Serie «Die gefährlichste Frau der Schweiz?» – Folge 5

Handwerker X

Warum schweigt Caroline H.? Was sagt der Mann, der damals als Täter verdächtigt wurde? Und hatten sie tatsächlich denselben Anwalt? «Die gefährlichste Frau der Schweiz?», Folge 5.

Von Carlos Hanimann (Text) und Joan Wong (Illustration), 09.11.2019

Vorgelesen von Patrick Venetz
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Caroline H. lebt seit zwanzig Jahren im Frauen­gefängnis Hindelbank. Man kann sie besuchen, wenn sie es zulässt. Man darf ihr Briefe schreiben, muss aber in Kauf nehmen, dass die Post geöffnet und gelesen wird. Hinter Gittern gibt es keine Geheimnisse.

Ich schrieb ihr einen Brief und formulierte ihn so direkt wie möglich – ohne Rücksicht auf die Blicke der Gefängnis­direktion. Eine Vertrauens­person hatte mir gesagt, ich müsse Caroline H. aus taktischen Gründen so klar wie möglich mitteilen, dass ich den Zweifeln an ihrer Schuld nachginge. Ich müsse ihr sogar das Gefühl geben, dass ich die Zweifel für berechtigt hielte. Dann würde sie einem Besuch vielleicht zustimmen.

Ich schrieb ihr, dass ich sie am Bezirks­gericht gesehen habe. Dass ich überrascht gewesen sei, als sie dem Richter nicht habe sagen wollen, ob sie die Tötungs­delikte begangen habe. «Für mich klang das seltsam», schrieb ich. «Auf jeden Fall klang es nicht nach einem eindeutigen Geständnis. Die Sache hat mich nicht mehr losgelassen, und ich habe mich seither vertieft mit den Morden im China­garten und im Urania-Parkhaus auseinander­gesetzt. Ich bin mir nicht sicher, was damals genau geschah. Aber es würde mich kaum erstaunen, wenn Sie sagen würden: ‹Ich war das nicht.› Im Gegenteil: Dann würde ich Ihnen das wahrscheinlich glauben.»

Serie «Die gefährlichste Frau der Schweiz?»

Nur wenige Kriminalfälle in der Schweiz haben so viel Aufsehen erregt wie jener von Caroline H. 2001 wurde sie dafür verurteilt, in den 1990er-Jahren zwei Frauen getötet und eine Dritte schwer verletzt zu haben. Doch hat hat Caroline H. tatsächlich zweimal gemordet? Vier Jahre hat Republik-Reporter Carlos Hanimann zum Fall recherchiert. Zur Übersicht.

Folge 3

Hu­gento­blers Theorie

Folge 4

Fantasie und Wirk­lich­keit

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Handwerker X

Die Antwort kam postwendend. Allerdings nicht von Caroline H., sondern von ihrem Anwalt Matthias Brunner. Sie klang anders, als ich es mir erhofft hatte: Brunner war sehr wütend.

Seine Mandantin Caroline H. habe ihn «ziemlich aufgewühlt» angerufen und ihm von meinem Brief erzählt, schrieb er mir in einer langen E-Mail. Es war für ihn «unverständlich», dass ich Caroline H. direkt angeschrieben hatte – und nicht ihn. «Irritierender ist die Tonalität und Aufdringlichkeit Ihres Schreibens.» Es sei «an sich längst bekannt», dass Caroline H. «eine nicht ganz eindeutige Haltung zu den Delikten hat, für die sie verurteilt wurde».

Brunner ärgerte, dass ich schrieb, ich würde ihr wohl glauben, wenn sie die Taten bestritte. Noch mehr ärgerte ihn, dass ich seine Mandantin «so salopp» anfragte, ob die Entbindung ihres ehemaligen Anwalts Franz Ott weiterhin gelten würde, damit ich mit ihm über seine Zweifel reden könnte.

Mehrere Journalisten hätten sich schon mit Caroline H. befassen wollen – «und den Delikten (von wem auch immer begangen)». Aber ich unterschätze offenbar «die Komplexität der Situation».


