Politische Zeitenwende
Die Erfolgssträhne der SVP ist gerissen. Wo pendelt sich ihr Wähleranteil mittelfristig ein? Auftakt zu einer Serie über den Populismus und seine Gegenbewegungen in der Schweiz.
Von Claude Longchamp, 18.11.2019
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Viel ist nach den jüngsten Nationalratswahlen vom historischen Wahlsieg der Grünen die Rede gewesen. In der Tat: 17 Sitzgewinne von einer Wahl zur nächsten sind ein Rekord seit der Einführung des Proporzwahlrechts 1919.
Weniger im Fokus stand die Niederlage der SVP, obwohl auch sie historisch war. 12 Sitzverluste auf einmal hat bisher keine Partei hinnehmen müssen, seit die grosse Kammer nach dem Verhältniswahlrecht bestimmt wird. Im Vergleich zu 2015 verlor die SVP 3,8 Prozentpunkte an Stimmenanteil.
Verluste gab es auch in vielen Kantonen: Am grössten waren sie – sieht man von Ausreisserkantonen wie Obwalden mit nur einem Nationalratssitz ab – in Neuenburg, Aargau und Schaffhausen. Auch in Schwyz, Freiburg, der Waadt und in Basel-Stadt waren die Einbussen erheblich. Nur im Jura, im Tessin und in Graubünden vermochte sich die Partei gegenüber 2015 leicht zu steigern.
Warum hat die SVP an Wählerstimmen verloren? Ein naheliegender Grund sind Richtungsstreitigkeiten oder interne Personalauseinandersetzungen in Kantonalparteien. Etwa im Aargau, in Basel-Stadt, in Neuenburg und in der Waadt hat dies die SVP geschwächt. Allerdings gab es auch in Hochburgen wie Schaffhausen und Schwyz, wo das nicht der Fall war, erhebliche Verluste. Allein aus den Kantonen erklärt sich das schlechte Abschneiden also nicht.
Fast drei Jahrzehnte lang hielt die SVP mit ihren Wahlerfolgen die Schweiz in ihrem Bann. Nun scheint die Dominanz gebrochen. Was erklärt den Aufstieg und den Fall des Populismus? Claude Longchamp analysiert in einer Serie von Beiträgen die politischen, sozialen und kulturellen Gründe der politischen Zeitenwende.
Einen generellen Befund förderte die Wahltagsbefragung der SRG zutage: die Demobilisierung der SVP-Wählerschaft. Rund zwei Drittel der Verluste rühren laut ihr daher, dass Parteianhänger dieses Jahr weniger motiviert waren als 2015, tatsächlich abzustimmen. Das letzte Drittel ergibt sich aus Abwanderungen zu anderen Parteien – wobei keine besonders heraussticht.
Wähleranteile auf die lange Sicht
Der Befund macht Sinn. Doch was sind die tieferen Gründe für die schwache Mobilisierung? Um dies zu verstehen, vergleichen wir hier zwei Zeitreihen:
den Stimmenanteil der SVP bei nationalen Wahlen;
den Stimmenanteil bei kantonalen Wahlen, gewichtet nach der Einwohnerzahl der Kantone und gemittelt über jeweils vier Jahre.
Die beiden Zeitreihen zeigen über die letzten Jahrzehnte einen ähnlichen Verlauf: Mit Beginn der 1990er-Jahre stieg der Wähleranteil der SVP stark. Doch mit einem entscheidenden Unterschied: National vermochte die SVP viel stärker zu mobilisieren als bei Wahlen von Kantonsparlamenten.
So kam die SVP bei den Nationalratswahlen von 1991 auf 12 Prozent aller Stimmen. Danach ging es rapide hoch: Die Partei feierte vier Wahlsiege in Serie und war 1999 mit 23 Prozent stärkste Partei. 2007 verfehlte die SVP auf ihrem ersten absoluten Höhepunkt die 30-Prozent-Marke nur ganz knapp. Diese Aufstiegsphase ist allerdings abgeschlossen. Seither dominiert ein Auf und Ab, die nationale Parteistärke schwankt zwischen 25 und 30 Prozent.
Auf der kantonalen Ebene kam die SVP allerdings nie über 22 Prozent hinaus. Aktuell liegt sie hier bei knapp 21 Prozent, ebenso viel waren es bereits vor zwölf Jahren gewesen. Begonnen hat die Differenzierung 1995, als die SVP bei den nationalen Wahlen erstmals sichtbar stärker abschnitt als in den Kantonen.
Die Mobilisierungsdifferenz
Die Differenz zwischen den beiden Kurven ist ein geeignetes Mass dafür, wie gut es der SVP gelingt, bei eidgenössischen Wahlen zu mobilisieren.
Am grössten war sie im Jahr 2007: Damals lag der nationale Wähleranteil 8 Prozentpunkte über dem kantonalen Anteil. Beträchtliche Unterschiede ergaben sich auch 1999, 2003 und 2015. Und selbst bei den jüngsten Wahlen von 2019 erhielt die SVP trotz ihrer Wahlniederlage auf nationaler Ebene noch immer fast 5 Prozent mehr Stimmen als in den Kantonen.
