Brexit in Echtzeit

Die schottische Autorin Ali Smith reagiert auf das Brexit-Referendum mit einem ebenso wütenden wie fulminanten Romanzyklus.

Von Ekkehard Knörer, 18.11.2019

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Ein Mann, ein Traum, ein Beginn. Daniel Gluck öffnet die Augen, und damit eröffnet der Roman. Gluck findet sich an einen Strand gespült, Sand zwischen den Zähnen, und ist wieder jung, bewundert den Körper mit der glatten Haut, den er nicht wiedererkennt. Die Wirklichkeit sieht nämlich ganz anders aus. Er liegt, hundert Jahre alt, in einem Pflegeheim, und das Geld, mit dem seine Pflege bezahlt wird, geht zur Neige. Seine Zeit ist vorbei, die Verbindung zur Gegenwart, in die er zwischen den Erinnerungen und Träumen für immer kürzere Episoden zurückkehrt, ist nur noch lose.

Das Gegenteil gilt für dieses aussergewöhnliche Stück Literatur. Es fällt nicht aus der Zeit, sondern rauscht mit Karacho in sie hinein.

Ein Roman, ja ein ganzer Roman­zyklus über den Brexit, der quasi in Echtzeit entsteht. Es ist eines der gewagtesten und furiosesten Experimente der Gegenwarts­literatur. Von einer Autorin, die im deutschsprachigen Raum noch immer zu den meistunterschätzten gehört, auch wenn sie von einigen Fans schon seit längerem emphatisch gefeiert wird.

Die Schottin Ali Smith hat ihre literarische Abrechnung mit dem Brexit als Tetralogie angelegt. Genauer: als Jahreszeiten­zyklus. Nun ist «Herbst», der Auftakt dieser wütend geschriebenen Folge, mit einiger Verzögerung endlich auf Deutsch erschienen.

Das Setting führt in die britische Gegenwart der Jahre 2015 und 2016, und noch bevor 2016 vorbei war, das Jahr, in dem sich in Grossbritannien die Dinge verschärfen, das Jahr des Mordes an der Abgeordneten Jo Cox, das Jahr des Referendums, mit dem das Brexit-Drama beginnt – noch vor Ablauf dieses Jahres erschien Ali Smiths Roman im Original. Das Referendums­ergebnis, der Wahnsinn des Brexit seien der Anlass für dieses Experiment gewesen, sagt die Autorin, die Ende 2017 den Band «Winter» folgen liess. In diesem Frühjahr erschien «Spring», der Abschlussband «Sommer» ist für Juli 2020 avisiert.

Aber geht das überhaupt? Ein literarischer Kommentar zur unmittelbarsten Gegenwart, ohne dass das Schreiben nur all die politischen Kommentare verdoppelt? Muss dieses megalomane Unternehmen nicht krachend scheitern?

Keineswegs. Gerade weil Ali Smith auf den politischen Trigger mit den Mitteln der Literatur reagiert.

In Figuren und Plots hängen die Bücher übrigens nicht zusammen, die bislang erschienenen jedenfalls: Es sind Stimmungen, Atmosphären, literarische Motive und Verfahren, die sie verbinden.

Ein Brexit-Roman?

Mit dem Etikett «Brexit-Roman» ist, was Ali Smith hier unternimmt, auch nur sehr unzureichend erfasst. Diese Texte sind Zeitromane im umfassendsten Sinn: Sie lassen nicht nur die Gegenwart in sich ein, sondern greifen weit aus, suchen die Durchdringung mit vergangenen Ereignissen, Texten, Figuren, Bildern und Dingen. In «Herbst» gibt es ein Kapitel wie eine Litanei, das den Zerfall ganz direkt adressiert: «Im ganzen Land», so beginnt hier Satz für Satz. «Im ganzen Land fiel das Land in Stücke», heisst es da, «im ganzen Land trieben die Stücke voneinander fort.»

Es ist nicht klar, wer diese Litanei spricht, es ist fast, als bringe sie sich selber hervor. Von Anfang an aber sprechen auch andere, identifizierbare Stimmen, die vom Zerfall des Landes sprechen, aber auch von ganz anderen Dingen. «Es war die schlimmste, es war die schlimmste aller Zeiten», lauten die ersten Sätze des Buches. Sarkastisch verwandeln sie den Beginn von Charles Dickens’ historischem Revolutionsroman «Eine Geschichte von zwei Städten»: «Es war die beste aller Zeiten, es war die schlimmste aller Zeiten.»