«Eine nicht ganz eindeutige Haltung zu den Delikten»?

«Delikte, von wem auch immer begangen»?

Was schrieb Matthias Brunner da?

Es war bemerkenswert: Egal, wen ich bei dieser Spuren­suche befragte, niemand sagte, es sei komplett abwegig, die Täterschaft von Caroline H. anzuzweifeln. Offenbar auch nicht ihr Anwalt Matthias Brunner.

Auf den ersten Blick erstaunt es wenig, dass Brunner seine Mandantin mit solchen Aussagen zu schützen scheint. Auf den zweiten Blick aber ist es genau das: höchst erstaunlich.

Viele meiner Gesprächs­partner hatten an der Schuld von Caroline H. gezweifelt. Einige ermunterten mich, die Recherche fortzuführen. Andere sagten, die Zweifel seien wohl berechtigt, doch die Sache liege zu weit zurück und sei deshalb aussichtslos.

Niemand sagte: Vergessen Sie es, das ist eine völlig verrückte Idee. Auch Anwalt Brunner nicht. Er war verärgert. Aber weniger über die Zweifel, sondern über mein Vorgehen.


Ich hatte Brunner zu diesem Zeitpunkt noch nichts über meine Treffen mit Hugentobler erzählt oder vom anonymen Schreiben, das mir zugespielt worden war. Ich hatte lediglich in einem Brief an Caroline H. angedeutet, dass ich ihren Geständnis­widerruf ernst nahm.

Zweifelte auch Brunner an den Geständnissen? Wie viel wusste er von Hugentobler? Wusste er über den Handwerker Bescheid?

Brunner und ich telefonierten ein paarmal, wir trafen uns zweimal zum Gespräch, wir schrieben uns lange E-Mails. Er war über alles im Bild: Er kannte die Aussagen von Hugentobler und war auch im Besitz des anonymen Briefs, in dem der Handwerker X verdächtigt wurde. Brunner fand meine Überlegungen sogar plausibel. Aber aus unserem Austausch entstand: nichts.

Ich wollte, dass verschiedene Leute vom Berufs­geheimnis entbunden würden. Das konnte nur Caroline H. veranlassen.

Ich wollte vertiefte Akten­einsicht, um herauszufinden, wie die Geständnisse zustande gekommen waren: Wie war der genaue Wortlaut gewesen? Hatte es sich um suggestive Befragungen gehandelt? Welche Details hatte sie genannt, die nur der Mörder oder die Mörderin wissen konnte?

Und dann wollte ich ein Gespräch mit Caroline H.: Warum hatte sie die Tötungs­delikte erst gestanden? Warum hatte sie die Geständnisse später widerrufen?

Und was sagt sie heute? Ist sie eine Mörderin – oder nicht?

Ich bekam nie einen direkten Kontakt zu Caroline H. Ihr Anwalt Matthias Brunner lehnte meine Anfragen ab. Hatte denn der Anwalt kein Interesse an der These, dass seine weggesperrte Klientin womöglich ein falsches Geständnis abgelegt haben könnte?

Brunner schrieb, er habe sich als Anwalt «ausschliesslich an den Interessen der Mandantin zu orientieren».

Anscheinend waren Brunner blosse Zweifel an der Täterschaft seiner Klientin zu wenig. Er brauchte handfeste neue Beweise, um allenfalls eine Revision des Urteils zu beantragen. «Ich bin an neuen Tatsachen oder Beweis­mitteln sehr interessiert, mit welchen sich allenfalls ein Revisions­gesuch mit intakten Erfolgs­aussichten stellen liesse», schrieb er mir in einer Mail.

Anwalt Brunner hatte in den vergangenen Jahren mit grossem Einsatz und einigem Erfolg versucht, Vollzugs­lockerungen für Caroline H. zu erwirken, die Massnahme einer Verwahrung in eine stationäre Therapie zu verwandeln, kurz: Caroline H. ein menschen­würdigeres Leben hinter Gittern zu ermöglichen. Voraussetzung für eine stationäre Therapie aber war, dass Caroline H. zu ihren Taten stand und in der Therapie über die Delikte redete.

