleibe dem Gericht kaum Spielraum. Man habe sich lange mit der Frage des Vorsatzes befasst. Bei einem einzelnen Bezug hätte man sagen können: Er hat kurz überbrückt. Aber die Bezüge erstreckten sich über 22 Monate, deshalb wird der Schuld­spruch bestätigt. Immerhin mit einer deutlichen Reduktion der bedingten Geldstrafe, von 80 auf 60 Tage, zu 15 statt 20 Franken.

In der Taxisache gibt das Gericht dem Verteidiger Silvan Fahrni recht: Er hatte auf eine Änderung im Ausländer­gesetz hingewiesen. Für Personen mit F-Bewilligung gilt seit dem 1. Januar 2019 bei selbstständiger Tätigkeit lediglich eine Meldepflicht – und diese sei mit dem Telefonat erfüllt worden. Lex mitior: Tritt während eines Verfahrens ein neues Recht in Kraft, ist das mildere anzuwenden. Also keine zusätzliche Busse von 100 Franken.

Die Heimat sei ihm heilig, sagte Christoph Spiess 2012 in einem Interview. Aber der Rechtsstaat eben auch. Er hat beim Betrugs­prozess gegen den Somalier deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es Unfug ist, einen Fall wie diesen vor ein Gericht zu bringen. Dem Staat wären verhältnis­mässigere Massnahmen zur Verfügung gestanden. So schadet er sich unter Umständen selbst: Eine Vorstrafe kann bei der regelmässigen Überprüfung der Taxi­zulassung ein Problem sein. Muss nicht, aber wenn es in diesem Fall so wäre, bliebe dem Somalier wohl wieder nur der Gang zum Sozialamt.

Illustration: Till Lauer

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