Solche Differenzen kommen zwar bei verschiedenen Parteien vor. Doch nirgends sind sie so gross, so anhaltend und so systematisch zugunsten der Parteistärke bei nationalen Wahlen wie bei der Schweizerischen Volkspartei.
Die SVP profitiert seit 1995 auf nationaler Ebene also stets von einem Bonus. Mal fällt dieser etwas grösser, mal etwas kleiner aus. Erklären lässt sich diese Dynamik anhand von drei verschiedenen Ursachenkomplexen.
1. Die Europafrage als neue Konfliktlinie
Das zentrale zeitgeschichtliche Ereignis in unserem Zusammenhang ist die Volksabstimmung vom 6. Dezember 1992. Von Volk und Ständen abgelehnt wurde damit der Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), der als Zwischenschritt zum EU-Beitritt konzipiert war. Der direkte Beitritt scheiterte knapp zehn Jahre später in einer eigenen Abstimmung definitiv.
Die Thematik brachte eine ungekannte Polarisierung der Parteienlandschaft mit sich – basierend auf einer tiefgreifenden Spaltung zunächst sprachkultureller Natur, dann eher zwischen urbanen und ruralen Räumen.
SP, FDP und CVP suchten nach dem EWR-Nein nach Auswegen. Geboren wurde so der bilaterale Weg. Die SVP wagte ein Ja dazu, blieb aber stets skeptisch und widersetzte sich jeder Form der Weiterentwicklung; letztlich mit dem Argument, der EU-Beitritt bleibe das Ziel des Bundesrats.
Sie konnte sich so als die europaskeptische Partei der Schweiz profilieren und damit bei nationalkonservativen Wählerinnen in verschiedenen Lagern punkten. Letztlich ist das die Triebfeder für den Aufstieg der SVP in den 1990er-Jahren. Dabei fanden eine Nationalisierung der SVP nach dem Zürcher Vorbild und eine Bereinigung gegenüber rechten Konkurrenzparteien statt.
Nach der Klärung der europapolitischen Front war allerdings eine Themenerweiterung nötig. Vergleichbare elektorale Popularität fand die SVP nur noch mit der Asylfrage. Schon bei den Zuwanderungsthemen verschärfte sich jedoch die Gegenreaktion zum isolationistischen Kurs, die auf negativen Auswirkungen für die Wirtschaft aufbaut. Die Kündigung der bilateralen Verträge schliesslich ist selbst unter SVP-Politikern in exekutiven Positionen von Politik oder Wirtschaft umstritten respektive wird abgelehnt.
Die erste Antwort auf die Mobilisierungsfrage lautet deshalb: In der für den Aufstieg der SVP entscheidenden Konfliktlinie hat eine Radikalisierung stattgefunden, mit der auch die Zugkraft der Partei bei Wahlen nachgelassen hat. Die Europafrage ist zwar nicht verschwunden, aber eine normale Streitfrage geworden, die das Parteiensystem nicht weiter transformiert. Neue Profilierungsthemen auf nationaler Ebene hat die SVP nicht gefunden. Dies erklärt die nachlassende Wählermobilisierung zugunsten der Partei.
2. Auf- und Abstieg der populistischen Rhetorik
Das Nein bildet den genuinen Ausgangspunkt der rechtspopulistischen Rhetorik der SVP. Es richtet sich gegen staatliche Institutionen, angefangen vom Bundesrat über das Parlament bis hin zu den Gerichten. Der Angriff stützt sich auf ein geschürtes Misstrauen in politische Entscheidungsträger, getreu der Unterscheidung zwischen etablierter Politik, repräsentiert durch abgehobene Eliten, und dem Volk, das seine angeblichen Interessen wahre.
Die populistische Rhetorik führte die SVP 2003 zum vierten Wahlsieg in Serie. Christoph Blocher wurde in den Bundesrat gewählt, die Schweiz rückte nach rechts. Es folgten allerdings acht Niederlagen bei Volksabstimmungen in Serie, welche die Grenzen der Neupositionierung der Landesregierung aufzeigten. 2007 kam es denn auch zur Abwahl von Blocher und zum Ersatz durch Eveline Widmer-Schlumpf. Auch das zeigte, dass die rhetorische Radikalisierung in der Schweizer Politik irgendwann an Limiten stösst.
Erfolge feierte der Populismus einzig bei Massnahmen zur Verschärfung des Strafrechts, nicht aber bei der Erweiterung der direkten Demokratie. Das hat auch mit einer Gegenbewegung zur zentralisierten, stark personalisierten Top-down-Kommunikation der SVP zu tun. Spätestens mit der abgelehnten Durchsetzungsinitiative von 2016 kann man eine anhaltende Gegenbewegung der Zivilgesellschaft beobachten, die mit Unterstützung aus Medien und Politik die Wirksamkeit der rechtspopulistischen Rhetorik entzaubert hat.