Würde sie nun plötzlich gegenüber einem Journalisten behaupten, mindestens ein Tötungs­delikt nicht begangen zu haben, würde ihr Therapie­wille und damit ihre Therapie­fähigkeit infrage gestellt, eine Anpassung ihrer Massnahme wohl verhindert. Brunner muss meine Spuren­suche und meinen Brief an Caroline H. deshalb als störend empfunden haben. Am Telefon sagte er mir, dass er sich an «Spekulationen» zur Täter­frage nicht beteilige.

Wir überwarfen uns. Ich fand, er behindere meine Arbeit. Er schrieb, ich würde ihm Informationen verschweigen. Brunner blockte ab.

Sein Einfluss reichte so weit, dass sogar die damalige Luzerner Staats­anwältin Marianne Heer, die Caroline H. 1993 hatte verwahren wollen, plötzlich nicht mehr mit mir reden wollte. Die heutige FDP-Kantons­richterin sagte, sie müsse zuerst Brunner fragen, ob sie mit mir reden dürfe – den heutigen Anwalt der Frau, die sie damals verwahren wollte.

Dann sagte Heer ab. Das heisst, nicht sie selber, sondern Matthias Brunner. «Frau Heer bittet mich Ihnen mitzuteilen», schrieb Brunner im Namen der Magistratin, «dass sie für ein Interview nicht zur Verfügung stehe.»


Im Frühling 2018 scheiterten Caroline H. und ihr Anwalt vor Bundes­gericht. Sie würde weiter verwahrt bleiben. Eine stationäre Therapie rückte in weite Ferne.

Würde Caroline H. jetzt mit mir reden? Mir Akten­einsicht gewähren? Schlimmer konnte es für sie ja nicht mehr kommen.

Ich täuschte mich: Caroline H. wollte nichts mit mir zu tun haben. Ihr Anwalt Matthias Brunner richtete aus, «dass sie Dritten gegenüber nicht über die der Verurteilung zugrundeliegenden Geschehnisse sprechen möchte». Sie wünsche «keine Bericht­erstattung die auf längst Bekanntem sowie auf Spekulationen basiert».

Die naheliegende Erklärung: Caroline H. ist schuldig – auch wenn sie ihre Geständnisse in Therapie widerrufen hat. Sie ist die Parkhaus­mörderin; sie ist die Mörderin vom China­garten; sie ist die gefährlichste Frau der Schweiz.

Eine andere Erklärung: Der Verdacht von Hugentobler, der anonyme Brief, die Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Geständnisse nützten ihr nichts. Das waren Indizien, aber keine Beweise. Und selbst wenn: Es hiesse nur, dass Caroline H. nicht die Mörderin vom China­garten war. Aber was war mit dem Mord im Urania-Parkhaus? Was mit dem Angriff auf die Buch­händlerin in der Kirchgasse? Und die Brand­stiftungen? Auch wenn Caroline H. dieses eine Tötungs­delikt nicht begangen hätte, bliebe zweifelhaft, ob ihr das eine bessere Perspektive im Strafvollzug brächte.

Ich hatte in den letzten Jahren alle Zeitungs­artikel, viele Gerichts­akten und einige persönliche Unterlagen von und über Caroline H. gelesen. Ich hatte Privat­personen, Angehörige und Bekannte von Opfern, Anwältinnen, Polizisten, Psychiater, Beamtinnen aus dem Justizvollzug, Richter befragt. Ich telefonierte mit einer dementen Bestatterin und meldete mich zu spät bei einem Staats­anwalt, weil der in der Zwischen­zeit verstorben war. Ich hörte Verdächtigungen und Theorien. Ich fand einige Hinweise und merkwürdige Spuren. Oft landete ich in einer Sackgasse.

