Wie die AHV die soziale Ungleichheit mindert
Wie gross ist die Schere zwischen Reich und Arm? Die Antwort hängt davon ab, ob man die Altersvorsorge hinzurechnet oder nicht: eine Analyse über die erste, zweite und dritte Säule.
Von Ursina Kuhn, 09.12.2019
Unabhängiger Journalismus lebt vom Einsatz vieler
Unterstützen auch Sie die Republik mit einem Abo: Einstiegsangebot nur bis 31. März 2024.
Über die Altersvorsorge wird in der Politik oft und leidenschaftlich gestritten. Das ist kein Zufall, denn nicht zuletzt geht es dabei auch um Verteilfragen. Wie viel dabei auf dem Spiel steht, zeigen wir in diesem Beitrag auf.
Wir schauen uns der Reihe nach die drei Säulen des Vorsorgesystems an:
die 3. Säule (freiwillige Sparkonten)
die 2. Säule (die Pensionskassen)
die 1. Säule (die Alters- und Hinterlassenenversicherung)
Die Bedeutung dieser drei Säulen illustriert die folgende Grafik: Sie zeigt das durchschnittliche Altersguthaben, das Schweizer Einwohner im Alter von 25 bis 64 Jahren über die drei Vorsorgesäulen hinweg angehäuft haben. Wir wählen diese Altersspanne, weil sich Ältere das Kapital oft bereits ausbezahlt haben, während Jüngere noch nicht in die 2. und 3. Säule einzahlen. Die wichtigsten Erkenntnisse sind auch auf andere Altersspannen übertragbar.
Man sieht, dass die AHV-Ansprüche mit einem Wert von 171’000 Franken den wichtigsten Teil der Vorsorge ausmachen. Knapp dahinter folgen die Guthaben in der 2. Säule mit durchschnittlich 153’000 Franken. Deutlich kleiner sind die Guthaben in der 3. Säule. Sie betragen nur 23’000 Franken.
Allerdings sind gerade die 3.-Säule-Guthaben sehr ungleichmässig verteilt.
3. Säule
3.-Säule-Sparkonten sind freiwillig. Im Gegensatz zu normalen Bankkonten kann aber nicht frei darüber verfügt werden: Das Kapital wird erst zur Zeit der Pensionierung ausgezahlt. Vorbezüge sind nur möglich für den Erwerb von Wohneigentum oder für die selbstständige Erwerbstätigkeit.
Die Statistik zeigt, dass die 3. Säule sehr unterschiedlich genutzt wird. Das reichste Fünftel aller Haushalte hat durchschnittlich 50’000 Franken in der freiwilligen Vorsorge angespart. Das ist rund achtmal so viel wie beim ärmsten Fünftel, wo das durchschnittliche Sparkapital rund 6000 Franken beträgt.
Ähnlich wie die generellen Vermögen, die Personen zum Beispiel in Form von Bargeld, Aktien oder Immobilien halten, sind also auch die 3.-Säule-Guthaben ziemlich ungleich verteilt. Dafür gibt es drei wichtige Erklärungen: Erstens verfügen Personen ohne Vermögen gar nicht über die Mittel, um Einzahlungen in die 3. Säule zu tätigen – nur gut die Hälfte der Leute besitzen überhaupt eine 3. Säule. Zweitens steigen sowohl die 3.-Säule-Guthaben als auch das übrige Vermögen mit dem Alter stark an. Und drittens sind Einzahlungen in die 3. Säule wegen Steuervorteilen attraktiv: Je höher das Einkommen und Vermögen ist, desto stärker ist die Steuerreduktion.
Ausgeprägt sind in der 3. Säule auch die Geschlechterunterschiede. Männer haben im Schnitt rund doppelt so hohe Guthaben wie Frauen. Und zwar, wie die folgende Grafik illustriert, über sämtliche Vermögensschichten hinweg.
Die Geschlechterunterschiede in der 3. Säule sind hauptsächlich auf die höheren Arbeitseinkommen der Männer zurückzuführen. Weil sie mehr verdienen, können sie auch mehr Geld in die private Vorsorge stecken. Dabei ist aber zu beachten, dass Frauen – gerade bei Lebensversicherungen – häufig nicht die Inhaberinnen sind, aber Begünstigte im Todesfall des Partners.
2. Säule
Als Nächstes betrachten wir die Guthaben in der beruflichen Vorsorge. Die Kontrolle darüber ist stärker eingeschränkt als bei der 3. Säule: Beiträge in die Pensionskasse sind für Angestellte obligatorisch, und sowohl für den Vorabzug zum Kauf eines Hauses als auch bei der Vererbung gibt es zusätzliche Auflagen. Weder die Kasse noch die Anlagestrategie können frei gewählt werden, und bei einer Sanierung kann das Guthaben gekürzt werden.
Trotz dieser Einschränkungen bestehen auch hier grosse Unterschiede. Das reichste Fünftel besitzt mit rund 298’000 Franken beinahe das Vierfache des ärmsten Fünftels, dessen Guthaben im Schnitt nur 80’000 Franken beträgt.
