Aus der Redaktion

Warum wir den Fall Caroline H. neu aufrollen

20 Jahre nach dem Schuldspruch für die sogenannte Parkhausmörderin tauchen Fragen auf.

Von Carlos Hanimann, 05.11.2019

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Warum über ein Verbrechen schreiben, das mehr als zwanzig Jahre zurückliegt? Warum in Kisten wühlen, die längst weggepackt wurden? Warum Antworten suchen, wo niemand eine Frage gestellt hat?

Ein Grund: Weil der Fall der sogenannten Parkhaus­mörderin in der Kriminal­geschichte einzigartig ist – eine Frau, die Frauen tötet. Zwei Menschen fallen der jungen Täterin zum Opfer, scheinbar grundlos und zufällig, mit Messern erstochen, zwischen den Taten liegen ein paar Jahre Abstand. Sie greift eine dritte Frau an, diese überlebt nur knapp. Sie plant, sich an einem Mann zu rächen, der sie in einem Austausch­jahr erniedrigt habe. Sie legt Dutzende Brände. Kaum ein anderer Fall der jüngeren Kriminal­geschichte hat die Bevölkerung in der Schweiz derart bewegt und bis heute nicht losgelassen. Regelmässig, gerade wieder diesen Sommer, wiederholt das Schweizer Fernsehen SRF einen Dokumentarfilm über «die Parkhausmörderin».

Ein weiterer Grund: Der Mord im Urania-Parkhaus war nicht nur der Anlass für das wohl bekannteste und am häufigsten reproduzierte SVP-Sujet: das Messerstecher­plakat, auf dem eine Frau erstochen wird, verbunden mit dem Slogan «Das haben wir den Linken und den Netten zu verdanken». Der Parkhaus­mord hatte auch konkrete politische Folgen: Seither gibt es in Parkgaragen Frauenparkplätze.

Ein anderer Grund: Weil die verurteilte Täterin bis heute Rätsel aufgibt. Caroline H. ist eine Brand­stifterin, die zur Serien­mörderin wird. Aber ihren ersten Mord hat sie in Zürich offenbar bereits vor ihren grossen Brand­stiftungen begangen. Sie ist damals kaum volljährig. Das Motiv für die Tötungs­delikte sei ihr Hass auf Frauen, sagte sie vor Gericht. Im Urania-Parkhaus habe sie das Klackern der Absatz­schuhe einer Frau aufgebracht. Beim China­garten habe sie eine Frau erschrecken wollen; das Töten sei die logische Folge davon gewesen. Sie stach zu. Warum?

Noch ein weiterer Grund: Weil es viele merkwürdige Geschichten über Caroline H. gibt. Nicht alle sind wahr, aber einige in Justiz­unterlagen verbürgt. Sie war mit einem als gefährlich geltenden jungen Mann liiert, der in den Medien als «Rütli­bomber» bezeichnet wurde. Die Bundes­anwaltschaft konnte ihm aber nicht nachweisen, dass er am 1. August 2007 tatsächlich einen Spreng­satz auf der Rütliwiese gelegt hatte.

Mehrmals hat Caroline H. Wach­personal im Gefängnis und in der Psychiatrie angegriffen. Darum habe anfangs im Gefängnis nur speziell ausgebildetes Personal ihre Zelle betreten dürfen. Sie lebte über fünfzehn Jahre in Isolations­haft, in einem Hochsicherheits­trakt, der einst für Terroristinnen geplant und dann für sie umgebaut worden war. Ist Caroline H. tatsächlich die gefährlichste Frau der Schweiz?

Warum sagte dann während der Recherchen einer, der sie gut kannte: «Sie war wie ein Schluck Wasser»? Warum seufzte jemand anderes: «Ach, die Caroline …»? Und noch ein anderer: «Sie war eine Sonne. Aber wo Licht ist, ist auch Schatten.»

Wieso reden Leute so über eine Frau, die seit beinahe zwanzig Jahren als Mörderin eingesperrt ist? Liessen sich die Leute, die so fürsorglich von ihr reden, um den Finger wickeln?

Die merkwürdigste Geschichte aber betrifft ihre Geständnisse: Caroline H. erzählte ihrer Therapeutin und den Polizisten, sie träume davon, Frauen zu töten. Dann gestand sie, diese Frauen tatsächlich getötet zu haben. Später widerrief sie die Taten in der Therapie.

Heute äussert sie sich öffentlich nicht zu den Tötungsdelikten.

Noch ein Grund: Weil niemand in der Schweiz unter einem so harten Haft­regime lebt wie Caroline H.: «Wie lebendig begraben», schrieb das «NZZ Folio» über sie. Die Isolations­haft, in der Caroline H. lebt, steht weitherum in der öffentlichen Kritik. Caroline H. ist ordentlich verwahrt, das heisst, sie bleibt auf unbestimmte Zeit weggesperrt, beschäftigt aber auch in jüngster Zeit noch die Gerichte. Im Frühling 2018 lehnte es das Bundesgericht ab, die Verwahrung von Caroline H. in eine stationäre Massnahme umzuwandeln: Eine delikt­orientierte Therapie sei nicht möglich. «Die Rechtslage ist eindeutig», schrieb das Bundes­gericht. «Im Entscheid­zeitpunkt besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass sich mit der stationären therapeutischen Massnahme die Gefahr weiterer Straftaten deutlich verringern lässt.»

Zwei Morde, mehrfacher versuchter Mord, über 50 Brand­stiftungen, einige Körper­verletzungen und mindere Delikte gelten seit dem Urteil des Obergerichts in Zürich im Dezember 2001 als aufgeklärt. Und das ist ebenfalls ein Grund, über den Fall von Caroline H. zu schreiben, vielleicht sogar der wichtigste: Weil die Möglichkeit im Raum steht, dass sie mindestens ein Tötungs­delikt gar nicht verübt hat, dass sie falsche Geständnisse ablegte, dass sie die Delikte später aus diesem Grund bestritt; weil der Verdacht besteht, dass jemand anderes hinter dem Mord beim China­garten steckt. Und weil das alles zwangs­läufig zur Frage führt, ob Caroline H. überhaupt eine Mörderin ist.

«Die gefährlichste Frau der Schweiz?» ist der Bericht einer Spurensuche.

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