Zum Beispiel versuchte ich, einen Leserbrief­schreiber ausfindig zu machen. Ein gewisser Armin Rosenberger aus Zürich hatte 2002, unmittelbar nachdem Caroline H. wegen Doppelmordes verurteilt worden war, in einem Leser­brief Mutmassungen darüber geäussert, dass «der Mörder» noch frei herumlaufen dürfte. Die NZZ-Leserbrief­abteilung konnte mir nicht weiter­helfen, die Echtheit des Namens nicht bestätigen. Aber das Bevölkerungs­amt der Stadt Zürich teilte mir mit, dass der einzige Armin Rosenberger, der je in der Stadt gelebt hatte, 1994 gestorben war. Der Verfasser des Leserbriefs hatte einen falschen Namen verwendet.

Je länger ich mich mit den Tötungs­delikten beschäftigte, desto stärker zweifelte ich, ob ich je eine Antwort auf meine Frage finden würde: Ist Caroline H. eine Mörderin?

Oder hatte mich Hugentobler auf eine falsche Fährte geführt?

Seit zwanzig Jahren quält sich Hugentobler mit einem Geheimnis. Immer wieder hat er Rat gesucht, Vertrauens­personen davon erzählt, zuletzt auch mir, ausgerechnet einem Journalisten. Hugentobler will, dass diese Geschichte erzählt wird. Er will das Geheimnis lüften.

Steckt womöglich er hinter den anonymen Schreiben? Ist er die angebliche Justiz­insiderin? Ist er der Leserbrief­schreiber Armin Rosenberger?

«Ich war es nicht», sagt er, als ich ihn frage. Er schüttelt den Kopf.

«Hugentobler, Sie streiten ernsthaft ab, dass Sie hinter diesen Schreiben stecken?»

«Nein, ich streite es nicht ab. Ich war es nicht.»


Mord verjährt nicht, heisst es. In der Schweiz verjährt Mord aber nach dreissig Jahren. Das gilt seit 2002. Zuvor galt ein milderes Strafrecht. Mord verjährte nach zwanzig Jahren.

Der Mord beim China­garten geschah am Abend des 22. Januar 1997, vor bald 23 Jahren. Ist diese Tat also verjährt? Könnte ein anderer Täter als Caroline H. heute überhaupt noch dafür belangt werden?

Ich habe mit mehreren Strafrechts­professoren über diese Frage gesprochen. Sie waren sich uneinig, ob für ein Tötungs­delikt im Januar 1997 das mildere Recht gelte, also eine Verjährungs­frist von zwanzig Jahren, oder doch das neuere, härtere Gesetz, weil zum Zeitpunkt von dessen Einführung die Straftat noch nicht verjährt war.

Vermutlich könnte der Handwerker X heute strafrechtlich nicht mehr belangt werden – falls er denn etwas mit dem Tötungs­delikt zu tun hätte.

Matthias Brunner, der Anwalt von Caroline H., hatte gesagt, es bräuchte neue Beweise, um eine Revision der Verurteilung von Caroline H. anzustreben. Neue Fakten. Neue Erkenntnisse.

Es gab Hinweise auf einen anderen mutmasslichen Täter. Ich kannte mittlerweile sogar seinen Namen. Aber wie geht man damit um, dass ein Mann des Mordes verdächtigt wird? Noch dazu in einem Fall, der so weit zurückliegt?

Mehrere Personen, die ihn sehr gut kannten, sagten, dass der Handwerker X extrem gefährlich sei, aufbrausend und impulsiv. Er war ein verurteilter Gewalt­täter. Kann man bei einem offenbar unberechenbaren Mann einfach an der Tür klingeln und fragen: Haben Sie vor über zwanzig Jahren beim China­garten eine Frau getötet?

Mehrere Personen rieten mir davon ab.

Man könnte argumentieren, dass es ethisch fragwürdig sei, jemanden mit derartigen Vorwürfen zu konfrontieren. Man könnte auch der Ansicht sein, dass es aus Sicherheits­überlegungen fahrlässig sei, diese Fragen an den Mann zu richten. Niemand weiss schliesslich, wie er auf so eine Konfrontation reagieren würde – wenn der Verdacht stimmte; und auch, wenn der Verdacht falsch war.

Ich zog es zunächst vor, den Mann nicht persönlich anzugehen, sondern seine einstigen Strafverteidiger.

