Der Krieg ist vorbei, die Revolution beginnt
Nach Jahrzehnten des Blutvergiessens öffnete sich im Irak ein Zeitfenster, um dieses geschundene Land aufzuräumen. Doch die Politiker haben ihre Chance nicht genutzt – jetzt ist ein blutiger Volksaufstand ausgebrochen. Denn von der Erholung spüren die meisten Menschen nichts. Und sie lassen sich nicht mehr gegeneinander ausspielen, sondern wenden sich gegen ihre eigenen Eliten. Das Land ist an einem Tiefpunkt – und vielleicht liegt dort neue Hoffnung.
Von Amir Ali, Monika Bolliger (Text) und Hawre Khalid (Bilder), 29.11.2019
Plötzlich klappt ein junger Mann zusammen, seine Beine geben nach, als wären sie aus Gummi. Doch er fällt nicht zu Boden, dafür ist das Gedränge in der engen Gasse des Souks in Bagdads Altstadt zu gross. Es ist ein Freitagvormittag Ende September, das Thermometer steht bereits bei über dreissig Grad. «Die Hitze, er erträgt die Hitze nicht», schreit einer der fünf oder sechs Männer, die den Ohnmächtigen sofort aufgefangen und in eine Ecke gezogen haben. «Wahrscheinlich hat er nichts gegessen», mutmasst ein anderer.
Rasch wird aus den Stühlen eines kleinen Imbissrestaurants eine Liege improvisiert, einer holt Salz von einem Tisch, Wasserflaschen werden gereicht. Schon bald kommt der Junge wieder zu Bewusstsein. «Nein, nein, du bleibst schön noch etwas liegen», mahnen ihn seine spontanen Helfer.
Als klar ist, dass der Schwächeanfall nichts Ernstes war, macht man auch schon wieder Witze. Die Stimmung ist aufgeräumt, und in der Marktgasse schieben sich die Menschen wieder schwitzend aneinander vorbei. Viele Väter sind mit ihren Kindern unterwegs, um Schulrucksäcke, Hefte und Stifte zu kaufen. Um die Ecke ist die Rashid-Strasse, Bagdads einstige Prachtsmeile, von der man in die Mutanabbi-Strasse abzweigt. Dort, wo bereits zur Zeit der Abbasiden-Kalifen ein Büchermarkt entstand, reiht sich bis heute Buchhandlung an Buchhandlung. Von den Grillständen duftet es würzig nach Fleisch, in und vor den vereinzelten Cafés sitzen Männer, die rauchen und diskutieren. Beim legendären Fruchtsaftladen von Hajj Zabaleh drängen sich die Kunden, um für wenig Geld ein Glas des süssen, roten Traubensaftes zu trinken.
Das friedliche Treiben mit der Atmosphäre eines Volksfests steht in krassem Gegensatz zu den Szenen, die sich nur wenige Tage später auf den Strassen und Plätzen Bagdads abspielen.
Schon länger sprachen die Leute von einem Aufruf zum Protest, der in den sozialen Netzwerken kursiere. Niemand konnte genau sagen, von wem er ausging, keine etablierte Partei oder Organisation schien dahinterzustehen. Die Proteste, die am 1. Oktober begonnen haben und bis heute anhalten, haben keine klare Führungsstruktur und richten sich gegen alle politischen Parteien. Die Gewalt eskalierte blitzschnell. Die Regierung blockierte das Internet, die Sicherheitskräfte setzten scharfe Munition ein. Protestierende errichteten Barrikaden aus brennenden Reifen, Randalierer zündeten Regierungsgebäude und Büros politischer Parteien an.
Der letzte friedliche Freitag
«Sie haben Scharfschützen», erzählte uns später am Telefon Mohammed aus Sadr City, einem armen Viertel im Osten von Bagdad. «Ich sah mit eigenen Augen, wie junge Männer niedergestreckt wurden, während sie die irakische Flagge hielten. Ich bin schockiert. Sie haben junge Männer in der Blüte ihres Alters erschossen.»
Innert kürzester Zeit schnellte die Zahl der Toten und Verletzten in die Höhe, während der Irak von der Aussenwelt abgeschnitten war. Bis heute hat die «Revolution des 1. Tishreen», wie die Bewegung ihre Protestwelle in Anlehnung an das Datum der ersten Demonstration nennt, über 300 Todesopfer gefordert, Tausende wurden verletzt.