Zahlreiche kantonale Wahlniederlagen haben die SVP zuletzt verunsichert. 2019 hat sie deshalb wieder in den Oppositionsmodus gewechselt. Sowohl die nationale Plakatkampagne (ein Apfel mit Würmern) wie auch der Ständeratswahlkampf im Kanton Zürich wurden skandalisierend, personalisierend, emotionalisierend geführt. Beides fand innerparteilich nicht nur Zustimmung und verfehlte seine Wirkung. Am deutlichsten sichtbar wurde dies am Wahlergebnis von Roger Köppel: Er blieb unter dem Ergebnis der früheren drei SVP-Ständeratskandidaten im Kanton Zürich.
Die zweite Antwort lautet also: Die rechtspopulistische Rhetorik der SVP war bei Wahlen wirksam, solange ein eigentliches Politikdefizit aus Sicht der Bürgerinnen bestand. Mit der veränderten Stellung im Regierungssystem der Schweiz ist dies aber schwieriger zu beklagen respektive fällt auf die Partei selber zurück. Die rechtspopulistische Rhetorik verpufft damit zusehends. Entsprechend schwächer fallen die Mobilisierungsschübe für die SVP aus.
3. Die Transformation von Wahlkämpfen
Bis 2007 liessen sich Wahlkampagnen im Voraus planen und mustergültig durchführen. Damals breitete die SVP das Thema der kriminellen Ausländer strategisch aus, und sie konterte die Attacke auf Christoph Blocher souverän.
Solche auf dem Reissbrett entworfenen Wahlkämpfe sind seither seltener geworden. Grund dafür ist die Globalisierung. Ereignisse, Kontroversen und Bewegungen, die ihren Ursprung ausserhalb der Schweiz haben, die aber auch hierzulande ihren Niederschlag finden, prägten die Wahlen von 2011 bis 2019: Zunächst war da der Kernreaktorunfall im japanischen Fukushima. Dann ging es um die europaweite Asylfrage im Gefolge des Syrienkrieges, schliesslich um die globale Klimafrage. Alle drei Ereignisse erfassten die Schweizer Öffentlichkeit letztlich erst im Wahljahr. «Fukushima» war am 11. März 2011, die «Asylkrise» fand im Juli 2015 ihren Widerhall, Startschuss der «Klimastreiks» war Greta Thunbergs Auftritt am WEF Ende Januar 2019.
Gefragt ist deshalb Reaktionsfähigkeit im Campaigning. Unsicher geworden ist, welche Arena massgeblich ist: die nationale oder die internationale, die institutionelle Politik oder die sozialen Bewegungen? Wahlen gewinnen kann man unter diesen Umständen nur, wenn man sich thematisch längerfristig positioniert hat und sich unmissverständlich zur Aktualität einbringen kann. Kurzfristige Aktionen ohne programmatischen Unterbau wirken aufgesetzt, langjährige politische Arbeit ohne klare Zuspitzung wird kaum registriert.
Diese Veränderung kam der SVP 2015 zugute. Damals spielte die Asylfrage der Partei in die Hände. Sie steigerte damit ihren Wähleranteil auf einen Rekord. 2011 und 2019 baute sich hingegen ein Meinungsklima auf, bei dem selbst ein Halten des Wähleranteils der SVP unwahrscheinlich wurde.
Die dritte Antwort auf die Mobilisierungsfrage ist somit klar: Kurzfristig aufgesetzte Themenbewirtschaftung, so wie es die SVP mit der von ihr kritisierten «Klimahysterie» machte, funktioniert bloss als Abwehrstrategie. Sie soll ein Absacken der Wahlbeteiligung unter bisherigen Sympathisanten vermeiden. Neue Wählerinnen bringen solche Reaktionen aber nicht. Was zählt, ist, ob das Profil einer Partei zur aktuellen Themenlage passt.
Ausblick
Der SVP gelang es bei den jüngsten Wahlen aus verschiedenen Gründen also nicht, an frühere Erfolge anzuknüpfen und Wähler zu mobilisieren. Ob dies den Beginn einer anhaltenden Erosion markiert, ist allerdings noch unklar.
Einerseits hat die populistische Rhetorik der Partei ihren natürlichen Zenit überschritten. Dies nicht zuletzt dank der verstärkten Einbindung der SVP in die Bundespolitik: Die von ihr beklagten Politikdefizite gibt es nicht mehr.
Andererseits bilden die kantonalen Wahlergebnisse auf absehbare Zeit eine Art von Untergrenze für den nationalen Wähleranteil der SVP. Ihr Profil ist grundsätzlich auf nationale Themen ausgerichtet; umgekehrt leiden kantonale Wahlen häufig an einer Themenarmut. Die kantonalen Wähleranteile zeigen insofern das Potenzial der SVP «ohne zusätzliche Mobilisierung» an, das sie nicht unterschreiten wird (es sei denn, es käme zu einer Abspaltung).
Wo genau der Wähleranteil der SVP bei künftigen Wahlen zu liegen kommt, ist noch nicht absehbar. Entscheidend dafür ist die Themenlage: Bläst sie der SVP wie 2011 und 2019 ins Gesicht, fällt die Zusatzmobilisierung gering aus. Erfährt die Partei wie 2015 thematischen Rückenwind, so kann sie weiterhin mit einem signifikanten Zustrom rechnen. Trotz historischer Niederlage.