Reise in die arabische Welt – Folge 1

Sie spüren noch wenig vom besseren Leben in Friedenszeiten: Iraker auf dem Fischmarkt des Bagdader Armenviertels Sadr City.

Der Krieg ist vorbei, die Revolution beginnt

Nach Jahrzehnten des Blut­vergiessens öffnete sich im Irak ein Zeitfenster, um dieses geschundene Land aufzuräumen. Doch die Politiker haben ihre Chance nicht genutzt – jetzt ist ein blutiger Volks­aufstand ausgebrochen. Denn von der Erholung spüren die meisten Menschen nichts. Und sie lassen sich nicht mehr gegeneinander ausspielen, sondern wenden sich gegen ihre eigenen Eliten. Das Land ist an einem Tiefpunkt – und vielleicht liegt dort neue Hoffnung.

Von Amir Ali, Monika Bolliger (Text) und Hawre Khalid (Bilder), 29.11.2019

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Vorgelesen von Patrick Venetz
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Plötzlich klappt ein junger Mann zusammen, seine Beine geben nach, als wären sie aus Gummi. Doch er fällt nicht zu Boden, dafür ist das Gedränge in der engen Gasse des Souks in Bagdads Altstadt zu gross. Es ist ein Freitag­vormittag Ende September, das Thermometer steht bereits bei über dreissig Grad. «Die Hitze, er erträgt die Hitze nicht», schreit einer der fünf oder sechs Männer, die den Ohnmächtigen sofort aufgefangen und in eine Ecke gezogen haben. «Wahrscheinlich hat er nichts gegessen», mutmasst ein anderer.

Rasch wird aus den Stühlen eines kleinen Imbiss­restaurants eine Liege improvisiert, einer holt Salz von einem Tisch, Wasser­flaschen werden gereicht. Schon bald kommt der Junge wieder zu Bewusstsein. «Nein, nein, du bleibst schön noch etwas liegen», mahnen ihn seine spontanen Helfer.

Als klar ist, dass der Schwäche­anfall nichts Ernstes war, macht man auch schon wieder Witze. Die Stimmung ist aufgeräumt, und in der Marktgasse schieben sich die Menschen wieder schwitzend aneinander vorbei. Viele Väter sind mit ihren Kindern unterwegs, um Schul­rucksäcke, Hefte und Stifte zu kaufen. Um die Ecke ist die Rashid-Strasse, Bagdads einstige Prachts­meile, von der man in die Mutanabbi-Strasse abzweigt. Dort, wo bereits zur Zeit der Abbasiden-Kalifen ein Bücher­markt entstand, reiht sich bis heute Buch­handlung an Buch­handlung. Von den Grill­ständen duftet es würzig nach Fleisch, in und vor den vereinzelten Cafés sitzen Männer, die rauchen und diskutieren. Beim legendären Fruchtsaft­laden von Hajj Zabaleh drängen sich die Kunden, um für wenig Geld ein Glas des süssen, roten Trauben­saftes zu trinken.

Die Geschäfte laufen schlecht, Armut ist weit verbreitet: Unterwäscheverkäuferin in Sadr City.

Das friedliche Treiben mit der Atmosphäre eines Volksfests steht in krassem Gegensatz zu den Szenen, die sich nur wenige Tage später auf den Strassen und Plätzen Bagdads abspielen.

Schon länger sprachen die Leute von einem Aufruf zum Protest, der in den sozialen Netzwerken kursiere. Niemand konnte genau sagen, von wem er ausging, keine etablierte Partei oder Organisation schien dahinter­zustehen. Die Proteste, die am 1. Oktober begonnen haben und bis heute anhalten, haben keine klare Führungs­struktur und richten sich gegen alle politischen Parteien. Die Gewalt eskalierte blitzschnell. Die Regierung blockierte das Internet, die Sicherheits­kräfte setzten scharfe Munition ein. Protestierende errichteten Barrikaden aus brennenden Reifen, Randalierer zündeten Regierungs­gebäude und Büros politischer Parteien an.

Der letzte friedliche Freitag

«Sie haben Scharfschützen», erzählte uns später am Telefon Mohammed aus Sadr City, einem armen Viertel im Osten von Bagdad. «Ich sah mit eigenen Augen, wie junge Männer niedergestreckt wurden, während sie die irakische Flagge hielten. Ich bin schockiert. Sie haben junge Männer in der Blüte ihres Alters erschossen.»

Innert kürzester Zeit schnellte die Zahl der Toten und Verletzten in die Höhe, während der Irak von der Aussen­welt abgeschnitten war. Bis heute hat die «Revolution des 1. Tishreen», wie die Bewegung ihre Protest­welle in Anlehnung an das Datum der ersten Demonstration nennt, über 300 Todes­opfer gefordert, Tausende wurden verletzt.