Die Eskalation kann schnell gefährlich werden in einem Land, das anfällig für das Austragen geopolitischer Machtkämpfe der Region ist, einem Land, wo Tausende Milizen mit den Sicherheitskräften koexistieren und manchmal rivalisieren.
An diesem letzten friedlichen Freitag liegt der Protest in den Strassen rund um den Büchermarkt an der Mutanabbi-Strasse kaum wahrnehmbar in der Luft. Am Rand einer Gasse, die vom Tigris hoch in den Markt führt, hält ein Mann mit langem Haar schweigend ein Plakat vor sich, das die Regierung und die herrschende Klasse kritisiert. Ansonsten gehts entspannt zu und her.
Ein paar Strassen weiter, unten am Fluss, liegt die Qishleh, ein Bau aus osmanischer Zeit. Hier, im Hof neben dem berühmten Uhrturm, wurde 1921 König Faisal gekrönt. Später diente die Qishleh als Regierungsgebäude, heute ist sie ein Kulturzentrum. Junge Männer und Frauen, Alte und Familien tummeln sich auf der Wiese, streifen durch die Hallen, wo Künstler Bilder ausstellen. Ein Kalligraf malt in wenigen Minuten den Namen seiner Kunden mit Tusche in kunstvoller Schrift. Daneben kann man sich in einem Bühnenbild der Euphrat-Sümpfe in ein Boot stellen und Fotos machen.
Draussen in einem Pavillon hält ein Mann um die fünfzig eine spontane Vorlesung zum Unterschied zwischen Philosophie und Epistemologie ab, rund zwei Dutzend Zuhörer folgen ihm, die einen rufen Fragen und Einwände dazwischen, andere machen eher verständnislose Gesichter. In einer Ecke des Parks steht ein Tisch, wo Krankenschwestern kostenlos den Blutdruck messen. Weiter unten am Fluss unter einem Baum drängt sich eine Menge um eine kleine Bühne für Dichter. Ein alter Mann in khakifarbenem Anzug und mit Kufija löst hier gerade eine jüngere Frau mit violettem Kopftuch beim Rezitieren von Poesie ab. Die Zuhörerinnen applaudieren, recken Hände mit Mobiltelefonen in die Höhe, um ein Foto zu machen oder die Dichter beim Rezitieren zu filmen.
Diese Serie entstand aus drei Recherchereisen, zu der die Republik-Reporter Amir Ali und Monika Bolliger Ende August aufbrachen. Sie reisten vom Libanon nach Ägypten, in den Sudan und in den Irak und sind der Frage nachgegangen: Was haben die Menschen in der arabischen Welt heute für Perspektiven, bald neun Jahre nach dem arabischen Frühling? Zur Übersicht mit allen Episoden.
Bagdad ist voller Leben, voller Lachen. Nach Jahren des Krieges ist das Viertel rund um den Büchermarkt an der Mutanabbi-Strasse einer der Orte, wo dies am augenfälligsten ist. Nur ein Zelt aus Militärplanen, das auf der Wiese in der Qishleh steht, erinnert daran, wie fragil das alles ist. «Museum der Hashd al-Shaabi», steht darauf. Die Milizen, die sich 2014 für den Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) gebildet haben, sind auch an diesem Ort der gelassenen Normalität präsent.
Die Wende ist eingeläutet
Der IS ist zurückgedrängt, die Sicherheit in den meisten Teilen des Landes weitgehend wiederhergestellt. In der Hauptstadt Bagdad wurden seither nach und nach die Bombenschutzmauern abgebaut, die sich jahrelang durch die Stadt zogen und die Verkehrswege zerschnitten. Manche der Checkpoints, an denen man früher ständig kontrolliert und gegängelt wurde, sind zwar noch da, mitsamt den schwer bewaffneten Polizisten und Soldaten, doch meist wird man einfach durchgewinkt.
Der Sieg gegen den IS hat im Irak ohne Zweifel eine Wende eingeläutet. Jahrzehntelang war das Land vom Blutvergiessen geprägt: In den 1980ern herrschten acht Jahre lang Krieg mit dem Nachbarland Iran, 1991 folgte der Zweite Golfkrieg. 2003, nach dem Sturz von Saddam Husseins Baath-Diktatur, ging zuerst der Aufstand gegen die amerikanische Besatzung los, und wenig später brach der Bürgerkrieg aus. Und dann kam der IS, eroberte Gebiete im Norden und Westen des Landes, bis die Krieger des selbst ernannten Kalifen wenige Kilometer vor Bagdad standen.
