Wende ohne Ende

Deutschlands Osten ist auch 30 Jahre nach dem Mauerfall ein Mysterium, das immer wieder neu erklärt werden muss: eine persönliche Bilanz zum Jahrestag des Mauerfalls.

Von Jackie Thomae, 08.11.2019

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Ostdeutschland? Westdeutschland? Wer meint, den Unterschied auf einen Blick zu sehen, liegt falsch. (Das Bild wurde in Sachsen aufgenommen.) Anne Morgenstern

Diesen Sommer habe ich einen Roman veröffentlicht, der 1985 in der DDR beginnt und 2017 in Paris endet. Die Protagonisten, zwei Brüder, haben einen ähnlichen Background wie ich – eine deutsche Mutter und einen afrikanischen Vater, der in der DDR studiert hat.

Und weil das Buch (zufällig, denn ich hätte viel eher damit fertig sein sollen) im Mauerfall-Jubiläums­jahr erschien, begann die erste Interview­phase mit Fragen zu meiner Biografie, insbesondere mit Fragen über den Osten. Damit hatte ich gerechnet, auch wenn es sich bei meinem Roman um Fiktion handelt, auch wenn ich seit 1990 nicht mehr in Leipzig lebe und somit mehr als zwei Drittel meines Lebens nicht «im Osten» verbracht habe, sondern in Berlin, dem Sonderfall.

So war ich, als Person, die man früher als Exoten bezeichnet hatte, nun wieder die Exotin. Nämlich eine sogenannte person of color, die ihre Kindheit in einem vermeintlich durch und durch rassistischen Umfeld verbringen musste. Ich erzählte also, wie es war. Ja, in der DDR gab es keine nennenswerte Einwanderer-Community, sodass ich eine Ausnahme darstellte. Zudem war sie hermetisch, weil man nicht rausdurfte. Andererseits war es nicht so, dass man gar keinen Kontakt zur Aussenwelt hatte. Es war nicht so, dass ich die einzige Person mit einem nicht deutschen Elternteil war, und vor allem war es nicht so, dass ich von Rassisten umgeben war.

Doch wie ich feststellte, ging es weniger darum, was ich erzählte, sondern darum, Vermutungen zu bestätigen. Schlimme bis schlimmste Vermutungen, die nichts mit meiner tatsächlichen Vergangenheit zu tun hatten, sondern vielmehr mit den aktuellen politischen Debatten und dem Bild, das man vom Osten hat. Ein festzementiertes und überaus stimmiges Bild, in das man sich ungern hineinreden lässt.

Zur Autorin

Jackie Thomae ist in Leipzig aufgewachsen und lebt seit 1990 in Berlin. Sie hat zwei Sachbücher und zwei Romane veröffentlicht. Zuletzt erschien von ihr der Roman «Brüder», mit dem sie auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2019 stand. Hier kann man sie aus dem Roman lesen hören.

Der Osten und seine Bewohner, er ist auch 30 Jahre nach Mauerfall noch ein Mysterium, das immer wieder aufs Neue erklärt werden muss. Ich habe mich bisher gut aus dieser Debatte heraushalten können, auch weil ich nicht aussehe, wie man sich den landläufigen Ossi vorstellt. Und wenn es um die Frage geht, warum die Leute in anderen Bundesländern wählen, wie sie wählen, bin ich keine Expertin, sondern auf Experten­analysen angewiesen.

Ich redete so viel wie möglich über mein Buch, doch die Ostfrage hielt sich hartnäckig, auch weil in dieser Zeit die Landtags­wahlen in Sachsen und Branden­burg stattfanden. Dabei stellte ich fest, dass der Osten nicht nur geografisch als Einheit gesehen wird, sondern auch zeitlich. Meine Kindheit in den Siebzigern und Achtzigern stand nun im Direkt­zusammenhang mit den aktuellen Wahl­ergebnissen. Ebenfalls bemerkens­wert fand ich, dass man offenbar davon ausging, dass der Westen in den Siebzigern eine multi­kulturelle Gesell­schaft war, in der man sich bei der Wort­wahl konsequent an die heutigen Standards der Political Correctness gehalten hatte.

Man befragte mich nach dem sogenannten Alltags­rassismus im Osten. Ein Wort, das man vor Jahr­zehnten noch nicht benutzte, was nicht heisst, dass das Phänomen nicht existierte. Es heisst allerdings auch nicht, dass Leute mit nicht deutschem Aussehen im Westen Deutsch­lands keine blöden Fragen oder Bemerkungen zu hören bekamen.

Ich beantwortete all diese Fragen in einem Politiker­tonfall, der mich schnell ermüdete: Das muss man im Zeitkontext sehen, da muss man relativieren, das muss man so oder so betrachten. Und irgendwann fiel mir auf, was mich daran störte: Dass man mich als Opfer betrachtete, eine Rolle, die ich überhaupt nicht mag und die ich auch nicht innehabe. Zweitens störte es mich, mir von Fremden meine Vergangen­heit umdeuten zu lassen.