Aus Justizunterlagen, die ich mir im Laufe der Recherchen hatte zugänglich machen können, geht hervor: Der Handwerker X war in den Neunziger­jahren Klient bei mindestens zwei Anwälten des gleichen Anwalts­büros, in dem auch Matthias Brunner arbeitete.

Die Anwälte dieser Advokatur hatten beide vertreten: die verurteilte Caroline H. – und den verdächtigen Handwerker X.

Lag hier ein Interessen­konflikt vor?

Auf der Website der Advokatur steht, «alle Anwältinnen und Anwälte arbeiten bei uns auf selbst­ständiger Basis unter Beteiligung an den Unkosten der Kanzlei». Demnach handelt es sich bei der Advokatur um eine Unkosten­gemeinschaft; alle Anwältinnen arbeiten unabhängig und auf eigene Rechnung. Laut Bundes­gericht besteht dabei die Gefahr einer Interessen­kollision, sie ist aber nicht zwingend anzunehmen.

Ich rief die einstige Anwältin des Handwerkers X an. Sie konnte sich nicht an ihn erinnern. Auch in den elektronischen und physischen Archiven, schrieb sie mir, habe sie keine Angaben zu ihm gefunden.

Ich rief den einstigen Anwalt des Handwerkers X an. Er sagte nichts ausser: Anwalts­geheimnis.

Mir blieb also nichts anderes übrig, als mich beim dritten Anwalt zu melden, der damals in jener Bürogemeinschaft arbeitete: Matthias Brunner.

Dieses Mal ging es weniger um Caroline H. Sondern vielmehr um den Handwerker X.

Ich stellte Brunner einen schriftlichen Katalog mit rund einem Dutzend Fragen zu. Einige betrafen Caroline H.: etwa, ob sie ihm gegenüber je die Geständnisse zu den Tötungs­delikten widerrufen habe.

Die meisten Fragen drehten sich aber um das anonyme Schreiben, in dem der Name einer «möglichen alternativen Täterschaft» genannt wurde: Seit wann er diesen Brief kenne, wollte ich wissen. Wie er sich als Rechts­vertreter von Caroline H. zum Inhalt äussere. Warum er mir gegenüber verschwiegen habe, dass der Handwerker X von zwei Anwälten der gleichen Advokatur vertreten wurde, in der auch er arbeitete. Ich fragte ihn, ob auch er den Handwerker vertreten habe und ob er in dieser Konstellation einen allfälligen Interessen­konflikt erkennen könne. Ich wollte wissen, ob er mit dem Handwerker je über das Tötungs­delikt beim China­garten oder andere Tötungs­delikte gesprochen habe. Und ich fragte, bezogen auf eine Nachricht, die er mir kürzlich geschickt hatte, was er damit andeuten wolle, dass im Fall Caroline H. «neue Entwicklungen» und «intensive Gespräche» im Gang seien.

Brunner schwieg über eine Woche lang.

Dann beantwortete er eine einzige Frage: Seit wann er Caroline H. vertrete. (Er wurde 2007 als amtlicher Verteidiger bestellt.)

Auf weitere Nachfragen schrieb er: «Die Hypothese eines Interessen­konflikts ist falsch.» Eine detaillierte Stellung­nahme könne er allerdings nicht abgeben. Das Berufs­geheimnis verbiete es ihm.

Details wollte Brunner dann allerdings von mir haben: Er bat um die Namen von mehreren Quellen, die mit mir gesprochen hatten. Ich gab sie ihm nicht.


31. Oktober 2019, 10.48 Uhr: Anruf bei Handwerker X.

«Hallo», meldet sich eine männliche Stimme. Anfangs ist das Gespräch sehr freundlich. Ich erkläre dem Mann, dass ich zu Verbrechen in den Neunziger­jahren recherchiere, für die damals eine junge Frau verurteilt wurde. Dass sein Name nicht in der Bericht­erstattung vorkomme. Und dass er jetzt die Gelegenheit habe, seine Sicht der Dinge darzustellen.