Hunderttausende Kämpfer und Zivilisten starben, jetzt herrscht zum ersten Mal seit langem relative Ruhe. Man könnte dies als Zeitfenster sehen, um das Land aufzuräumen, tief greifende Missstände beheben zu können. Dinge, die im Krieg nicht möglich sind, weil man mit dem Überleben beschäftigt ist und weil die Regierung in Kriegszeiten interne Probleme mit Verweis auf externe Bedrohungen auf die lange Bank schieben kann. Und weil im Krieg immer jene mit den meisten Waffen und den wenigsten Skrupeln das Sagen haben. Die Frage ist, wie viel sich daran überhaupt geändert hat. Wie sehr der Krieg hier noch den Ton angibt, auch wenn es stiller geworden ist.
Der Sieg gegen den IS, darin sind sich alle einig, ist zu einem grossen Teil den Einheiten der Hashd al-Shaabi zu verdanken, der «Volksmobilmachung».
Geflecht der Korruption
Als der oberste schiitische Kleriker im Irak, Grossayatollah Ali al-Sistani, 2014 die Bürger dazu aufrief, sich den Sicherheitskräften anzuschliessen und das Land gegen den vorrückenden IS zu verteidigen, folgten Zehntausende dieser Fatwa. So formierten sich die mehrheitlich schiitisch geprägten Milizen, die sich unter dem Dachverband der Hashd al-Shaabi zusammenschlossen und mit iranischer Unterstützung gegen den IS kämpften.
Die Hashd wuchsen zu einer weit stärkeren und eigenmächtigeren Kraft heran, als Grossayatollah Sistani sich dies augenscheinlich vorgestellt hatte. Mittlerweile laufen Bestrebungen, die Milizen der Kontrolle der Regierung zu unterstellen. Doch sie sind zur Macht im Staat geworden: Ihre Vertreter sitzen im Parlament, und sie dringen immer stärker in die Wirtschaft ein, bauen Hotels und Wohnungen, importieren Klimaanlagen, betreiben Landwirtschaft, sind im Zementhandel, kontrollieren Grenzübergänge und erheben dort Zölle. Sie haben sich ihr Stück vom Kuchen geholt. Und manche von ihnen sind ideologisch wie politisch eng mit dem Iran verbandelt.
Die Iraker spüren in ihrem Alltag nicht viel von der Erholung, die jetzt nach dem Sieg gegen den IS gerne beschworen wird. Das Leben bleibt mühselig: Die Regierung schafft es nicht einmal, die Versorgung mit Strom und Wasser richtig sicherzustellen. Jobs gibt es viel zu wenige, und sie sind schlecht bezahlt. Umweltschutz ist praktisch inexistent. Den beiden Flüssen Euphrat und Tigris, die sich als Lebensadern durch das trockene und heisse Land ziehen, drohen Austrocknung und Versalzung.
Die Korruption ist in all den Jahrzehnten des Krieges, der Wirtschaftsblockaden, der Klientelpolitik und der militärischen Interventionen im ölreichen Irak zu einem unübersichtlichen, das ganze Land durchdringenden Geflecht gewuchert. Traditionell hat sich der Irak wie die meisten Staaten der Region die Loyalität der Bevölkerung mit der Vergabe von Beamtenstellen statt mit echter Partizipation gesichert. Und weil es kaum eine produktive Wirtschaft gibt, sehen viele in einer Beamtenstelle die einzige Möglichkeit für ein Auskommen. Doch Beamtenstellen werden im irakischen System von den Parteien und Politikern an ihre Anhänger und Klientel vergeben, was zu einem extrem ineffizienten, aufgeblasenen Staatsapparat geführt hat. 2003 waren etwa 1,2 Millionen Iraker Beamte; 2015 bezogen insgesamt 7 Millionen staatliche Gehälter. Für die grosse Mehrheit gibt es kaum Perspektiven, auf denen man ein Leben aufbauen könnte.