Ein Journalist schilderte mir, wie er sich meine Gross­mutter vorstellte: Wie eine Löwen­mutter, die mich verteidigte. Nur gegen wen? Gegen Leute, die kleine Kinder angreifen? Starker Tobak, fand ich.

Wer sich, wodurch auch immer, aus der Masse hervorhebt, der entwickelt einen Radar für die Reaktionen der anderen. Und sehr vielen Leuten schien meine Haut­farbe egal zu sein. Dafür mussten sie mich weder besonders gut kennen, dafür mussten sie mich noch nicht einmal mögen. Sie haben mich behandelt, wie jeden anderen auch. Doch diesen Zustand des normalen Umgangs scheint man sich heute schwer vorstellen zu können.

«So isser, der Ossi» – titelte passender­weise dann auch Deutsch­lands grösstes Nachrichten­magazin in diesem Sommer, auf dem Cover ein zerknitterter Angler­hut in Schwarz-Rot-Gold. Der dazu­gehörige Artikel war differenzierter, das Titel­bild sollte provozieren und/oder lustig sein. Wer darüber nicht lachen konnte, bewies seine Humor­losigkeit und kam somit vermutlich aus den sogenannten neuen Ländern.

Um die sich das Nachrichten­magazin im Übrigen wenig Gedanken machen muss, zumindest keine kommerziellen, denn die grossen deutschen Leit­medien werden im Osten wenig bis kaum gelesen. Was vermutlich Teil des generellen Ost-West-Kommunikations­problems ist: Die einen nutzen ihre Chance auf über­regionale gute Presse nicht – obwohl Presse­freiheit neben Reise­freiheit einst zu den Haupt­forderungen der Leute gehörte. Während die anderen seit nunmehr drei Jahr­zehnten über einen Teil des eigenen Landes berichten wie über eine Bananen­republik, in die man unter grösster Gefahr Reporterinnen schicken muss, die das schräge Völkchen dort dann den werten Lesern zu erklären versuchen.

Es gab übrigens eine Persiflage auf dieses Titelbild, bei dem man den dumpf­deutschen Angler­hut durch eine Rasta-Strickmütze in den panafrikanischen Farben Grün-Gelb-Rot ersetzt hatte. Rassismus? Nein, nein, nein: Vom grossen deutschen Nachrichten­magazin kriegt jeder sein Fett weg, auch Bayern, auch Homöo­pathinnen, auch Ostler. Wie kommt man also überhaupt darauf, an dieser Stelle das böse R-Wort überhaupt in Erwägung zu ziehen?

Anhaltspunkte gibt es schon: das Pauschalisieren. Das Betrachten einer Gruppe anderer als homogene Masse. Das gönner­hafte Heraus­picken der sogenannten Ausnahmen: Ja, ja, sicherlich gibt es auch unter denen Kluge, Gute, Schöne, aber … Wie alle Ausnahmen, haben auch diese nur die Funktion, die Regel zu bestätigen.

Was man der anderen Gruppe nicht zugesteht, ist Normalität.

Im kollektiven Gedächtnis derer, die nicht dabei waren, ist die DDR wahlweise skurril oder gruselig. Sie lebt fort in Bildern, die durch erfolg­reiche Filme entstanden sind, in denen Leute in hässlichen Klamotten nur ein Thema haben: die Stasi.

Natürlich hat diese Art der Erzählung ihre Daseins­berechtigung, doch natürlich hat sie auch einen Einfluss auf die heutige Sicht. Man analysiert die Vergangenheit und deren Einfluss auf das jetzige Verhalten und zieht seine Schlüsse. Alles basiert auf einer Kausal­kette. Für Individualität bleibt da wenig Platz.

Das Problem ist nur: Indem man den anderen nur über seine Herkunft definiert, spricht man ihm jede andere Eigenschaft ab und damit auch das Recht auf Normalität. Diese Sicht­weise hat ungefähr das Niveau von Stings «I hope the Russians love their Children too» – einer der blödesten Song­zeilen der an blöden Song­zeilen nicht armen Achtziger. Zu hoffen, dass andere Menschen ihre Kinder auch lieben, ist an Bigotterie kaum zu überbieten.

Heute würde man sich diese Frage nicht mehr stellen, schon gar nicht in London, wo mittler­weile viele Russen leben. Und wie wir alle wissen, hilft viel Geld viel, auch wenn es um Respekt und Augen­höhe geht.