Die Unterschiede zwischen Männern und Frauen sind ähnlich ausgeprägt wie bei der 3. Säule. Männer besitzen mit rund 202’000 Franken im Schnitt fast doppelt so viel wie Frauen mit 104’000 Franken. Auch hier widerspiegeln die Geschlechterunterschiede die tieferen Erwerbseinkommen und häufigeren Erwerbsunterbrüche der Frauen.
Die Ungleichheit ist also auch bei den Pensionskassenguthaben relativ hoch; sie übersteigt zum Beispiel jene der Löhne. Das liegt unter anderem an einem Konstruktionsfehler: Nur der Lohnbestandteil über 25’000 Franken pro Jahr ist rentenbildend. Tieflöhner und Teilzeitarbeitende sind wegen dieses sogenannten Koordinationsabzugs in der 2. Säule deshalb benachteiligt. Zudem gehen gut bezahlte Stellen oft mit einer grosszügigen Pensionskasse einher.
1. Säule
Bei der 1. Säule, der AHV, ist die Ausgangslage etwas anders. Hier gibt es kein gespartes Kapital, das nach der Pensionierung bezogen werden kann. Das Guthaben besteht aus Ansprüchen an künftige Renten, deren Finanzierung erst bereitgestellt werden muss, hauptsächlich durch künftige Generationen.
Der heutige Wert dieser Guthaben ist hypothetisch – er kann sich bei einer Erhöhung des Rentenalters rein rechnerisch auch ändern. Die wichtigste Erkenntnis bleibt aber auch nach solchen Anpassungen bestehen: In der 1. Säule sind die Guthaben ausgeglichener verteilt als in der 2. und 3. Säule.
Die Umverteilung über die AHV ist gross, weil Lohnbestandteile über 85’000 Franken nicht rentenbildend sind und somit wie eine Steuer wirken. Die AHV-Guthaben sind darum auch gleichmässiger verteilt als die Einkommen.
Ein Grossteil der Ungleichheit in den 1.-Säule-Ansprüchen ist demgegenüber auf Altersunterschiede zurückzuführen. In der obigen Grafik ist das Durchschnittsalter der Haushalte im reichsten Quintil am höchsten – die Haushalte im 2. Quintil weisen demgegenüber das niedrigste Alter auf.
Die 1. Säule ist überdies auch der einzige Ort im Vorsorgesystem, an dem die Geschlechterverhältnisse umgekehrt sind. Die Ansprüche der Frauen an die AHV sind über alle Vermögensschichten hinweg höher als jene der Männer.
Die Gründe dafür sind rechnerischer Natur: Auch wenn ihre Renten nicht höher sind als jene der Männer, so beziehen Frauen wegen ihres niedrigeren Rentenalters (64 gegenüber 65 Jahre) und ihrer höheren Lebenserwartung (85,4 gegenüber 81,7 Jahre) übers Ganze gesehen mehr Geld aus der AHV.
Wichtig ist auch das Ehegattensplitting. Bei der Pensionierung werden die AHV-Guthaben aus den Ehejahren gleichmässig auf die beiden Ehepartner aufgeteilt. Da verheiratete Männer meistens mehr verdient haben als ihre Gattinnen, findet so eine Umverteilung zugunsten verheirateter Frauen statt.
Die Gesamtverteilung
AHV, Pensionskasse, 3. Säule – wie sich all diese Vorsorgeeinrichtungen unter dem Strich auf die Ungleichheit auswirken, schauen wir uns jetzt an. Und zwar anhand einer Darstellung, die wir bereits kennen: der Lorenzkurve.
Diese Kurve bildet die Vermögensverteilung ab. Je mehr sie wie eine Gerade, also im 45-Grad-Winkel verläuft, desto gleicher ist die Verteilung. Je runder sie verläuft, mit einem Bauch nach unten rechts, desto ungleicher ist sie.
Auf unserem Diagramm haben wir vier Lorenzkurven eingezeichnet: eine Kurve für die Vermögen ohne jegliche Altersguthaben (grau), eine für die Vermögen inklusive der 3. Säule (blau), eine inklusive der 3. und 2. Säule (rot) und schliesslich eine Kurve, die sämtliche Guthaben mit einschliesst (grün).
Unsere Bezugsgrösse ist die Gesamtbevölkerung in sämtlichen Altersstufen. Aus dem Bild geht hervor, dass die Vermögensungleichheit ohne jegliche Altersguthaben am grössten ist (graue Kurve). Der Gini-Koeffizient dieser Verteilung beträgt 0,76. Maximal möglich wäre ein Ungleichheitswert von 1.
Zählt man die 3. Säule hinzu, so erhält man das sogenannte Nettovermögen (blau). Weil in der 3. Säule verhältnismässig wenig Geld steckt, ändert sich die Ungleichheit nur minim: Der Gini-Koeffizient bleibt bei 0,75 Punkten.