«Heute gerade streiken die Ärzte für bessere Arbeitsbedingungen», sagt Ali Sahib. «Die Ärzte! Was sollen denn die einfachen Leute sagen?» Sahib ist Direktor des Iraqi Social Forum, einer Nichtregierungsorganisation, die als eine Art Dach funktioniert, unter dem Aktivistinnen aus verschiedenen Bereichen zusammenarbeiten. Ein Beispiel dafür ist die Organisation «Sport gegen Gewalt», die Dialog und Frieden mit Sport fördern will und jedes Jahr einen Marathon für den Frieden organisiert. Das Forum, das 2013 gegründet wurde, hat ein nationales Netzwerk geschaffen, um gesellschaftliche Themen gemeinsam anzugehen: Wasserschutz, Meinungsfreiheit, soziale und wirtschaftliche Rechte, Frauenrechte und Rechte von Minderheiten.
Immer dann, wenn die Regierung sich wirklich bewegen und Massnahmen ergreifen müsste, werde es schwierig, sagt Ali Sahib. Ein Anlass wie der Marathon in Bagdad sei einfach, «das gibt ein schönes Bild nach aussen und kostet die Regierung nichts». Aber die Verbesserung der Wirtschaftslage und Reformen im Arbeitsmarkt seien heikle Themen. «Wir importieren alles», ruft Ali Sahib aus, und streckt die Arme in einer ausladenden Geste aus. «In diesem Büro ist nichts irakisch, kein Stuhl, kein Gerät, kein Kugelschreiber. Alles wird importiert und ist deshalb teuer, die Händler und Profiteure sitzen im Parlament und in der Regierung, sie haben sich gut eingerichtet und haben kein Interesse an einer produktiven Wirtschaft im Land.»
«Ahnungslose und Analphabeten»
Wenige Tage bevor in Bagdad und in anderen Städten des Landes eine neue Protestwelle beginnt, treffen sich die Mächtigen des Landes im Fünfsternhotel Babylon am Ufer des Tigris. Unter dem Motto «Der Irak erholt sich» findet ein mehrtägiges Forum zu Sicherheit und Wirtschaft statt. Am Abend wird der Parlamentspräsident den Anlass eröffnen, Botschafter westlicher Staaten sind mit ihren Bodyguards angereist.
«Das Sicherheitsempfinden ist das Einzige, was sich verbessert hat. Aber sogar das ist in manchen Gegenden rückläufig», sagt Munqith Dagher und lehnt sich im Lederfauteuil in der Lobby des Babylon zurück. Dagher, ein quirliger Mann um die sechzig mit wachen dunklen Augen und einem Schnurrbärtchen, strahlt mit seinem violetten Jackett eine dezente Extravaganz aus. Nicht dass er seinem Land die Erholung nicht wünschen würde. Aber seine Zahlen erzählen etwas anderes.
Munqith Dagher ist ein renommierter Meinungsforscher, seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 untersucht er die Stimmungslage im Irak. Je nach Auftrag schickt er bis zu 300 Interviewer in alle Landesteile hinaus. Er gehört zum internationalen Netzwerk von Gallup, forscht für grosse NGOs. Und periodisch erhebt er die Zufriedenheit der Menschen mit der Regierung.
Es gebe eine gute Nachricht, sagt Dagher: «Der Sektarismus schwindet.» Die Strategie, Ressentiments, Ängste und Differenzen zwischen verschiedenen Religionsgemeinschaften zu schüren und für politische Ziele auszunutzen, verfange immer weniger. Ansonsten aber habe das Land einen Tiefpunkt erreicht. «Neue Konfliktlinien treten auf, wir sehen mehr Regionalismus, es gibt laute Rufe nach einem stärkeren Föderalismus.» Das soziale Kapital sei erodiert, 90 Prozent der Menschen im Land trauten niemandem – und schon gar nicht der Regierung. Das liege vor allem an der hohen Arbeitslosigkeit, den schlechten öffentlichen Dienstleistungen und an der Korruption.
Die öffentliche Meinung dazu, sagt Munqith Dagher, zeige ein ähnliches Bild wie 2014, kurz bevor der IS aufkam. Genau wie damals seien zwar die meisten Leute dem IS gegenüber negativ eingestellt, doch die Entfremdung der Bevölkerung von ihren Eliten könne leicht ausgenutzt werden: «Wenn die Menschen das Gefühl haben, sie würden von den Marionetten des Iran regiert, dann ist es einfach, sie zum Widerstand aufzurufen.»
