Tag des Dankes, Tag der Trauer

Thanksgiving hat eine blutige Geschichte. Tommy Orange erzählt in einem fulminanten Roman davon. Vor allem aber von Identitäts­fragen und dem Alltag heute lebender Native Americans.

Von Daniel Graf, 28.11.2019

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Der Indianer im Jahr 1935 als übergrosses Klischee: An Thanksgiving wird in New York eine gigantische Comicfigur über den Broadway gezogen. NYT Photo Archive/Redux/Laif

Wenn die Menschen in den USA heute, am vierten Donnerstag im November, im ganzen Land Thanks­giving begehen, ist das nicht für alle ein Grund zum Feiern. Seit Jahrhunderten gehört das Erntedankfest zum nord­amerikanischen Selbst­verständnis, 1863 machte es Abraham Lincoln mitten im Bürger­krieg zu jenem nationalen Feiertag, der Thanks­giving bis heute ist: identitäts­stiftend, ein Tag der Ausgelassen­heit und des Dankes, mindestens so fester Bestand­teil der Familien­tradition wie Weihnachten.

Das gilt für das Mehrheits­amerika. Für viele Native Americans ist Thanks­giving ein Synonym für Massaker und jahrhunderte­langes Blut­vergiessen. Für ihre Beinahe-Auslöschung. National Day of Mourning, Tag des Trauergedenkens.

Die Tradition des landes­weiten Thanksgiving-Festes geht zurück auf das Jahr 1621, als in Plymouth, Massa­chusetts, 50 aus England über­siedelte Kolonisten mit 90 Angehörigen der Wampanoag und ihrem Häuptling Massasoit ein gemeinsames Festmahl abhielten. Man hatte erfolg­reich über ein Stück Land verhandelt. Doch diese Art Fest sollte die Ausnahme bleiben.

Elf Jahre vorher hatte in Virginia bereits der erste Krieg zwischen englischen Siedlern und dem Stamm der Powhatan statt­gefunden, ein Jahr nach Plymouth begann der zweite, und 1623 fand wieder ein Festmahl statt: Der Kolonist William Tucker hatte nach erfolg­reichen Friedens­verhandlungen die Powhatan zu einem Fest der Freund­schaft eingeladen – bei dem dann zwei­hundert Natives starben, man hatte den Wein vergiftet. Am 26. Mai 1637, während des Pequot­krieges, verloren viele hundert Pequot bei einem Massaker ihr Leben, manche Historiker sprechen von einem Genozid. Der Gouverneur der Massachusetts Bay Colony, John Winthrop, soll daraufhin einen Tag des Dankes mit einem Festmahl angeordnet haben.

«Thanksgiving-Feste wie dieses gab es überall nach ‹erfolgreichen Massakern›», schreibt Tommy Orange, Mitglied der Cheyenne and Arapaho Tribes, im nicht fiktionalen Prolog seines vor kurzem auf Deutsch erschienenen Debütromans «Dort dort», mit dem sich der 1982 geborene Autor gleich in die erste Liga der US-Gegenwarts­literatur einschreibt.

In diesem Prolog schildert Orange auch, wie es mit den Wampanoag nach Massasoits Tod weiterging – nicht mit gemein­samem Ernte­dank. Nachdem Massasoits Sohn Metacomet Häupt­ling wurde, führten die Konflikte mit den Kolonisten zum ersten offiziellen «Indianer­krieg» (1675 bis 1678). An dessen Ende wurde Metacomet, von den Kolonisten «King Philip» genannt, auf der Flucht gefasst – von einem amerikanischen Ranger und einem Wampanoag namens John Alderman, der sich mit den Kolonisten verbündet hatte. Man hat Metacomet enthauptet und gevierteilt. Sein Kopf wurde auf einer Lanze durch die Strassen von Plymouth getragen und für 25 Jahre im Plymouth Fort ausgestellt. (Wie es mit dem Kampf um Land in den folgenden Jahr­hunderten weiterging, kann man sich mit diesem GIF von Ranjani Chakraborty vor Augen führen.)

Hunderte Natives werden während des Pequot-Massakers im Mai 1637 niedergemetzelt: Dargestellt auf einem Holzdruck aus dem 19. Jahrhundert. The Granger Collection/Keystone

Es ist diese bis heute fortwirkende Gewalt­geschichte von Vertreibung, Ermordung und Diskriminierung der amerikanischen Natives, die Tommy Orange mit einem kurzen, essayartigen Vorspann seiner eigentlichen, in der Gegen­wart spielenden Roman­handlung voranstellt. Wie um zu sagen: Die Geschichten von heute sind ohne die Anerkennung der Geschichte nicht zu haben, nicht zu verstehen.

Noch ein Datum enthält dieser Prolog: Mit John Rollin Ridges «The Life and Adventures of Joaquín Murieta» erschien im Jahr 1854 der erste Roman eines Native American überhaupt. Nicht nur in der Historie, auch in der Literatur wurde die Geschichte lange nur von den «Siegern» geschrieben.

Umso wichtiger, dass die US-Literatur der Gegenwart diverser ist. Tommy Oranges gefeierter Debüt­roman steht in einer ganzen Reihe hochkarätiger Bücher von Native Americans. Man zögert einerseits, diese Texte gleich wieder mit einem Gruppen­attribut zu versehen. Und andererseits ist ja unverkennbar, dass die aktuellen Debatten um (linke) Identitätspolitik auch in der Gegenwarts­literatur einen Nieder­schlag finden, genauer: dass die Debatte massgeblich von der Literatur mitbestimmt wird.

Literatur mit Label?

Wer Tommy Orange trifft, begegnet einem jungen Mann, der die Diskussion in ihren feinsten Verästelungen kennt – und mit einer bemerkenswerten Coolness darüber reflektiert.