Ziemlich bald erzählt er von seinen eigenen Erfahrungen mit der Justiz. Er berichtet von einem Konflikt, den er früher mit seiner Ex-Freundin hatte. «Ich war 131 Tage in Untersuchungs­haft», sagt der Handwerker. Der Ärger darüber ist über zwanzig Jahre später noch nicht verflogen. Auch nicht über die Verteidiger, die er damals hatte. Die hätten «einen fertigen Scheissjob» gemacht: «Sozis», «Kleinkommunisten», «Halbschlaue» nennt er sie. Einer von ihnen, so erinnert er sich, sei Matthias Brunner gewesen. Später habe ein Kollege aus dem gleichen Anwalts­büro übernommen.

«Stimmt es», frage ich den Handwerker X, «dass Sie Mitte Januar 1998 von der Polizei festgenommen worden sind und zu zwei Tötungs­delikten befragt wurden?»

«Ja, das stimmt. Ich weiss nicht mehr ganz genau, wann. Aber die haben mich damals eingepackt.»

«Worum ging es?»

«Das eine war, dass im Parkhaus eine Frau umgebracht worden war. Und das andere war die Frau G. [das Opfer vom China­garten]. Das war der Hammer: Die kannte ich. Sie kaufte damals in den gleichen Läden ein wie ich. Sie wohnte in der Nähe. Sie hatte einen Buchladen.» [G. wohnte über einem Buchladen, besass aber keinen. Einen Buchladen besass hingegen das dritte Opfer.]

«Sie wurden gleich wieder entlassen. Ist das korrekt?»

«Na ja, da bin ich auch eine Zeit lang gesessen. Ich hatte einen neuen Job, eine neue Wohnung, und dann standen morgens um halb sechs acht schwer bewaffnete Polizisten mit Masken und allem da, ich dachte, ich spinne. Ich war echt verunsichert.»

«Und dann?»

«Dann haben sie mich mitgenommen. Ich wurde am nächsten Tag vor allen Leuten mit Handschellen in meine Wohnung gebracht und musste denen zeigen, wo mein Werkzeug war. Ich fragte: ‹Was suchen Sie denn?› Und sie sagten: ‹Ein Teppich­messer.› Ich glaube, diese Frau G., die wurde ja mit einem Teppich­messer geköpft. Die Täterin war diese Frau, die seit Jahren in Hindelbank sitzt. Die war das.»

«Hatten Sie etwas mit diesen Tötungs­delikten zu tun?»

«Nein, gar nichts.»

«Dann wurden Sie gleich wieder entlassen?»

«Ich kannte halt die Frau G., das Opfer. Jemand muss mich damals angeschwärzt haben. Ich weiss schon, wer.»

«Es gibt einen Brief, den eine ehemalige Mitarbeiterin der Polizei oder der Justiz geschrieben haben soll, ohne Absender, darin werden Sie verdächtigt, den Mord beim China­garten begangen zu haben.»

«Ja, das macht nichts, wenn die das behaupten. Eineinhalb Jahre später kam ja dann aus, dass das diese Obwaldner Brand­stifterin war, die auch eine andere Frau umgebracht hatte, im Parkhaus, und eine andere fast getötet hat. Das wusste man dann. Ich habe ein sehr gutes Gewissen. Ich kann auch sehr gut schlafen.»

«Die Anschuldigung stimmt also nicht?»

«Das sollten Sie doch wissen, dass ich damit nichts zu tun habe. Es ist öffentlich bekannt, dass ich nichts damit zu tun hatte, dass das falsche Anschuldigungen waren.»

Dann scheint dem Handwerker das Gespräch lästig zu werden. «Hören Sie», sagt er abrupt. «Ich bin kein Telefonist. Entweder wir sehen uns, oder wir vergessen das jetzt. Ich bin in einer Beiz, ich kann nicht stundenlang telefonieren. Wenn das einer neben mir macht, schlage ich den halb tot.»

Ich sage ihm, dass wir schon so gut wie fertig seien. Er sagt, ich könne ruhig auch seinen Namen nennen.

«Nein, das tun wir nicht.»

