Was es in diesen Zeiten braucht

Schmerzbereitschaft, Kraft und Mut: Rede über drei Figuren aus dem Werk von Nobelpreis­trägerin Olga Tokarczuk zur Eröffnung des Internationalen Literatur­festivals Buch Basel.

Von Carolin Emcke, 11.11.2019

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«Vielleicht ist es möglich sich zu verständigen, auch wenn der eine des anderen Sprache nicht spricht, der eine mit des anderen Gebräuchen nicht vertraut ist, auch wenn sie sich persönlich nicht kennen, nichts wissen von den Dingen, den Gegen­ständen des anderen, sein Lachen, seine Gesten, seine Zeichen nicht zu deuten verstehen – vielleicht dass es dann möglich ist, sich mithilfe von Büchern zu verständigen», schreibt Olga Tokarczuk in ihrem monumentalen Werk «Die Jakobsbücher».

Eigentlich sollte Olga Tokarczuk heute hier stehen und zu Ihnen sprechen, und ich hatte ursprünglich geplant, hier als Zuhörerin zu sein – insofern kann auch ich meine Enttäuschung nicht verhehlen, dass nicht Tokarczuk, sondern ich auftrete.

Zur Rednerin

Die Journalistin, Autorin und Philosophin Carolin Emcke ist eine der führenden Intellektuellen unserer Zeit. 2016 wurde sie mit dem Friedens­preis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Nach ihrem Studium in Frankfurt, London und Harvard wurde sie Kriegs­reporterin beim «Spiegel» und schrieb später einen Bestseller über ihre Einsätze («Von den Kriegen – Briefe an Freunde»). Heute ist sie Kolumnistin, Essayistin und Autorin zahlreicher weiterer Bücher. Ausserdem ist sie Gastgeberin der Gesprächs­reihe «Streitraum» an der Berliner Schaubühne. Ihr aktuelles Buch «Ja heisst ja und ... Ein Monolog» ist im S. Fischer Verlag erschienen.

Mir ist bewusst, welche Erwartungen sich an eine Eröffnungs­rede richten: Sie soll idealer­weise eine ästhetische oder ethische Setzung enthalten, auf einen politischen oder kulturellen Horizont verweisen, der die Gegenwart überschreiten hilft, etwas Erhellendes oder eine Kritik an dem Dogma der Reinheit, das unsere Demokratien all jener quirligen, zarten, widerborstigen Vielfalt berauben will, die wir Menschlichkeit nennen. Mir ist bewusst, dass es angesichts der gleichzeitigen Radikalisierung der neonationalistischen, rechten Bewegungen und ihrer Normalisierung in der bürgerlichen Mitte nötig wäre, präzise das zu benennen, was unsere Gesellschaften bedroht.

Aber manchmal bin ich es auch leid. Ich will mir auch nicht den eigenen Fokus diktieren lassen, will mich nicht in mimetischer Reaktion an diejenigen binden, die uns, die wir etwas anders glauben, etwas anders lieben oder etwas anders aussehen als die Norm, ablehnen.

Für mich hat das Erbe der Aufklärung primär etwas mit Freude am Zweifel zu tun, mit der Bereitschaft, wegzudenken von Eigenem, übernommene Praktiken und Überzeugungen auch infrage stellen zu können, mit Freiheit also, und nicht zuletzt (das schliesst sich nicht aus) auch mit individueller und kollektiver Demut.

Aus diesem Grund möchte ich keine klassische Eröffnungs­rede halten, sondern möchte, lesend, mich hinwenden zu einer anderen, nämlich Olga Tokarczuk, und davon sprechen, was sie mit ihren Texten tut.

Ich versuche also Tokarczuk mit der Lektüre von Tokarczuk zu ersetzen.

Angesichts der knappen Zeit konzentriere ich mich auf den filigranen, hybriden, verzweigten Essay-Roman «Unrast» und darin auf drei Geschichten.

1. Kunicki oder: Bruchstellen des Irrationalen

Da ist Kunicki, der mit seiner Frau und seinem Sohn im Urlaub auf einer namenlosen kroatischen Insel im Auto unterwegs ist, als sie ihn plötzlich bittet anzuhalten, aussteigt, den Sohn vom Rücksitz nimmt, in den nahe gelegenen Oliven­hain geht – und … verschwindet. Nicht für einige Minuten, nicht für eine halbe Stunde, sondern verschwindet. Sie ist unauffindbar. Es gibt keine Nachrichten, keine Zeichen, keine Erklärung.