Die Irakerinnen und Iraker hätten genug, «sie sehen keine Verbesserungen». Die Regierung werde sich bald mit vielen Problemen konfrontiert sehen, sagt Dagher. Von der Machtelite erwartet der Meinungsforscher nicht viel. Das Land werde nach alter Schule regiert, was so viel heisst wie: «Sie denken, sie wissen alles. Und vor allem, was für die Bevölkerung am besten ist.» Dagher sagt, er habe Ministerpräsident Adil Abdul-Mahdi seine Dienste gratis angeboten, wie auch schon dessen Amtsvorgängern. Immer habe man ihm zu verstehen gegeben, dass man nicht viel davon halte, Ahnungslose und Analphabeten zu befragen. «Nur vor den Wahlen kommen sie und wollen wissen, wie es um ihre Popularität steht.»
Alter Kitt und neue Spaltung
Natürlich gibt es auch in der politischen Elite Menschen, die sehen, dass sich etwas ändern muss. Die verstehen, was die Menschen bewegt, oder besser gesagt: sie daran hindert, sich zu bewegen.
Bei einem Kreisverkehr im Viertel al-Jadriya sitzen ein paar Bewaffnete in Zivilkleidern im Schatten eines kleinen Wachhäuschens. Ein kurzer Funkspruch, und wenige Minuten später kommt ein Wagen, der uns in den weitläufigen Komplex der Präsidentschaft der Republik bringt. Vor dem Eingang eines kleinen Palastes stehen Wachen in weisser Paradeuniform auf beiden Seiten des roten Teppichs. «Hallo, ich bin Maysoon», sagt Maysoon al-Damlouji, als sie uns in ihrem Büro im oberen Stockwerk des Prachtbaus begrüsst. Ihre Stimme ist tief und wohlig rauchig, und sie zündet sich auch schon nach wenigen Minuten eine Zigarette an.
Damlouji, eine ruhige Endfünfzigerin mit blondiertem Kurzhaarschnitt, gehört zu den profiliertesten liberalen Politikern des Landes. 1981, als sie knapp zwanzig war, floh ihre Familie vor dem Baath-Regime nach London. Als Saddam Hussein stürzte, kehrte Damlouji zurück – wie viele von denen, die heute an der Macht sind. Von 2006 bis 2018 sass sie im Parlament, jetzt ist sie Beraterin des Präsidenten für kulturelle Angelegenheiten.
Ihr Interesse gilt den Frauenrechten, aber vor allem auch der Kulturpolitik und dem reichen Kulturerbe des Irak, von dem vieles in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten zerstört wurde. Nicht nur der vielen Kriege wegen, sondern auch durch Vernachlässigung.
«Den Menschen fehlt das Bewusstsein dafür, was Kulturerbe bedeutet. Die islamische Geschichte spaltet die Menschen», spielt Damlouji auf den Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten an. «Das präislamische Erbe hingegen ist eine Art Kitt, es bringt die Menschen zusammen.»
So wie der Kampf gegen den IS die Menschen zusammengebracht habe. «Das Blut, das in diesem Krieg floss, ist gemischt», zitiert Damlouji den irakischen Volksmund. Wie der Meinungsforscher Dagher sieht auch Damlouji den Sektarismus so gut wie am Ende. An seine Stelle sei eine neue, vertikale Spaltung getreten: zwischen jenen, die sich an den grossen, einflussreichen Nachbarn Iran anlehnen, und jenen, die einen eigenständigen, souveränen Irak wollen. Der Graben verlaufe durch alle Bevölkerungsgruppen im Land, Schiiten, Sunniten und Kurden.
«Der Iran würde uns gerne kontrollieren, aber der Irak ist schwer zu schlucken», sagt Damlouji und lacht heiser. «Von aussen sieht das stereotyp und abstrakt aus, aber wenn man hier lebt, sieht man, dass es anders ist.» Wenige Tage vor unserem Gespräch mit Maysoon al-Damlouji wurde Abdel-Wahab al-Saadi, ein populärer Offizier der irakischen Armee, von seiner Position als stellvertretender Kommandant der Anti-Terror-Einheit versetzt. Saadi geniesst in der Bevölkerung wegen seiner Rolle im Kampf gegen den IS einen heldenähnlichen Status und gilt als integre Figur, die bei allen Bevölkerungsgruppen Vertrauen geniesst.