Die Eskalation kann schnell gefährlich werden in einem Land, das anfällig für das Austragen geopolitischer Macht­kämpfe der Region ist, einem Land, wo Tausende Milizen mit den Sicherheits­kräften koexistieren und manchmal rivalisieren.

Das Leben bleibt mühselig, es gib zu wenig Jobs, und sie sind schlecht bezahlt: Metzgerei in Sadr City.

An diesem letzten friedlichen Freitag liegt der Protest in den Strassen rund um den Bücher­markt an der Mutanabbi-Strasse kaum wahrnehmbar in der Luft. Am Rand einer Gasse, die vom Tigris hoch in den Markt führt, hält ein Mann mit langem Haar schweigend ein Plakat vor sich, das die Regierung und die herrschende Klasse kritisiert. Ansonsten gehts entspannt zu und her.

Ein paar Strassen weiter, unten am Fluss, liegt die Qishleh, ein Bau aus osmanischer Zeit. Hier, im Hof neben dem berühmten Uhrturm, wurde 1921 König Faisal gekrönt. Später diente die Qishleh als Regierungs­gebäude, heute ist sie ein Kultur­zentrum. Junge Männer und Frauen, Alte und Familien tummeln sich auf der Wiese, streifen durch die Hallen, wo Künstler Bilder ausstellen. Ein Kalligraf malt in wenigen Minuten den Namen seiner Kunden mit Tusche in kunstvoller Schrift. Daneben kann man sich in einem Bühnen­bild der Euphrat-Sümpfe in ein Boot stellen und Fotos machen.

Draussen in einem Pavillon hält ein Mann um die fünfzig eine spontane Vorlesung zum Unterschied zwischen Philosophie und Epistemologie ab, rund zwei Dutzend Zuhörer folgen ihm, die einen rufen Fragen und Einwände dazwischen, andere machen eher verständnislose Gesichter. In einer Ecke des Parks steht ein Tisch, wo Kranken­schwestern kostenlos den Blutdruck messen. Weiter unten am Fluss unter einem Baum drängt sich eine Menge um eine kleine Bühne für Dichter. Ein alter Mann in khaki­farbenem Anzug und mit Kufija löst hier gerade eine jüngere Frau mit violettem Kopftuch beim Rezitieren von Poesie ab. Die Zuhörerinnen applaudieren, recken Hände mit Mobil­telefonen in die Höhe, um ein Foto zu machen oder die Dichter beim Rezitieren zu filmen.

Reise in die arabische Welt

Diese Serie entstand aus drei Recherchereisen, zu der die Republik-Reporter Amir Ali und Monika Bolliger Ende August aufbrachen. Sie reisten vom Libanon nach Ägypten, in den Sudan und in den Irak und sind der Frage nachgegangen: Was haben die Menschen in der arabischen Welt heute für Perspektiven, bald neun Jahre nach dem arabischen Frühling? Zur Übersicht mit allen Episoden.

Bagdad ist voller Leben, voller Lachen. Nach Jahren des Krieges ist das Viertel rund um den Bücher­markt an der Mutanabbi-Strasse einer der Orte, wo dies am augen­fälligsten ist. Nur ein Zelt aus Militär­planen, das auf der Wiese in der Qishleh steht, erinnert daran, wie fragil das alles ist. «Museum der Hashd al-Shaabi», steht darauf. Die Milizen, die sich 2014 für den Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) gebildet haben, sind auch an diesem Ort der gelassenen Normalität präsent.

Die Wende ist eingeläutet

Der IS ist zurückgedrängt, die Sicherheit in den meisten Teilen des Landes weitgehend wieder­hergestellt. In der Hauptstadt Bagdad wurden seither nach und nach die Bomben­schutz­mauern abgebaut, die sich jahrelang durch die Stadt zogen und die Verkehrs­wege zerschnitten. Manche der Checkpoints, an denen man früher ständig kontrolliert und gegängelt wurde, sind zwar noch da, mitsamt den schwer bewaffneten Polizisten und Soldaten, doch meist wird man einfach durchgewinkt.

Der Sieg gegen den IS hat im Irak ohne Zweifel eine Wende eingeläutet. Jahrzehntelang war das Land vom Blut­vergiessen geprägt: In den 1980ern herrschten acht Jahre lang Krieg mit dem Nachbar­land Iran, 1991 folgte der Zweite Golfkrieg. 2003, nach dem Sturz von Saddam Husseins Baath-Diktatur, ging zuerst der Aufstand gegen die amerikanische Besatzung los, und wenig später brach der Bürgerkrieg aus. Und dann kam der IS, eroberte Gebiete im Norden und Westen des Landes, bis die Krieger des selbst ernannten Kalifen wenige Kilometer vor Bagdad standen.