Tokarczuk beschreibt nun die anschliessende Suche: wie Kunicki zunächst allein, dann mithilfe der örtlichen Polizei die Insel absucht, wie er sich in jede Möglichkeit, was geschehen sein könnte, hinein­fantasiert, wie wir zu verstehen versuchen, was auch die Figur nicht versteht: ob sie vor ihm geflohen ist, ob sie verschollen ist, ob ihr etwas angetan wurde, ob sie jemand anderem begegnet ist – wir spielen alle seine Denk­variablen durch und ergänzen noch eigene. Das Labyrinth der Landschaft, in der sie sich verirrt haben könnte, multipliziert sich um das Labyrinth der Affekte, die nicht erläutert werden, weil die Figur, die sie erläutern könnte, stumm und abwesend ist.

Wie Kunicki zu rekonstruieren versucht, was zum Verschwinden geführt haben mag, wie er die letzten Momente noch einmal aufruft, manches bildlich zu fassen bekommt, manches nicht, spiegelt sich in Tokarczuks Sprache: Sie lässt die Geschichte in einem flirrenden Zustand zwischen konkreten Orten, genauen Beschreibungen und vagen, namenlosen Dingen – so geraten wir Leserinnen in eine ganz ähnliche Verfassung wie die Figur der Erzählung, wir versuchen, etwas scharf­zustellen, etwas präziser zu erfassen, suchen etwas, an das wir uns halten können, doch im nächsten Moment ist es verloren, und wir rutschen ab mit unserem Verstehen.

Tokarczuk erzählt diese Geschichte nicht zu Ende, löst sie nicht auf, befreit uns nicht aus der Unruhe, in die uns das Nicht­wissen von Kunicki versetzt, sondern sie unterbricht, lässt die eigene erschaffene Figur in ihrer Verzweiflung und schiebt ein anderes Motiv, ein anderes Thema, eine andere Geschichte dazwischen. Die Disruption unserer Lektüre korrespondiert mit der der Figur, eine Zäsur ist im Leben, etwas wurde ausgesetzt, und in diesem Zustand sollen wir, die wir schattenhaft der Bewegung Kunickis folgen, ebenfalls ausharren: unruhig, verständnislos, drängend auf irgendeine Information, irgendeine Erklärung, auf einen Schluss.

Es ist wie bei einer dieser beethovenschen Kadenzen, die Akkord­folge, die wir innerlich schon zu Ende zu hören meinen, wird ausgesetzt, verschoben, verlängert, und der ganze Körper bleibt in diesem unruhigen Zustand des hörenden Sehnens. Zwei Mal unterbricht Tokarczuk die Erzählung, bis wir schliesslich Kunicki wieder begegnen, eine unbestimmte Zeit später, seine Frau und sein Sohn sind zurück­gekehrt, sie leben wieder zusammen, aber sie haben sich nun erst recht verloren. Für ihr Verschwinden gibt die Frau zwar eine Erklärung ab, aber eine, die nichts erklärt, die psychisch nicht nachvollziehbar ist, weil sie die Sorge des anderen einfach ausblendet. Beide leben noch zusammen, aber sie finden sich nicht mehr, weil das Misstrauen sie voneinander trennt. Sie erwartet, er möge doch aufhören, sie nach dem ewig selben zu fragen, er erwartet, sie möge eine andere Antwort geben.

Es ist eine unglaubliche Erzählung in einem brillant komponierten, komplexen Buch, weil Tokarczuk nichts erleichtern, nichts bereinigen will, wie es schlechtere Literaten versuchen würden, sie erliegt nicht der Versuchung, die Bruch­stellen des Irrationalen, die unsere Leben und unsere Gesellschaften durchziehen, nachträglich zu rationalisieren: sie zu etwas anderem, Verständlicherem, Akzeptablerem zu machen, nur damit wir sie besser integrieren können in das Bild unserer selbst. Wir alle kennen solche Brüche, und wir alle kennen die hilflosen und mitunter schädlichen Versuche, sie zu rationalisieren, nur um den Schmerz der Erkenntnis zu verdrängen.

Manche Handlungen, manche Entscheidungen, manche Überzeugungen sind nicht interessen­geleitet, entspringen keiner Not und keiner Logik, es gibt diese Risse des Nicht-Erklärbaren, da gibt es einen Sprung (nicht immer, aber sehr oft, gehen diese Bruch­stellen dem Ressentiment und der Gewalt voraus). Sie nicht überbrücken zu wollen, sie nicht auflösen, nicht verdrängen, nicht beschönigen, nicht infantilisieren zu wollen, sondern sie einfach zu lassen, als Quellen des Misstrauens (wie hier in der Erzählung) oder als Quellen des Bruchs, das ist nicht nur elegant erzählt, sondern auch schneidend klug.