Viele sahen seine Versetzung gemeinhin als Kniefall der Regierung vor dem Iran. Die Kritik daran, die sich zunächst in den sozialen Netzwerken entlud, schürte den Volkszorn im Vorfeld der Proteste weiter. «Es geht nicht um die Person Saadi», sagt Maysoon al-Damlouji. «Sondern um die Idee, dass er das Beste der Iraker repräsentiert, dass er ein Symbol des souveränen Irak ist.»
Die Mächtigen sind verängstigt
Als wir bei Maysoon al-Damlouji im Palast sitzen, haben die Proteste noch nicht begonnen. Aber sie liegen bereits in der Luft. Weil Damlouji viel über die jungen Menschen im Land spricht, fragen wir sie: Welche Möglichkeiten haben die jungen Irakerinnen und Iraker, um etwas im Land zu verändern? Haben sie überhaupt eine Chance? «Natürlich, warum sollten sie keine haben?», fragt Damlouji zurück.
«Ich habe vollstes Vertrauen in die junge Generation.»
Dann senkt Maysoon al-Damlouji die Stimme ein wenig, blickt streng über den Rand ihrer Brille und sagt: «Die konservativen Kräfte vertreten ein gewisses Gesellschaftsbild, okay? Und dann gehen junge Frauen auf eine Velotour an der Uferpromenade des Tigris, und das alles bricht zusammen. Es bewegt sich etwas.» Natürlich brauchten die Jugend auch Unterstützung auf der politischen Ebene. Und natürlich würden regressive Kräfte versuchen, sie zu stoppen. Die alten Mächtigen seien verunsichert und verängstigt. «Es wird nicht leicht, aber es passiert hier und jetzt», sagt Damlouji eindringlich.
Neulich habe sie zum Beispiel Kunststudenten getroffen, die meisten von ihnen waren arm und stammten aus den Vororten. «Das sind die Leute, deren Verwandte verletzt oder getötet wurden in den Kriegen. Sie wollen in Frieden leben. Sie wollen nicht in einen weiteren Krieg gezogen werden, mit dem sie nichts zu tun haben.»
«Es gibt nur noch Arm und Reich»
Sadr City ist einer dieser Vororte. «Hier wohnen die armen Leute», stellt Jalil al-Darraji sein Viertel vor. Das Jahr über verkauft er Fruchtsäfte in seinem Laden im Markt von Sadr City, doch jetzt, im heiligen Monat Muharram, macht er sein Geschäft mit Devotionalien, die gläubige Schiiten in dieser Zeit für kleinere und grössere Pilgerreisen erstehen: rote, grüne und schwarze Schals, Armbänder, Handgelenkstulpen, auf denen etwa der Name Husseins steht, des Sohns von Imam Ali. Oder die Zahl 313 – so viele Krieger sollen den Mahdi, den schiitischen Messias, begleiten, wenn er dereinst auf die Erde zurückkehrt. Früher habe es im Irak verschiedene Gesellschaftsschichten gegeben, aber das Sanktionsregime habe diese geschliffen. «Jetzt gibt es nur noch Arm und Reich», sagt Darraji. «Und im Krieg leiden immer die Armen. Hier in Sadr City hat jede Familie einen Sohn verloren.»
«Schichten?», wirft eine Frau ein, die das Angebot an Darrajis Stand durchstöbert. «Hier gibt es nur eine Schicht. Wir sind alle müde, und Fleisch gibt es nur im Muharram.» Dann kauft sie für einen oder zwei Dollar ein paar Stofffähnchen und verschwindet in der Menge.
Ihr Viertel, Sadr City, wurde Ende der 1950er-Jahre am Reissbrett entworfen, um die grosse Zahl von Landflüchtigen aus dem Süden des Irak aufzunehmen, die sich in Slums in der Hauptstadt angesiedelt hatten. Heute leben rund 2 Millionen Menschen in dem Stadtteil. Hierher, so heisst es in der Stadt, kommt man, um sein Auto billig reparieren zu lassen. Oder um gefälschte Dokumente und Waffen zu kaufen. So viel zum Ruf von Sadr City.
«Warum haben wir keinen Strom? Wir zahlen 120 Dollar pro Monat, und dafür kriegen wir eine Stunde Strom und drei Stunden Ausfall. Der Staat tut nichts», echauffiert sich Jalil al-Darraji an seinem Stand.