Eine grössere Veränderung bringt die berufliche Vorsorge. Zählt man zum Nettovermögen auch die Pensionskassenguthaben hinzu (rot), so wird die Kurve deutlich flacher, und der Gini-Koeffizient fällt auf 0,65 Zähler. Diese Definition kommt der generellen Idee der Vermögensungleichheit sehr nahe, da 2.-Säule-Guthaben als Kapital tatsächlich ausbezahlt werden können.
Noch flacher wird die Kurve, wenn man auch die AHV hinzunimmt (grün) und dadurch das «erweiterte Vermögen» erhält. Rechnet man mit dieser Definition, so beträgt der Gini-Koeffizient noch 0,55 Punkte. Gegenüber der ursprünglichen Ungleichheit entspricht dies einer deutlichen Reduktion. Auch dieser Wert ist eine wichtige Orientierungsgrösse – gerade um verschiedene Länder mit unterschiedlichen Systemen zu vergleichen.
Schluss
Unsere Analyse hat drei wichtige Ergebnisse offenbart. Erstens stellen die Altersguthaben relevante Vermögenswerte dar: Für die ärmeren vier Fünftel der Haushalte sind die Ansprüche aus der AHV etwa mehr wert als ihr gesamtes Immobilien- und Finanzvermögen.
Zweitens sind gewisse Teile der Bevölkerung im Alter viel besser abgesichert als andere. Daraus ergeben sich grosse Unterschiede im Lebensstandard nach dem Rentenalter und beim Zeitpunkt der Pensionierung: Ein hohes Vorsorgeguthaben ist der wichtigste Faktor, der Frühpensionierungen in der Schweiz erklärt.
Drittens tragen die Vorsorgewerke dazu bei, dass sich die Ungleichheiten verringern. Den stärksten ausgleichenden Einfluss hat die AHV. Doch auch die 2. Säule bildet einen Ausgleich: Trotz der grösseren Ungleichheit bei den Pensionskassenguthaben verringert auch sie die Vermögensungleichheit.
Die 3. Säule ist hingegen aus einer Ungleichheitsperspektive praktisch irrelevant. Dies ist interessant, weil die private Altersvorsorge oft als Mittel dargestellt wird, um Personen zum Sparen zu motivieren. Unsere Auswertungen zeigen aber, dass vor allem diejenigen in die 3. Säule einzahlen, die auch sonst über hohe Ersparnisse verfügen. Die 3. Säule schwächt deshalb im Endergebnis hauptsächlich die Steuerprogression.
Dass in der Politik ausgiebig über die Altersvorsorge gestritten wird, ist also nachvollziehbar. Auch für die Ungleichheitsforschung ist es eminent wichtig, die Effekte zu kennen, die von der Vorsorge ausgehen. Wie sie sich je nach Alter auswirken, beleuchten wir das nächste Mal noch ausführlicher.
Die Daten für den gesamten Beitrag stammen aus der SILC-Befragung von 2015 des BFS (experimentelle Vermögensdaten vom 7. Juni 2018), die mit Angaben aus dem AHV-Register und dem Bevölkerungsregister ergänzt wurden. Alle Auswertungen beruhen auf eigenen Berechnungen.
Die Stichprobe umfasst 7468 Haushalte. Die Auswertung auf Personenebene umfasst 9194 Personen von 25 bis 64 Jahren. Die Quintile beziehen sich jeweils auf das Haushaltsvermögen pro Kopf. In diesem sind Immobilien nach Abzug von Hypotheken, Bankkonten, Finanzanlagen und Wertgegenstände mit inbegriffen. Angaben zu Schulden und eigenen Firmen fehlen. Deshalb entsprechen die SILC-Daten nicht ganz der Definition des Nettovermögens («net worth»).
Die Methodik ist über die drei Säulen leicht unterschiedlich. Die Angaben zur 3. Säule wurden in der SILC-Befragung erhoben. Bei den 2.-Säule-Guthaben von Personen vor der Pensionierung handelt es sich um Schätzungen aufgrund der erzielten Einkommen seit 1982. Basis dafür sind die AHV-Daten. Bei Pensionierten wird der Barwert anhand der Lebenserwartung addiert. In der 1. Säule wird die zukünftige Rente anhand der bisherigen Einkommen geschätzt. Basis dafür ist wiederum das AHV-Register. Bei Pensionierten wird die laufende Rente verwendet. Für den Barwert werden anhand der Lebenserwartung die erwarteten Renten addiert. Kindergutschriften und das Einkommenssplitting von Verheirateten werden berücksichtigt.
Ursina Kuhn ist Forscherin am Kompetenzzentrum Sozialwissenschaften Fors. Nach einem Doktorat in Politikwissenschaft hat sie sich in verschiedenen Projekten mit der Messung von Einkommen und Vermögen beschäftigt und dafür zahlreiche Datenquellen ausgewertet. Seit 2006 ist sie Teil des Teams des Schweizer Haushalt-Panels, wo sie Daten erhebt und für Forscher aufbereitet.