Hunderttausende Kämpfer und Zivilisten starben, jetzt herrscht zum ersten Mal seit langem relative Ruhe. Man könnte dies als Zeitfenster sehen, um das Land aufzuräumen, tief greifende Missstände beheben zu können. Dinge, die im Krieg nicht möglich sind, weil man mit dem Überleben beschäftigt ist und weil die Regierung in Kriegs­zeiten interne Probleme mit Verweis auf externe Bedrohungen auf die lange Bank schieben kann. Und weil im Krieg immer jene mit den meisten Waffen und den wenigsten Skrupeln das Sagen haben. Die Frage ist, wie viel sich daran überhaupt geändert hat. Wie sehr der Krieg hier noch den Ton angibt, auch wenn es stiller geworden ist.

Der Sieg gegen den IS, darin sind sich alle einig, ist zu einem grossen Teil den Einheiten der Hashd al-Shaabi zu verdanken, der «Volksmobilmachung».

Geflecht der Korruption

Als der oberste schiitische Kleriker im Irak, Gross­ayatollah Ali al-Sistani, 2014 die Bürger dazu aufrief, sich den Sicherheits­kräften anzuschliessen und das Land gegen den vorrückenden IS zu verteidigen, folgten Zehntausende dieser Fatwa. So formierten sich die mehrheitlich schiitisch geprägten Milizen, die sich unter dem Dach­verband der Hashd al-Shaabi zusammen­schlossen und mit iranischer Unterstützung gegen den IS kämpften.

Die Hashd wuchsen zu einer weit stärkeren und eigenmächtigeren Kraft heran, als Grossayatollah Sistani sich dies augenscheinlich vorgestellt hatte. Mittlerweile laufen Bestrebungen, die Milizen der Kontrolle der Regierung zu unterstellen. Doch sie sind zur Macht im Staat geworden: Ihre Vertreter sitzen im Parlament, und sie dringen immer stärker in die Wirtschaft ein, bauen Hotels und Wohnungen, importieren Klima­anlagen, betreiben Land­wirtschaft, sind im Zement­handel, kontrollieren Grenz­übergänge und erheben dort Zölle. Sie haben sich ihr Stück vom Kuchen geholt. Und manche von ihnen sind ideologisch wie politisch eng mit dem Iran verbandelt.

Zwei Begegnungen im Irak

Labib Kashef al Ghita

Start-up-Gründer

Baraa Mahmoud

Peace-Marathon-Organisatorin

Die Iraker spüren in ihrem Alltag nicht viel von der Erholung, die jetzt nach dem Sieg gegen den IS gerne beschworen wird. Das Leben bleibt mühselig: Die Regierung schafft es nicht einmal, die Versorgung mit Strom und Wasser richtig sicherzustellen. Jobs gibt es viel zu wenige, und sie sind schlecht bezahlt. Umwelt­schutz ist praktisch inexistent. Den beiden Flüssen Euphrat und Tigris, die sich als Lebens­adern durch das trockene und heisse Land ziehen, drohen Austrocknung und Versalzung.

Die Korruption ist in all den Jahr­zehnten des Krieges, der Wirtschafts­blockaden, der Klientel­politik und der militärischen Interventionen im ölreichen Irak zu einem unübersichtlichen, das ganze Land durchdringenden Geflecht gewuchert. Traditionell hat sich der Irak wie die meisten Staaten der Region die Loyalität der Bevölkerung mit der Vergabe von Beamten­stellen statt mit echter Partizipation gesichert. Und weil es kaum eine produktive Wirtschaft gibt, sehen viele in einer Beamten­stelle die einzige Möglichkeit für ein Auskommen. Doch Beamten­stellen werden im irakischen System von den Parteien und Politikern an ihre Anhänger und Klientel vergeben, was zu einem extrem ineffizienten, aufgeblasenen Staats­apparat geführt hat. 2003 waren etwa 1,2 Millionen Iraker Beamte; 2015 bezogen insgesamt 7 Millionen staatliche Gehälter. Für die grosse Mehrheit gibt es kaum Perspektiven, auf denen man ein Leben aufbauen könnte.