Und erklärt dann, dass man sich halt selber helfe: «Wir sammeln Geld für Bedürftige hier, im Gegensatz zu den Reichen kümmern wir uns umeinander.» Und man sammle auch Geld für die Milizen der Hashd al-Shaabi. «Sie beschützen uns und sind arme Leute wie wir.»
Wenn man entlang der zentralen Fellah-Strasse die rechteckig angelegten Wohnquartiere abfährt, macht alles einen entspannten Eindruck. Ein- und zweistöckige Gebäude säumen die breite Strasse, die in der Mitte von einem breiten Streifen mit Bäumen getrennt wird. Bei den Fassaden wechseln sich gelber Sandstein und unverputzte rote Ziegel mit Wellblech, Metallgittern und hier und dort Keramikplatten ab. Sadr City ist so gebaut, dass es die Atmosphäre eines Dorfes hat. Wild wuchernde Bündel und Netze von Stromkabeln baumeln zwischen den Häusern und Strommasten; ein Anblick, den man auch aus besser situierten Stadtvierteln kennt, und vielleicht das augenscheinlichste Abbild vom desolaten Zustand der Infrastruktur im Land.
Zwischen den Autos kurven Tuktuks herum, jene dreirädrigen Rikschas, die man aus Asien kennt. Sie sind das neue Fortbewegungsmittel jener, die sich kein Taxi leisten können. Viele junge Männer, die sonst keinen Job fanden, sind Tuktuk-Fahrer geworden. Nur Wochen später sollen sie zu den gefeierten Helden der Protestbewegung werden: Weil die Krankenwagen fehlen, retten sie mit halsbrecherischen Manövern verletzte Demonstranten aus dem Tränengasnebel und dem Kugelhagel.
Doch noch ist alles ruhig. Ein Müllauto ist unterwegs und sammelt Müll ein. Trotzdem liegt überall Abfall im Strassengraben, sammelt sich an Zäunen, Gittertoren und Randsteinen. Ganz hinten, in jenem Teil, den sie Block Zero nennen und der ursprünglich nicht einmal zu Sadr City gehörte, türmt sich ein schwarzes Gemisch aus Bauschutt und Abfall mauerhoch die Strasse entlang. Von der Hauptverkehrsachse weg führen rechtwinklig die Gassen in die Quartiere. An einer dieser Wohnstrassen kommen wir mit einem grossen, kräftigen Mann ins Gespräch, der in Plastiklatschen und Trainerhose herumsteht.
Der Mann, der als Elektriker arbeitet, war während des Kampfes gegen den IS für eine Reserveeinheit verantwortlich. Nach einigen Anrufen bei den Chefs der Sadr-Miliz Saraya al-Salam erklärt er sich bereit zu reden. «Wenn sie uns von der Front anriefen und sagten, dass sie uns brauchen, dann liessen wir sofort alles liegen und fuhren los», erzählt er. Gemäss seinen Angaben wurden er und seine Männer vor allem im Gebiet um die Stadt Samarra eingesetzt, wo sie die beiden für Schiiten wichtigen Schreine schützten.
Die Retter werden zum Krebsgeschwür
Saraya al-Salam ist die Miliz, die zur Bewegung des Klerikers Muqtada al-Sadr gehört. Sadr ist eine der einflussreichsten Figuren im Irak, wie schon sein Vater, nach dem der Vorort benannt ist. Bei den letzten Wahlen im vergangenen Jahr machte sein Bündnis die meisten Stimmen. Sadr war in den Nullerjahren der Anführer eines Aufstands gegen die US-Besatzung, er kritisiert aber auch offen den iranischen Einfluss im Irak. Seine Rhetorik ist betont nationalistisch und volksnah. Er holt damit die ärmeren Schichten unter den Schiiten des Irak ab. Leute, wie sie in Sadr City leben.
Der Elektriker, der in Sadr City auf einer Matte am Boden seines kleinen Empfangsraumes sitzt, ist wie seine Mitstreiter zum alten Leben und zum alten Beruf zurückgekehrt. Doch wenn erneut Gefahr drohe, werde man wieder zu den Waffen greifen, sagt der Mann. In Sadr City gebe es über eine Million junge Männer. «Da sind die 13’000, die bei Saraya al-Salam kämpfen, nur ein kleiner Teil davon.»