«Sie können meinen Namen schreiben. Ich habe nichts zu verstecken. Aber die, die mich damals angeschwärzt haben, die werde ich alle überleben. Die müssen schaurig beten, dass ich gesund bleibe. Weil wenn ich Krebs oder so habe, wenn ich weiss, in einem Jahr bin ich kaputt, dann schneide ich denen den Grind ab mit dem Teppich­messer. Dann können sie dann selber schauen, diese Drecksfotzen.»


Caroline H. ist heute 46 Jahre alt. Sie hat fast die Hälfte ihres Lebens hinter Gittern verbracht, in Einzelhaft, mit einer Katze als einziger Begleitung. Ist sie eine Mörderin? Ist sie die gefährlichste Frau der Schweiz? Die Zweifel daran bleiben.

Zweifel hegt nicht nur Hugentobler, Zweifel hat nicht nur eine anonyme Absenderin in einem Brief zusammen­getragen. Für die Zweifel, dass sie wirklich die Mörderin ist, die sie sein wollte, hat Caroline H. auch selber gesorgt.

Einmal, es war das Jahr 1999, Caroline H. sass seit über einem Jahr in Untersuchungs­haft, die Tötungs­delikte beim China­garten und im Urania-Parkhaus hatte sie längst gestanden, da befragte die Polizei sie zu einem dritten schweren Verbrechen: zum Angriff auf die 76-jährige Buch­händlerin in der Kirchgasse. Caroline H. hatte zunächst gestanden, kurz darauf widerrufen. Und nun sagte sie den Ermittlern einen Satz, der alles bedeutete, aber auch nichts: «Ich bin mir sicher, dass ich das gewesen bin.» Und dann: «So viel Fantasie habe nicht einmal ich.»

Das Buch zur Serie

Carlos Hanimann: «Caroline H. – Die gefährlichste Frau der Schweiz?» Klappen­broschur, Echtzeit-Verlag, Basel, 88 Seiten, 27 Franken, 24 Euro.

Warum wir über den Fall Caroline H. berichten

Warum über Verbrechen schreiben, die mehr als zwanzig Jahre zurück­liegen? Warum in Kisten wühlen, die längst weggepackt wurden? Warum Antworten suchen, wo niemand eine Frage gestellt hat?

Ein Grund: Weil der Fall der sogenannten Parkhaus­mörderin in der Kriminal­geschichte einzigartig ist – eine Frau, die Frauen tötet. Zwei Menschen fallen der jungen Täterin zum Opfer, scheinbar grundlos und zufällig, mit Messern erstochen, zwischen den Taten liegen ein paar Jahre Abstand. Sie greift eine dritte Frau an, diese überlebt nur knapp. Sie plant, sich an einem Mann zu rächen, der sie in einem Austausch­jahr erniedrigt habe. Sie legt Dutzende Brände. Kaum ein anderer Fall der jüngeren Kriminal­geschichte hat die Bevölkerung in der Schweiz derart bewegt und bis heute nicht losgelassen. Gerade kürzlich, im Sommer 2019, strahlte das Schweizer Fernsehen SRF wieder einen Dokumentarfilm über «die Parkhausmörderin» aus.

Ein weiterer Grund: Der Mord im Urania-Parkhaus war nicht nur der Anlass für das wohl bekannteste und am häufigsten reproduzierte SVP-Sujet: das Messerstecher­plakat, auf dem eine Frau erstochen wird, verbunden mit dem Slogan «Das haben wir den Linken und den Netten zu verdanken». Der Parkhaus­mord hatte auch konkrete politische Folgen: Seither gibt es in Parkgaragen Frauenparkplätze.

Ein anderer Grund: Weil die verurteilte Täterin bis heute Rätsel aufgibt. Caroline H. ist eine Brand­stifterin, die zur Serien­mörderin wird. Aber ihren ersten Mord hat sie in Zürich offenbar bereits vor ihren grossen Brand­stiftungen begangen. Sie ist damals kaum volljährig. Das Motiv für die Tötungs­delikte sei ihr Hass auf Frauen, sagte sie vor Gericht. Im Urania-Parkhaus habe sie das Klackern der Absatz­schuhe einer Frau aufgebracht. Beim China­garten habe sie eine Frau erschrecken wollen; das Töten sei die logische Folge davon gewesen. Sie stach zu. Warum?