«Heute gerade streiken die Ärzte für bessere Arbeits­bedingungen», sagt Ali Sahib. «Die Ärzte! Was sollen denn die einfachen Leute sagen?» Sahib ist Direktor des Iraqi Social Forum, einer Nicht­regierungs­organisation, die als eine Art Dach funktioniert, unter dem Aktivistinnen aus verschiedenen Bereichen zusammen­arbeiten. Ein Beispiel dafür ist die Organisation «Sport gegen Gewalt», die Dialog und Frieden mit Sport fördern will und jedes Jahr einen Marathon für den Frieden organisiert. Das Forum, das 2013 gegründet wurde, hat ein nationales Netzwerk geschaffen, um gesellschaftliche Themen gemeinsam anzugehen: Wasser­schutz, Meinungs­freiheit, soziale und wirtschaftliche Rechte, Frauen­rechte und Rechte von Minderheiten.

«In diesem Büro ist nichts irakisch, kein Stuhl, kein Kugel­schreiber. Wir importieren alles»: Aktivistinnen des Iraqi Social Forum in Bagdad.

Immer dann, wenn die Regierung sich wirklich bewegen und Massnahmen ergreifen müsste, werde es schwierig, sagt Ali Sahib. Ein Anlass wie der Marathon in Bagdad sei einfach, «das gibt ein schönes Bild nach aussen und kostet die Regierung nichts». Aber die Verbesserung der Wirtschafts­lage und Reformen im Arbeits­markt seien heikle Themen. «Wir importieren alles», ruft Ali Sahib aus, und streckt die Arme in einer ausladenden Geste aus. «In diesem Büro ist nichts irakisch, kein Stuhl, kein Gerät, kein Kugel­schreiber. Alles wird importiert und ist deshalb teuer, die Händler und Profiteure sitzen im Parlament und in der Regierung, sie haben sich gut eingerichtet und haben kein Interesse an einer produktiven Wirtschaft im Land.»

«Ahnungslose und Analphabeten»

Wenige Tage bevor in Bagdad und in anderen Städten des Landes eine neue Protest­welle beginnt, treffen sich die Mächtigen des Landes im Fünfstern­hotel Babylon am Ufer des Tigris. Unter dem Motto «Der Irak erholt sich» findet ein mehrtägiges Forum zu Sicherheit und Wirtschaft statt. Am Abend wird der Parlaments­präsident den Anlass eröffnen, Botschafter westlicher Staaten sind mit ihren Bodyguards angereist.

«Das Sicherheits­empfinden ist das Einzige, was sich verbessert hat. Aber sogar das ist in manchen Gegenden rückläufig», sagt Munqith Dagher und lehnt sich im Leder­fauteuil in der Lobby des Babylon zurück. Dagher, ein quirliger Mann um die sechzig mit wachen dunklen Augen und einem Schnurr­bärtchen, strahlt mit seinem violetten Jackett eine dezente Extravaganz aus. Nicht dass er seinem Land die Erholung nicht wünschen würde. Aber seine Zahlen erzählen etwas anderes.

Munqith Dagher ist ein renommierter Meinungs­forscher, seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 untersucht er die Stimmungs­lage im Irak. Je nach Auftrag schickt er bis zu 300 Interviewer in alle Landes­teile hinaus. Er gehört zum internationalen Netzwerk von Gallup, forscht für grosse NGOs. Und periodisch erhebt er die Zufriedenheit der Menschen mit der Regierung.

Es gebe eine gute Nachricht, sagt Dagher: «Der Sektarismus schwindet.» Die Strategie, Ressentiments, Ängste und Differenzen zwischen verschiedenen Religions­gemeinschaften zu schüren und für politische Ziele auszunutzen, verfange immer weniger. Ansonsten aber habe das Land einen Tiefpunkt erreicht. «Neue Konflikt­linien treten auf, wir sehen mehr Regionalismus, es gibt laute Rufe nach einem stärkeren Föderalismus.» Das soziale Kapital sei erodiert, 90 Prozent der Menschen im Land trauten niemandem – und schon gar nicht der Regierung. Das liege vor allem an der hohen Arbeits­losigkeit, den schlechten öffentlichen Dienst­leistungen und an der Korruption.

Die öffentliche Meinung dazu, sagt Munqith Dagher, zeige ein ähnliches Bild wie 2014, kurz bevor der IS aufkam. Genau wie damals seien zwar die meisten Leute dem IS gegenüber negativ eingestellt, doch die Entfremdung der Bevölkerung von ihren Eliten könne leicht ausgenutzt werden: «Wenn die Menschen das Gefühl haben, sie würden von den Marionetten des Iran regiert, dann ist es einfach, sie zum Widerstand aufzurufen.»