Womit wir wieder bei der deutsch-deutschen Betrachtungs­weise wären. Das undifferenzierte Bild, das man vom Osten hat, entsteht natürlich auch durch Geld. Beziehungs­weise durch das Fehlen desselben. Armut ist nämlich, anders als Berlins Ex-Bürger­meister Klaus Wowereit einmal meinte, überhaupt nicht sexy, schon gar nicht im Länder­vergleich. Über Armut wird sich öffentlich gesorgt und privat mokiert. In beiden Fällen bedeutet das auch allzu oft: Herablassung.

Ohne Deppen keine Coolen, das war schon auf dem Schulhof so.

Ohne das Bedürfnis, auf andere herunterzu­schauen, gäbe es nicht nur bestimmte Ideologien nicht, es gäbe auch ganze Unterhaltungs­genres nicht. Man würde das Wort Unter­schicht nicht so häufig hören und lesen. Man bräuchte die mysteriöse neue soziale Unter­gruppe der Abgehängten nicht. Man müsste auf Comedy­programme und Kolumnen verzichten, in denen Leute mit dem falschen Anorak, dem falschen Vornamen, dem falschen Dialekt am falschen Ort irgend­etwas falsch machen. Damit beweist man nicht nur seine brillante Beobachtungs­gabe, damit steht man auch automatisch auf der geschmacklich richtigen Seite. Herrlich, diese Übersicht. Und am bequemsten ist es, wenn die, auf die man herab­schaut, auch noch selbst dafür sorgen, dass man moralisch auf der richtigen Seite steht.

Die Wahlergebnisse rechtfertigen also diesen Blick nach unten beziehungs­weise nach drüben. Wer auf Rassisten runterschaut, hat Recht.

Das Problem ist nur, dass man die Mehrheit derer, die so nicht denken oder wählen, einfach mit in Sippenhaft nimmt. Das Problem ist auch, dass man mit dieser einfach gestrickten Einteilung davon ausgeht, der Westen wäre über jeden Rechts­druck erhaben.

Ich selbst habe, wie gesagt, lange nicht so viel über das deutsch-deutsche Verhältnis nach­denken müssen wie in diesem Jahr, was ja zeitlich ganz gut passte. Was mir jedoch schon vorher aufgefallen war, ist die Wort­wahl in diesen Debatten. Als würden wir uns in einer Zeit­kapsel aufhalten; als wäre die Mauer nicht seit drei Jahr­zehnten weg, sondern seit maximal drei Jahren. Die ständige Benutzung der Begriffe Ost und West gaukelt uns vor, wir befänden uns nach wie vor im Kalten Krieg.

Auch die Wende ist ein Wort, von dem ich damals angenommen hatte, es würde verschwinden, doch es hält sich hartnäckig. Es kam aus der SED-Ecke, als man hoffte, das untergehende Land doch noch zu retten, indem man die Leute mit ein paar Zugeständnissen einlullte.

Das hat nicht funktioniert. Trotzdem benutzt man dieses Wort nach wie vor, auch weil es für die Zäsur steht, die viele Leute schlechter verkraftet haben, als man damals absehen konnte (oder wollte). Ich benutze auch den Begriff Neue Bundesländer nicht. Weil es nicht so kompliziert sein kann, diese Länder einfach bei ihren Namen zu nennen, anstatt sie ständig zusammenzu­fassen. Und weil neu ein Wort ist, das natur­gemäss eine begrenzte Halbwerts­zeit hat.

Es hört sich jedenfalls nicht besonders gesund an, einen fest etablierten Dauer­zustand jahrzehnte­lang als neu zu bezeichnen: Mein neuer Mann und ich hatten vor fünf Jahren Silberhochzeit – wer würde so sprechen?

Das Paar passt als Metapher ganz gut. So wie es sich oft darstellt, das Besser­wisserische gegen das Gejammer, das Einfordern von mehr Respekt gegen das Einfordern von mehr Dankbar­keit, Gönnerhaftig­keit hier, Frust dort – all das hört sich an wie ein Duett direkt aus der Beziehungs­hölle.

Doch bei allen Gründen zur Beschwerde gibt es sie tatsächlich, die Gründe, zu feiern. Denn dieses Paar, das wird häufig vergessen, feiert nächstes Jahr nicht Vereinigung, sondern Wieder­vereinigung. Nach knapp vierzig­jähriger Trennung, eine lange Zeit in der Biografie eines Menschen, historisch nur ein Wimpern­schlag. Das Paar jedenfalls reibt sich nach wie vor an seinen Unter­schieden und über­sieht dabei seine Gemeinsam­keiten. Es über­sieht auch, dass es von aussen längst als Einheit wahr­genommen wird.

Und mittendrin Berlin, die Stadt, die man sich nicht mehr geteilt vorstellen kann und will und deren Kern­kompetenz im Feiern liegt. Auch in weniger rosigen Zeiten, auch ohne Geld, trotz schlechter Presse – beziehungsweise: dann erst recht!

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