Ein weiterer Grund: Weil es viele merkwürdige Geschichten über Caroline H. gibt. Nicht alle sind wahr, aber einige in Justiz­unterlagen verbürgt. Sie war mit einem als gefährlich geltenden jungen Mann liiert, der in den Medien als «Rütli­bomber» bezeichnet wurde. Die Bundes­anwaltschaft konnte ihm aber nicht nachweisen, dass er am 1. August 2007 tatsächlich einen Sprengsatz gelegt hatte.

Mehrmals hat sie Wachpersonal im Gefängnis und in der Psychiatrie angegriffen. Darum habe anfangs im Gefängnis nur speziell ausgebildetes Personal ihre Zelle betreten dürfen. Sie lebte über fünfzehn Jahre in Isolations­haft, in einem Hochsicherheits­trakt, der einst für Terroristinnen geplant und dann für sie umgebaut worden war. Ist Caroline H. die gefährlichste Frau der Schweiz?

Aber dann sagte während der Recherchen für diesen Text einer, der sie gut kannte: «Sie war wie ein Schluck Wasser.» Jemand anderes seufzte: «Ach, die Caroline …» Ein anderer: «Sie war eine Sonne. Aber wo Licht ist, ist auch Schatten.»

So reden Leute über eine Frau, die seit beinahe zwanzig Jahren als Mörderin eingesperrt ist. Wie kann das sein? Liessen sich die Leute, die so fürsorglich von ihr reden, um den Finger wickeln?

Die merkwürdigste Geschichte aber betrifft ihre Geständnisse: Caroline H. erzählte ihrer Therapeutin und den Polizisten, sie träume davon, Frauen zu töten. Dann gestand sie, diese Frauen tatsächlich getötet zu haben. Und widerrief die Taten später in Therapie. Heute schweigt sie zu den Tötungsdelikten.

Noch ein Grund: Weil niemand in der Schweiz unter einem so harten Haftregime lebt wie Caroline H. «Wie lebendig begraben», schrieb das «NZZ Folio» über sie. Die Isolations­haft, in der Caroline H. lebt, steht weitherum in der öffentlichen Kritik. Caroline H. ist ordentlich verwahrt, das heisst, sie bleibt auf unbestimmte Zeit weggesperrt, sie beschäftigte aber auch in jüngster Zeit noch die Gerichte. Im Frühling 2018 lehnte es das Bundesgericht ab, die Verwahrung von Caroline H. in eine stationäre Massnahme umzuwandeln: Eine delikt­orientierte Therapie sei nicht möglich. «Die Rechtslage ist eindeutig», schrieb das Bundes­gericht. «Im Entscheid­zeitpunkt besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass sich mit der stationären therapeutischen Massnahme die Gefahr weiterer Straftaten deutlich verringern lässt.»

Zwei Morde, mehrfacher versuchter Mord, über 50 Brandstiftungen, einige Körper­verletzungen und mindere Delikte gelten seit dem Urteil des Ober­gerichts in Zürich im Dezember 2001 als aufgeklärt. Und das ist ebenfalls ein Grund, über den Fall von Caroline H. zu schreiben, vielleicht sogar der wichtigste: Weil die Möglichkeit im Raum steht, dass sie mindestens ein Tötungs­delikt gar nicht verübt hat, dass sie falsche Geständnisse ablegte, dass sie die Delikte später aus diesem Grund bestritt; weil der Verdacht besteht, dass jemand anderes hinter dem Mord beim China­garten steckt. Und weil das alles zwangsläufig zur Frage führt, ob Caroline H. überhaupt eine Mörderin ist.

Das ist der Bericht über meine Spurensuche.

Folge 3

Hu­gento­blers Theorie

Folge 4

Fantasie und Wirk­lich­keit

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Handwerker X