Die Irakerinnen und Iraker hätten genug, «sie sehen keine Verbesserungen». Die Regierung werde sich bald mit vielen Problemen konfrontiert sehen, sagt Dagher. Von der Macht­elite erwartet der Meinungs­forscher nicht viel. Das Land werde nach alter Schule regiert, was so viel heisst wie: «Sie denken, sie wissen alles. Und vor allem, was für die Bevölkerung am besten ist.» Dagher sagt, er habe Minister­präsident Adil Abdul-Mahdi seine Dienste gratis angeboten, wie auch schon dessen Amts­vorgängern. Immer habe man ihm zu verstehen gegeben, dass man nicht viel davon halte, Ahnungslose und Analphabeten zu befragen. «Nur vor den Wahlen kommen sie und wollen wissen, wie es um ihre Popularität steht.»

Alter Kitt und neue Spaltung

Natürlich gibt es auch in der politischen Elite Menschen, die sehen, dass sich etwas ändern muss. Die verstehen, was die Menschen bewegt, oder besser gesagt: sie daran hindert, sich zu bewegen.

Bei einem Kreisverkehr im Viertel al-Jadriya sitzen ein paar Bewaffnete in Zivil­kleidern im Schatten eines kleinen Wach­häuschens. Ein kurzer Funk­spruch, und wenige Minuten später kommt ein Wagen, der uns in den weitläufigen Komplex der Präsidentschaft der Republik bringt. Vor dem Eingang eines kleinen Palastes stehen Wachen in weisser Parade­uniform auf beiden Seiten des roten Teppichs. «Hallo, ich bin Maysoon», sagt Maysoon al-Damlouji, als sie uns in ihrem Büro im oberen Stockwerk des Pracht­baus begrüsst. Ihre Stimme ist tief und wohlig rauchig, und sie zündet sich auch schon nach wenigen Minuten eine Zigarette an.

Damlouji, eine ruhige Endfünfzigerin mit blondiertem Kurzhaar­schnitt, gehört zu den profiliertesten liberalen Politikern des Landes. 1981, als sie knapp zwanzig war, floh ihre Familie vor dem Baath-Regime nach London. Als Saddam Hussein stürzte, kehrte Damlouji zurück – wie viele von denen, die heute an der Macht sind. Von 2006 bis 2018 sass sie im Parlament, jetzt ist sie Beraterin des Präsidenten für kulturelle Angelegenheiten.

Ihr Interesse gilt den Frauen­rechten, aber vor allem auch der Kultur­politik und dem reichen Kultur­erbe des Irak, von dem vieles in den vergangenen Jahren und Jahr­zehnten zerstört wurde. Nicht nur der vielen Kriege wegen, sondern auch durch Vernachlässigung.

«Den Menschen fehlt das Bewusstsein dafür, was Kultur­erbe bedeutet. Die islamische Geschichte spaltet die Menschen», spielt Damlouji auf den Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten an. «Das präislamische Erbe hingegen ist eine Art Kitt, es bringt die Menschen zusammen.»

So wie der Kampf gegen den IS die Menschen zusammen­gebracht habe. «Das Blut, das in diesem Krieg floss, ist gemischt», zitiert Damlouji den irakischen Volksmund. Wie der Meinungs­forscher Dagher sieht auch Damlouji den Sektarismus so gut wie am Ende. An seine Stelle sei eine neue, vertikale Spaltung getreten: zwischen jenen, die sich an den grossen, einflussreichen Nachbarn Iran anlehnen, und jenen, die einen eigenständigen, souveränen Irak wollen. Der Graben verlaufe durch alle Bevölkerungs­gruppen im Land, Schiiten, Sunniten und Kurden.

«Der Iran würde uns gerne kontrollieren, aber der Irak ist schwer zu schlucken», sagt Damlouji und lacht heiser. «Von aussen sieht das stereotyp und abstrakt aus, aber wenn man hier lebt, sieht man, dass es anders ist.» Wenige Tage vor unserem Gespräch mit Maysoon al-Damlouji wurde Abdel-Wahab al-Saadi, ein populärer Offizier der irakischen Armee, von seiner Position als stellvertretender Kommandant der Anti-Terror-Einheit versetzt. Saadi geniesst in der Bevölkerung wegen seiner Rolle im Kampf gegen den IS einen helden­ähnlichen Status und gilt als integre Figur, die bei allen Bevölkerungs­gruppen Vertrauen geniesst.

Viele sahen seine Versetzung gemeinhin als Kniefall der Regierung vor dem Iran. Die Kritik daran, die sich zunächst in den sozialen Netzwerken entlud, schürte den Volkszorn im Vorfeld der Proteste weiter. «Es geht nicht um die Person Saadi», sagt Maysoon al-Damlouji. «Sondern um die Idee, dass er das Beste der Iraker repräsentiert, dass er ein Symbol des souveränen Irak ist.»