2. Josephine oder: Umkehrung der Begründungslast

Dann ist da die Geschichte von Josephine Soliman von Feuchtersleben, die uns Tokarczuk als Briefe­schreiberin des 18. Jahrhunderts präsentiert und die an Franz I., Kaiser von Österreich, schreibt, um den Leichnam ihres Vaters, Angelo Soliman, zu erbitten.

Wie Tokarczuk diese Josephine um den Körper ihres Vaters, eines ehemaligen Sklaven, ringen lässt, weil sie ihm ein christliches Begräbnis ausrichten will – all das erinnert natürlich an Antigone, die sich den Befehlen des Kreon widersetzt, als sie den Leichnam ihres Bruders Polyneikes nicht den Hunden überlassen, sondern begraben will. Aber bei Sophokles ist es die Schwieger­tochter des Königs, die den Aufstand wagt, bei Tokarczuk ist es mit Josephine jemand ohne traditionellen Status, ohne Privileg. Hier geht es um den Leichnam eines Schwarzen, eines Menschen, der gar nicht als Mensch gesehen wurde, von dem vermutlich niemand annahm, dass er betrauert werden könnte, dem eine Tochter, die mit Gründen und Argumenten zu fordern in der Lage wäre, nie zugedacht wurde.

Es ist der einzige Abschnitt in diesem hybriden, wechselvollen Roman, der im Genre des Briefes verfasst ist. Es gibt in «Unrast» eher analytische Passagen über die Staatenhaftigkeit von Flughäfen, es gibt detail­versessene Passagen über die Einbalsamierung und Aufbewahrung von Körper­teilen, es gibt novellen­hafte Abschnitte, aber die besondere Subjektivität des Briefes erhält nur die Tochter eines schwarzen Angestellten des Kaisers.

Und wieder unterbricht Tokarczuk, lässt uns auf eine Reaktion auf den Brief warten, doch der Kaiser bleibt stumm, es gibt keine Antwort – wir erfahren das nur aus dem nächsten Brief der Tochter, die erneut vorspricht, höflich, voll christlicher Referenzen – und die förmliche Eleganz dieser Schreiberin lässt das Ausbleiben einer Antwort umso gröber wirken. Erst im dritten Brief schliesslich lernen wir, dass Angelo Solimans Leichnam «gehäutet wurde wie ein Tier, mit Stroh ausgestopft und in Gesellschaft anderer ausgestopfter Menschen zur Schau gestellt, umgeben von Überresten von Eich­hörnchen (und) monströsen Kröten …»

Was die Briefe, die Tokarczuk Josephine schreiben lässt, so erschütternd macht, ist die dissidente Freundlichkeit dieser Tochter, die nicht aufhören will, das zu fordern, was doch selbstverständlich sein sollte, und die so die Begründungs­last umkehrt: Nicht die Verleugnung der Menschlichkeit ihres Vaters soll normal sein, nicht der Rassismus, der in dem Schwarzen keinen Diplomaten am Hofe, keinen Freund, sondern nur ein exotisches Ding sieht, soll wahrscheinlich sein – sondern eben die Anerkennung seiner menschlichen Würde.

3. Annuschka oder: Undeformierte Erfahrung

Und zuletzt ist da die titelgebende Geschichte «Unrast», die von Annuschka erzählt, der Mutter eines behinderten Kindes in Kiew, die an ihrem Ausgehtag, an dem die Schwieger­mutter die Pflege des Sohnes übernimmt, sich verliert oder sich findet, das ist zunächst nicht ganz klar, aber deren Leben sich tiefgreifend verändert, als sie sich einer obdachlosen Frau zuwendet, die sie am Ausgang der U-Bahn sieht und die so beschrieben wird:

«Alles Mögliche hat sie an: Hosen, darüber mehrere Röcke, die so geschichtet sind, dass der eine unter dem anderen hervorschaut. Ihre Ober­bekleidung ist ähnlich, sie besteht aus zahlreichen Hemden, Pullundern, Westen. Und über allem eine grau wattierte Jacke … Doch am merkwürdigsten wirkt der Kopf – auf einem stramm um die Stirn gewickelten Stoffstreifen sitzt eine Kappe mit Ohren­schützern – und das verdeckte Gesicht, von dem nur der unentwegt Flüche ausstossende Mund zu sehen ist.»