Braucht es das Adjektiv «native» in der Literatur? «In einer idealen Welt», sagt Orange, «wäre ich einfach nur ein Autor. Aber es geht nicht. Das Bild des Autors meinte in der Geschichte immer vor allem weisse Männer, das lässt sich nicht einfach beiseiteschieben.»

Und dennoch – oder besser: gerade deswegen – ärgert es ihn, wenn Buchhandlungen eine eigene Rubrik namens «Native American Literature» einrichten. Sicher gebe es eine Gruppe von Menschen mit besonderem Faible für Bücher, die man unter diesem Label versammelt. «Aber ihre Vorliebe gilt nicht der Lebens­wirklichkeit von Natives, sondern ihrer eigenen Vorstellung im Kopf.»

Die Lebens­entwürfe der Figuren in «Dort dort» haben weder etwas mit Prärie noch mit Reservaten zu tun. Orange schildert zwölf sogenannte «Urban Indians» im heutigen Grossstadt­amerika. Auch sie schleppen, jeweils auf ihre ganz eigene Weise, das Erbe der amerikanischen Geschichte mit sich herum. Ihre Leben sind geprägt von Gewalt und sozialer Härte, Sucht und Suizid, zugleich von Widerstands­kraft und Solidarität. Sie alle lässt Orange am Ende aufeinander­stossen, beim grossen Powwow, einem Stammestreffen, zu dem jede und jeder von ihnen mit ganz eigenen Motiven anreist. Und sei es nur, um, wie der Dokumentar­filmer Dene, weiteren Stoff für seine Arbeit zu sammeln.

«Weisst du, was Gertrude Stein über Oakland gesagt hat?», fragt ihn einer seiner Gesprächs­partner. Dene kennt die Antwort und weiss genau, was jetzt kommt: «‹Dort gibt es kein Dort›, sagt der Typ, flüstert es halb und grinst dabei so idiotisch mit leicht geöffnetem Mund, dass Dene ihm am liebsten eine reinhauen würde.»

Aber das Zitat liebt Dene trotzdem. Weil Gertrude Stein damit ihren Kindheits­ort meinte, der für die zurück­kehrende Erwachsene nicht mehr existierte: kein Dort mehr dort. Ist das auch die Erfahrung der Natives, nach Jahr­hunderten der Neu­bebauung ihres einstigen Landes? Der Titel des Romans versagt uns diese zu einfache Inter­pretation, er tilgt das Verb und die Verneinung. Statt­dessen: ein Rätsel, eine ungeklärte Relation, eine bleibende Aufgabe. Fest steht nur: Den unvermittelten Zugang zu Identität und Zugehörig­keit, zum eigenen kulturellen Erbe gibt es nicht. Und als der 14-jährige Ovril, der unbedingt beim Powwow tanzen will, das «Grand Entry» gesehen hat, fällt sein Befund ernüchternd aus: «Als Indianer verkleidete Indianer.»

Keine Autofiktion

Es gehört zu den literarischen Leistungen von Tommy Orange, dass er die Komplexität dieser Identitäts­fragen nicht nur in die einzelnen Figuren, sondern auch in die Gesamt­konstruktion seines Romans übersetzt hat. Er entwirft zwölf individuelle Lebens­läufe, die durch ein gemeinsames Band aus Fremd- und Selbst­zuschreibung zusammen­gehalten werden – aber individuelle Geschichten bleiben.

Braucht es das Adjektiv «native» in der Literatur, Tommy Orange? «In einer idealen Welt wäre ich einfach nur ein Autor. Aber es geht nicht.» Der Autor im Mai 2018 in der Nähe des Indian American Institute of Art in Santa Fe, New Mexiko, wo er unterrichtet. Christopher Thompson/NYT/Redux/Laif

Viele der Figuren weisen offen­sichtliche Parallelen zu Oranges eigener Biografie auf. Doch Orange wählt eben nicht die derzeit so boomende Form der Auto­fiktion; «There there» ist kein Ich-Text, trotz seiner identitäts­politischen Implikationen.

Alle Figuren, sagt Orange, hätten zwar ihren Ausgangs­punkt in etwas sehr Intimem, Auto­biografischem. «Aber dann entfernt es sich davon, wird zu etwas Eigenem.»

Vielleicht ist es genau wegen dieser Viel­schichtigkeit des Romans, dass beim Prolog, so kraftvoll und wichtig dieser Text ist, auch ein kleiner Rest Unbehagen bleibt. Denn dort ist alles Schwarz-Weiss, der gedrängte, komprimierte Duktus duldet nur die grelle Einseitig­keit. So bleibt etwa zwischen den beiden ersten Jahres­zahlen des Prologs, 1621 und 1623, etwas ausgespart: das Massaker in Jamestown, 1622, an den Kolonisten.

Hätte Orange auch dieses erwähnt, es hätte seine Argumentation gestärkt, nicht geschwächt. Denn die 500-jährige Gewalt­geschichte des weissen Amerika gegen die Ureinwohner spricht auch ohne jede Ausblendung die eindeutige, unmiss­verständliche Sprache himmel­schreienden Unrechts. Und Tommy Orange hätte selbst dann noch alle Argumente auf seiner Seite gehabt, wenn er auch im Prolog ein wenig von dem unendlichen Set an Grau­tönen zugelassen hätte, deren feine Nuancierungen zu fassen die wichtigste Stärke von Literatur ist. Auch und gerade der Literatur von Tommy Orange.

Literatur mit Attribut? Ja: «grosse».

Zum Buch

Tommy Orange: «Dort dort». Roman. Aus dem Englischen von Hannes Meyer. Hanser, Berlin 2019. 288 Seiten, ca. 32 Franken. Der Verlag bietet eine Leseprobe.

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