Die Mächtigen sind verängstigt

Als wir bei Maysoon al-Damlouji im Palast sitzen, haben die Proteste noch nicht begonnen. Aber sie liegen bereits in der Luft. Weil Damlouji viel über die jungen Menschen im Land spricht, fragen wir sie: Welche Möglichkeiten haben die jungen Irakerinnen und Iraker, um etwas im Land zu verändern? Haben sie überhaupt eine Chance? «Natürlich, warum sollten sie keine haben?», fragt Damlouji zurück.

«Ich habe vollstes Vertrauen in die junge Generation.»

Im heiligen Monat Muharram sind überall Devotionalien zu sehen: Bild von schiitischen Imamen an einem Marktstand.

Dann senkt Maysoon al-Damlouji die Stimme ein wenig, blickt streng über den Rand ihrer Brille und sagt: «Die konservativen Kräfte vertreten ein gewisses Gesellschafts­bild, okay? Und dann gehen junge Frauen auf eine Velotour an der Ufer­promenade des Tigris, und das alles bricht zusammen. Es bewegt sich etwas.» Natürlich brauchten die Jugend auch Unterstützung auf der politischen Ebene. Und natürlich würden regressive Kräfte versuchen, sie zu stoppen. Die alten Mächtigen seien verunsichert und verängstigt. «Es wird nicht leicht, aber es passiert hier und jetzt», sagt Damlouji eindringlich.

Neulich habe sie zum Beispiel Kunst­studenten getroffen, die meisten von ihnen waren arm und stammten aus den Vororten. «Das sind die Leute, deren Verwandte verletzt oder getötet wurden in den Kriegen. Sie wollen in Frieden leben. Sie wollen nicht in einen weiteren Krieg gezogen werden, mit dem sie nichts zu tun haben.»

«Es gibt nur noch Arm und Reich»

Sadr City ist einer dieser Vororte. «Hier wohnen die armen Leute», stellt Jalil al-Darraji sein Viertel vor. Das Jahr über verkauft er Frucht­säfte in seinem Laden im Markt von Sadr City, doch jetzt, im heiligen Monat Muharram, macht er sein Geschäft mit Devotionalien, die gläubige Schiiten in dieser Zeit für kleinere und grössere Pilger­reisen erstehen: rote, grüne und schwarze Schals, Armbänder, Handgelenk­stulpen, auf denen etwa der Name Husseins steht, des Sohns von Imam Ali. Oder die Zahl 313 – so viele Krieger sollen den Mahdi, den schiitischen Messias, begleiten, wenn er dereinst auf die Erde zurückkehrt. Früher habe es im Irak verschiedene Gesellschafts­schichten gegeben, aber das Sanktions­regime habe diese geschliffen. «Jetzt gibt es nur noch Arm und Reich», sagt Darraji. «Und im Krieg leiden immer die Armen. Hier in Sadr City hat jede Familie einen Sohn verloren.»

«Im Gegensatz zu den Reichen kümmern wir uns umeinander»: Jalil al-Darraji an seinem Marktstand in Sadr City.

«Schichten?», wirft eine Frau ein, die das Angebot an Darrajis Stand durchstöbert. «Hier gibt es nur eine Schicht. Wir sind alle müde, und Fleisch gibt es nur im Muharram.» Dann kauft sie für einen oder zwei Dollar ein paar Stoff­fähnchen und verschwindet in der Menge.

Ihr Viertel, Sadr City, wurde Ende der 1950er-Jahre am Reissbrett entworfen, um die grosse Zahl von Land­flüchtigen aus dem Süden des Irak aufzunehmen, die sich in Slums in der Hauptstadt angesiedelt hatten. Heute leben rund 2 Millionen Menschen in dem Stadtteil. Hierher, so heisst es in der Stadt, kommt man, um sein Auto billig reparieren zu lassen. Oder um gefälschte Dokumente und Waffen zu kaufen. So viel zum Ruf von Sadr City.

«Warum haben wir keinen Strom? Wir zahlen 120 Dollar pro Monat, und dafür kriegen wir eine Stunde Strom und drei Stunden Ausfall. Der Staat tut nichts», echauffiert sich Jalil al-Darraji an seinem Stand.

Und erklärt dann, dass man sich halt selber helfe: «Wir sammeln Geld für Bedürftige hier, im Gegensatz zu den Reichen kümmern wir uns umeinander.» Und man sammle auch Geld für die Milizen der Hashd al-Shaabi. «Sie beschützen uns und sind arme Leute wie wir.»

Am Reissbrett entworfen und mit der Atmosphäre eines Dorfes: Sadr City wurde gebaut, um Land­flüchtige aus dem Süden aufzunehmen.