«Herbst» ist ein politisches Buch, aber es ist, wie alle Romane von Ali Smith, auch ein Buch unterschiedlichster Tonlagen; reich an Zitaten und Anspielungen, was schon mit einer ganzen Seite von Mottos beginnt: Da ist Shakespeare, der ohnehin das ganze Buch durchflüstert («Frühling werd euch schon erneuert / Wenn der Herbst kaum eingescheuert»). Da ist ein apokalyptischer Blick auf die Zerstörung des landwirtschaftlich nährenden Bodens. Da ist eine Zeile des schottischen Dichters W. S. Graham, «Gently disintegrate me»: «Zerlegt mich sacht» macht daraus die deutsche Übersetzung von Silvia Morawetz.

Was sich zerlegt, wenngleich nicht sonderlich sacht, ist Grossbritannien. Und eine Desintegration seiner selbst unternimmt auch Daniel Gluck, der wohl – so ganz klar wird das nicht – einst als Textautor für populäre Musik sein Geld verdiente. Ihn kümmert die Politik kaum noch, ihn interessiert keine Zukunft, und schon die Gegenwart ist von der anbrandenden Vergangenheit seiner Erinnerungen überspült.

Flashbacks

Anders als Gluck, ist Elisabeth Demand über die Referendums­entscheidung empört. Sie ist die eigentliche Protagonistin des Romans, Anfang dreissig, eine Kunst­historikerin, die zur britischen Pop-Art-Künstlerin Pauline Boty promoviert und sehr prekär mit Lehraufträgen über die Runden kommt.

Als sie Kind war, war Daniel Gluck ihr Nachbar und damals, in den Neunzigern, schon ein alter Mann. Aber Elisabeth und er freundeten sich an. Nun besucht sie ihn zweimal die Woche im Pflegeheim, und die Erzähl­stimme des Romans nimmt ihnen das Sich-Erinnern ab. Viele der Kapitel beginnen als Flashbacks mit lakonischen Jahresangaben: «Es war ein Dienstag im März 1998.»

Weder Elisabeth noch Daniel sprechen in diesen Flashbacks, sondern eine Instanz, die viel weiss und oft sehr nah an die Figuren heran-, gar in ihre Träume hineingeht, aber alles in allem ungreifbar bleibt.

Was Elisabeth und Daniel verbindet: Er hat in jüngeren Jahren Pauline Boty gekannt, ja sich unglücklich in sie verliebt, die – reale, nicht fiktive – Künstlerin, über deren Werk Ali Smiths (fiktive) Romanfigur Elisabeth ihre Doktorarbeit schreibt. Boty war ein Star der Sechziger, als Künstlerin wie als Schauspielerin. Und sie, die wahnsinnig jung an Krebs starb und erst Jahre nach ihrem Tod durch eine feministische Neu­vermessung der Kunst­geschichte wiederentdeckt wird, sie ist auch ein Schlüssel zum literarischen Experiment von Ali Smith.

Im Roman werden Botys Bilder genau und mit Liebe beschrieben. Und aus dem Collagen­prinzip ihrer Kunst lässt Ali Smith ihren gealterten Protagonisten seine Lehren für die Kunst und fürs Leben ziehen: «Collage», stellt Gluck wortspielerisch fest, «ist eine Bildungs­einrichtung, in der man alle Regeln über den Haufen werfen kann und in der Masse, Raum und Zeit, Vordergrund und Hintergrund relativ werden. Und durch diese Fähigkeit wird alles, was man zu kennen glaubt, in etwas Neues und Fremdartiges verwandelt.»

Collage statt Kommentar

Collage in diesem Sinn ist auch dieser Roman. Doch ist das Collagenprinzip hier durchaus politisch aufgeladen: eine Alternative zur Desintegration, die aber gerade nicht die Fantasie eines Ganzen, gar einer Nation (wieder-)her­stellen will.

Die Gegenwart, die wir zu kennen glauben, wird mit den Mitteln der Literatur neu und fremd, weil der Roman die zeitliche Abfolge ändert und neue Kontexte schafft.