Wir alle kennen solche Menschen. Wir alle sehen sie an unseren U-Bahnhöfen, Bushalte­stellen, im Niemands­land des öffentlichen Raums, der immer privatisierter wird, damit sie vertrieben werden können und wir ihren Anblick nicht ertragen müssen. Wir sehen und übersehen sie so gepeint, so gleichgültig, dass wir nicht einmal zu einer solchen Beschreibung fähig wären, weil wir nicht genau genug hingeschaut hätten, um die einzelnen Kleidungs­stücke auch nur zu bemerken. Wir sehen und übersehen, wir hören ihnen nicht zu, «versuchen nicht zu verstehen, welche Aussagen sich in ihren Flüchen verstecken».

Tokarczuk nun lässt Annuschka auf diese Frau zugehen, ihr zuhören, ihr folgen, und so folgen auch wir dem ungleichen Paar auf seiner Odyssee durch die Stadt, und all die Orte, die für uns, Menschen mit einem festen Wohnsitz, nur Nicht-Orte, Zonen des Transits sind, werden zu Orten der Rast, der Erholung, des Schlafs. Tokarczuk zieht uns hinein in eine Welt, die nie vor uns verborgen ist, aber die wir doch nie sehen. Tokarczuk lässt Annuschka auf die «Vermummte» schauen mit einem Blick, den wir schon längst verloren haben: ohne Scham, ohne Scheu, ohne Urteil.

In einem Vortrag über Marcel Proust aus dem Jahr 1954 schreibt Theodor Adorno:

«Das Geheimnis Prousts also wäre (...) dass er der Möglichkeit der ungeschmälerten Erfahrung aus der Kindheit die Treue hielt und dass er mit aller Reflexion und aller Bewusstheit des Erwachsenen die Welt so undeformiert wahrnahm, wie man es als Kind vermag.»

Es ist diese Möglichkeit der ungeschmälerten Erfahrung aus der Kindheit, die Tokarczuk ihrer Annuschka zugedacht hat und damit auch uns erlaubt, die Welt so undeformiert zu betrachten, wie wir es zuletzt als Kind vermochten. Denn nur wenn wir all die sozialen Blick-Regime, all die anerzogene Abwehr gegenüber Armen oder Verwirrten, wenn wir die Deformationen des Erwachsenen ablegen, können wir, wie Annuschka, uns einer Fremden zuwenden und von ihr, die uns sonst hilfs­bedürftig und orientierungs­los erscheinen mag, Hilfe und Orientierung erbitten.

Nochmals Adorno über Proust: Es ist «diese Idee des Gegen-den-Strich-Kämmens, des Verfremdens, des Immer-alles-Anders-Gehens», die das Werk Prousts kennzeichnet, und es ist genau das, was Tokarczuk hier schafft: Durch die Verkehrung der Rollen erobert sie nicht nur eine ungeschmälerte Erfahrung für uns, sondern entwickelt auch eine Geschichte, in der immer alles anders geht, in der sich auch ein sozialer Möglichkeits­raum öffnet – der freier, zarter, menschlicher ist.

Das sind nur drei Fragmente aus diesem wahnwitzigen Buch, das so überbordend, so überfordernd, lustig, sperrig, rührend, grosszügig, klug und wirklich zutiefst beglückend ist. Aber allein diese drei Figuren erzählen uns, so glaube ich, schon genug von dem, was es in diesen Zeiten braucht:

die Bereitschaft, den Schmerz der Erkenntnis nicht zu übertünchen, die Brüche des Irrationalen nicht zu leugnen oder zu beschönigen;

die Kraft, die Begründungs­last wieder so zu ordnen, dass diejenigen, die Menschen nicht als Gleiche anerkennen, sich erklären müssen, und nicht diejenigen, denen das selbstverständlich ist;

und zuletzt den Mut, aus der entfremdeten, deformierten Erfahrung sich zu lösen und wieder der staunenden Aufmerksamkeit der Kindheit sich zu überlassen.

Vielleicht eröffnet sich uns dann auch ein Möglichkeits­raum, der freier, zarter, humaner ist. Das wäre eine richtige Eröffnung …

Wie schreibt Tokarczuk?

«Vielleicht ist es möglich sich zu verständigen, auch wenn der eine des anderen Sprache nicht spricht, der eine mit des anderen Gebräuchen nicht vertraut ist, auch wenn sie sich persönlich nicht kennen, nichts wissen von den Dingen, den Gegen­ständen des anderen, sein Lachen, seine Gesten, seine Zeichen nicht zu deuten verstehen – vielleicht dass es dann möglich ist, sich mithilfe von Büchern zu verständigen.»

Vielen Dank.

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