Wenn man entlang der zentralen Fellah-Strasse die rechteckig angelegten Wohn­quartiere abfährt, macht alles einen entspannten Eindruck. Ein- und zweistöckige Gebäude säumen die breite Strasse, die in der Mitte von einem breiten Streifen mit Bäumen getrennt wird. Bei den Fassaden wechseln sich gelber Sandstein und unverputzte rote Ziegel mit Wellblech, Metall­gittern und hier und dort Keramik­platten ab. Sadr City ist so gebaut, dass es die Atmosphäre eines Dorfes hat. Wild wuchernde Bündel und Netze von Strom­kabeln baumeln zwischen den Häusern und Strom­masten; ein Anblick, den man auch aus besser situierten Stadt­vierteln kennt, und vielleicht das augenscheinlichste Abbild vom desolaten Zustand der Infrastruktur im Land.

Zwischen den Autos kurven Tuktuks herum, jene dreirädrigen Rikschas, die man aus Asien kennt. Sie sind das neue Fortbewegungs­mittel jener, die sich kein Taxi leisten können. Viele junge Männer, die sonst keinen Job fanden, sind Tuktuk-Fahrer geworden. Nur Wochen später sollen sie zu den gefeierten Helden der Protest­bewegung werden: Weil die Kranken­wagen fehlen, retten sie mit halsbrecherischen Manövern verletzte Demonstranten aus dem Tränengas­nebel und dem Kugelhagel.

Doch noch ist alles ruhig. Ein Müllauto ist unterwegs und sammelt Müll ein. Trotzdem liegt überall Abfall im Strassen­graben, sammelt sich an Zäunen, Gitter­toren und Rand­steinen. Ganz hinten, in jenem Teil, den sie Block Zero nennen und der ursprünglich nicht einmal zu Sadr City gehörte, türmt sich ein schwarzes Gemisch aus Bauschutt und Abfall mauerhoch die Strasse entlang. Von der Hauptverkehrs­achse weg führen rechtwinklig die Gassen in die Quartiere. An einer dieser Wohn­strassen kommen wir mit einem grossen, kräftigen Mann ins Gespräch, der in Plastik­latschen und Trainer­hose herumsteht.

Der Mann, der als Elektriker arbeitet, war während des Kampfes gegen den IS für eine Reserve­einheit verantwortlich. Nach einigen Anrufen bei den Chefs der Sadr-Miliz Saraya al-Salam erklärt er sich bereit zu reden. «Wenn sie uns von der Front anriefen und sagten, dass sie uns brauchen, dann liessen wir sofort alles liegen und fuhren los», erzählt er. Gemäss seinen Angaben wurden er und seine Männer vor allem im Gebiet um die Stadt Samarra eingesetzt, wo sie die beiden für Schiiten wichtigen Schreine schützten.

Die Retter werden zum Krebsgeschwür

Saraya al-Salam ist die Miliz, die zur Bewegung des Klerikers Muqtada al-Sadr gehört. Sadr ist eine der einfluss­reichsten Figuren im Irak, wie schon sein Vater, nach dem der Vorort benannt ist. Bei den letzten Wahlen im vergangenen Jahr machte sein Bündnis die meisten Stimmen. Sadr war in den Nuller­jahren der Anführer eines Aufstands gegen die US-Besatzung, er kritisiert aber auch offen den iranischen Einfluss im Irak. Seine Rhetorik ist betont nationalistisch und volksnah. Er holt damit die ärmeren Schichten unter den Schiiten des Irak ab. Leute, wie sie in Sadr City leben.

Der Elektriker, der in Sadr City auf einer Matte am Boden seines kleinen Empfangs­raumes sitzt, ist wie seine Mitstreiter zum alten Leben und zum alten Beruf zurückgekehrt. Doch wenn erneut Gefahr drohe, werde man wieder zu den Waffen greifen, sagt der Mann. In Sadr City gebe es über eine Million junge Männer. «Da sind die 13’000, die bei Saraya al-Salam kämpfen, nur ein kleiner Teil davon.»

«Wenn sie uns von der Front anriefen, liessen wir alles liegen und fuhren los»: Ein Elektriker (links) aus Sadr City, der sich den Milizen anschloss.
«Der Krieg hat alles aufgefressen»: Osamah in seinem Laden in Sadr City, dessen Umsatz in den letzten Monaten eingebrochen ist.

Zurück auf dem Markt von Sadr City. Osamah sitzt in seinem grossen, hell beleuchteten Laden­lokal. Der Boden ist weiss gefliest, an den Wänden angelehnt stehen Dutzende Stoff­rollen in allen Farben. In der Ecke neben Osamah steht auf einem Tischchen eine Nähmaschine, mit der er die Stoffe nach den Wünschen seiner Kunden konfektioniert. Vor ihm haben sein Vater und sein Grossvater den Laden geführt, doch das Geschäft harzt. Osamah will nichts beschönigen, um rund 70 Prozent sei sein Umsatz in den vergangenen Monaten eingebrochen, sagt er. «Die Sicherheits­lage ist zwar besser, aber im ganzen Land haben die Leute keine Arbeit. Der Krieg hat alles aufgefressen.»