Hier kann es, wiederum mithilfe einer Boty-Collage, aus der Brexit-Gegenwart zurück zum Politskandal um Christine Keeler gehen. Und von dort führt die Assoziations­kette in einem Schnell­durchlauf durch die Geschichte der Minstrel-Shows vom 19. Jahrhundert bis heute. Mal erzählt Ali Smith im realistischen Register, dann wieder folgt sie Daniel Gluck in seine surrealen Träume, wo sich die Düfte der Gegenwart und die Erinnerungen an Vergangenes durchdringen. Mit Gegenwarts- oder Wirklichkeits­flucht hat das nichts zu tun, im Gegenteil: Es geht eher darum, eine Allgegenwart herzustellen, eine Gleich­zeitigkeit des Ungleichzeitigen.

Dass Smith also mit diesen sehr eigenen literarischen Mitteln auf die politische Situation reagiert; dass sie einen grandiosen Roman und kein Message-Buch schreibt; dass dieser Brexit-Roman alles andere als nur ein Brexit-Roman ist, das wird keinen verwundern, der ihre Bücher kennt. Im deutschsprachigen Raum, wo sie nur zögerlich übersetzt wird, sind das wohl noch nicht viele – und ob ihr der Luchterhand-Verlag mit einem kitschigen Herbst­stimmungs-Cover und schlimmer Umschlagtext­poesie einen grossen Gefallen tut, ist auch sehr die Frage.

Die Kraft der üblen Wortspiele

Dabei ist Ali Smith, 1962 in Inverness in eine Arbeiter­familie geboren, eine der grossen Autorinnen unserer Zeit, eine hochreflektierte Erzählerin mit Witz und unerschöpflicher auch sprachlicher Fantasie. Zwischen Vergangenheit und Gegenwart rutscht da schon einmal eine reim- und sprach­spielerische Passage wie diese: «Eine schnelle kleine Nummer, mit Witz, um ihr gerecht zu werden. Haben kann. Don Juan. Momentan. Blödian. Lebensbahn. Veteran im Liebeswahn. Zu profan. Mein lieber Schwan.»

Das Wortspiel ist, hier und schon immer, das Alpha und Omega von Smiths Literatur, und zwar in seiner übelsten Form: das Wortspiel als verantwortungs­loses Spiel mit dem Klang, der über die Bedeutung obsiegt. Ein schlechter Witz der Sprache, der die Gedanken zurechtbiegt, «zu profan, mein lieber Schwan» – auch das pun ist ein Meister der Collage, der Vorder- und Hintergründe verschiebt. Direkt übersetzen lässt sich das eher selten. Silvia Morawetz, die ihr Handwerk bestens versteht, hat ihre liebe Mühe damit, sucht und findet im Deutschen mögliche Äquivalenzen.

So kommt in diesem Buch zusammen, was andere gerne sorgsam scheiden: Ernst und Witz, Naturpoesie und Alltags­banales. Die Realität der Ämter kommt als kleine Tragi­komödie um den Pass-Antrag vor, und die Fantasie der Dichter von Dickens bis Keats hat ihre Auftritte. So hält der Roman den Brexit, die Desintegration des Landes, eher im Hinter­grund präsent – während im Vorder­grund eine ziemlich trashige britische Fernseh­sendung immer wichtiger wird.

Die Sprache ist es, die bei Ali Smith in letzter Instanz alles bindet und löst. Was dabei herauskommt, ist springlebendige Literatur, ein Brexit-Buch, das ohne jeden Eskapismus den Exit ins Literarische sucht. Mit Leichtigkeit bewegt es sich zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Fantasie und Wirklichkeit hin und her (und vor und zurück). Man folgt und staunt nur zu gerne. Einen einzigen Fehler hat dieser Roman: «Herbst» ist arg kurz.

Aber Rettung naht, die Übersetzung des zweiten Bands der Tetralogie erscheint hoffentlich bald. Grosse Vorfreude auf den «Winter» unseres Smith-Vergnügens.

Zum Buch

Ali Smith: «Herbst». Aus dem Englischen von Silvia Morawetz. Luchterhand, München 2019. 272 Seiten, ca. 31 Franken. Der Verlag bietet eine Leseprobe.

Zum Autor

Ekkehard Knörer ist Kultur­wissenschaftler, Literatur- und Film­kritiker. Er ist Mitgründer, Heraus­geber und Redaktor der Zeit­schrift «Cargo», Redaktor und seit 2017 Mitherausgeber der Zeit­schrift «Merkur». Unter anderem schreibt er für die «TAZ», für «Kolik» sowie für wissenschaftliche Zeit­schriften und Sammel­bände.

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