Zurück auf dem Markt von Sadr City. Osamah sitzt in seinem grossen, hell beleuchteten Ladenlokal. Der Boden ist weiss gefliest, an den Wänden angelehnt stehen Dutzende Stoffrollen in allen Farben. In der Ecke neben Osamah steht auf einem Tischchen eine Nähmaschine, mit der er die Stoffe nach den Wünschen seiner Kunden konfektioniert. Vor ihm haben sein Vater und sein Grossvater den Laden geführt, doch das Geschäft harzt. Osamah will nichts beschönigen, um rund 70 Prozent sei sein Umsatz in den vergangenen Monaten eingebrochen, sagt er. «Die Sicherheitslage ist zwar besser, aber im ganzen Land haben die Leute keine Arbeit. Der Krieg hat alles aufgefressen.»
Dann bringt er das zwiespältige Verhältnis vieler Menschen hier zu den Hashd, den Milizen der Volksmobilisierung, auf den Punkt: «Sie haben das Land befreit und viel geopfert. Doch jetzt breiten sie sich aus wie ein Krebsgeschwür.» Die Waffen seien aus der Öffentlichkeit verschwunden, die Milizen seien zu Investoren geworden. «Sie besitzen Land im Wert von Milliarden, sie sind im Immobiliengeschäft, in der Prostitution, im Glücksspiel, betreiben Hotels und Shoppingmalls.» Und doch will der Stoffhändler die Hoffnung nicht aufgeben: «Bisher ging es immer um Schiiten gegen Sunniten. Jetzt sehen wir, wer gut ist und wer nicht. Wir sind jetzt in einer Phase, wo es chaotisch wird, aber danach wird es hoffentlich besser.»
Aufstehen für die Hoffnung
Vor Osamahs Laden hat eine alte Frau ihren kleinen Stand aufgebaut. Sie ist wie alle Frauen hier ganz in Schwarz gekleidet, im Gesicht und auf den Händen hat sie feine, ausgebleichte Stammestätowierungen. Wie alt sie ist, weiss sie nicht. Mit ihrem Mann, einem Soldaten der irakischen Armee, habe sie in Habbaniyya gelebt, als die Briten dort ihren Luftwaffenstützpunkt hatten. Der wurde 1959 aufgegeben, sie dürfte also mindestens achtzig sein. Seit vier Tagen verkauft sie nun hier auf dem Markt Räucherstäbchen und Seifen, Scheren, kleine Spiegel und Bimssteine für die Fusspflege. Ihr Sohn habe bei einem Unfall einen Finger verloren, deshalb müsse sie arbeiten. «Das Leben ist immer schlechter geworden», sagt sie, «jetzt ist es ruiniert.»
Ein Stück weiter fährt ein junger Mann mit aufwendig frisiertem Haar gerade den Rollladen des Geschäfts hoch, in dem er arbeitet. Eigentlich ist er ausgebildeter Englischlehrer, aber weil er keine Stelle findet, verkauft er halt Frauenkleider. «Wir sind hier im Irak», sagt er lakonisch, «alle müssen sich irgendwie durchschlagen.» Das Land sei ja eigentlich reich, aber die Elite unfähig: «Sie sind wie Tiere. Wenn sie etwas sehen, dann fressen sie es, bis sie nicht mehr können.» Das werde sich erst ändern, wenn die Leute ihre Lethargie überwänden. «Ich habe Hoffnung», sagt er, «aber erst, wenn das Volk aufsteht.»
Diese Reportage wurde aus dem Rechercheetat der Project R Genossenschaft realisiert.
Die Arabistin Monika Bolliger arbeitet als Analystin und Forscherin in Beirut und Zürich. Zuvor war sie als Nahostkorrespondentin der NZZ in Jerusalem, Kairo und Beirut tätig. Amir Ali, der ebenfalls fliessend Arabisch spricht, war fünf Jahre Co-Leiter des Strassenmagazins «Surprise». Seit diesem Sommer ist er als freier Journalist tätig, der Schwerpunkt seines Interesses gilt den Ländern im Nahen Osten.
Der kurdische Fotojournalist Hawre Khalid wurde 1987 im irakischen Kirkuk geboren und war viermal in seinem Leben ein Flüchtling. Mit seinen Bildern zeigt er die normalerweise nicht sichtbaren Momente von Menschen in Kriegszeiten. Seine Arbeiten erschienen in internationalen Publikationen wie «Times Magazine», «New York Times», «Washington Post», «Le Monde», «Der Spiegel» oder «National Geographic» und wurden weltweit ausgestellt.