Dann bringt er das zwiespältige Verhältnis vieler Menschen hier zu den Hashd, den Milizen der Volks­mobilisierung, auf den Punkt: «Sie haben das Land befreit und viel geopfert. Doch jetzt breiten sie sich aus wie ein Krebs­geschwür.» Die Waffen seien aus der Öffentlichkeit verschwunden, die Milizen seien zu Investoren geworden. «Sie besitzen Land im Wert von Milliarden, sie sind im Immobilien­geschäft, in der Prostitution, im Glücks­spiel, betreiben Hotels und Shopping­malls.» Und doch will der Stoff­händler die Hoffnung nicht aufgeben: «Bisher ging es immer um Schiiten gegen Sunniten. Jetzt sehen wir, wer gut ist und wer nicht. Wir sind jetzt in einer Phase, wo es chaotisch wird, aber danach wird es hoffentlich besser.»

Aufstehen für die Hoffnung

Vor Osamahs Laden hat eine alte Frau ihren kleinen Stand aufgebaut. Sie ist wie alle Frauen hier ganz in Schwarz gekleidet, im Gesicht und auf den Händen hat sie feine, ausgebleichte Stammes­tätowierungen. Wie alt sie ist, weiss sie nicht. Mit ihrem Mann, einem Soldaten der irakischen Armee, habe sie in Habbaniyya gelebt, als die Briten dort ihren Luftwaffen­stützpunkt hatten. Der wurde 1959 aufgegeben, sie dürfte also mindestens achtzig sein. Seit vier Tagen verkauft sie nun hier auf dem Markt Räucher­stäbchen und Seifen, Scheren, kleine Spiegel und Bimssteine für die Fusspflege. Ihr Sohn habe bei einem Unfall einen Finger verloren, deshalb müsse sie arbeiten. «Das Leben ist immer schlechter geworden», sagt sie, «jetzt ist es ruiniert.»

Ein Stück weiter fährt ein junger Mann mit aufwendig frisiertem Haar gerade den Rollladen des Geschäfts hoch, in dem er arbeitet. Eigentlich ist er ausgebildeter Englisch­lehrer, aber weil er keine Stelle findet, verkauft er halt Frauen­kleider. «Wir sind hier im Irak», sagt er lakonisch, «alle müssen sich irgendwie durchschlagen.» Das Land sei ja eigentlich reich, aber die Elite unfähig: «Sie sind wie Tiere. Wenn sie etwas sehen, dann fressen sie es, bis sie nicht mehr können.» Das werde sich erst ändern, wenn die Leute ihre Lethargie überwänden. «Ich habe Hoffnung», sagt er, «aber erst, wenn das Volk aufsteht.»

Diese Reportage wurde aus dem Rechercheetat der Project R Genossenschaft realisiert.

Zu den Autorinnen

Die Arabistin Monika Bolliger arbeitet als Analystin und Forscherin in Beirut und Zürich. Zuvor war sie als Nahost­korrespondentin der NZZ in Jerusalem, Kairo und Beirut tätig. Amir Ali, der ebenfalls fliessend Arabisch spricht, war fünf Jahre Co-Leiter des Strassen­magazins «Surprise». Seit diesem Sommer ist er als freier Journalist tätig, der Schwer­punkt seines Interesses gilt den Ländern im Nahen Osten.

Zum Fotografen

Der kurdische Fotojournalist Hawre Khalid wurde 1987 im irakischen Kirkuk geboren und war viermal in seinem Leben ein Flüchtling. Mit seinen Bildern zeigt er die normaler­weise nicht sichtbaren Momente von Menschen in Kriegszeiten. Seine Arbeiten erschienen in internationalen Publikationen wie «Times Magazine», «New York Times», «Washington Post», «Le Monde», «Der Spiegel» oder «National Geographic» und wurden weltweit ausgestellt.

Reise in die arabische Welt

Sie lesen: Folge 1

Irak, Teil 1: Der Krieg ist vorbei, die Revolution beginnt

Folge 2

Irak, Teil 2: Märtyrer der Nation

Folge 3

Sudan, Teil 1: Die Revolution ist weiblich

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Sudan, Teil 2: Brot oder Ge­rech­tig­keit?

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Ägypten, Teil 1: Eine Brücke öffnet Gräben

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Ägypten, Teil 2: Die eiserne Hand ist nervös