«Wenn es die Verteidigung der Demokratie erfordert, dass ich auf die Fresse kriege, dann nehme ich das in Kauf»

Der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel sass ein Jahr im Gefängnis, weil er kritisch über das Erdoğan-Regime berichtet hat. Im Gespräch erzählt er, was er über autoritäre Regime gelernt hat und wie er Erdoğans jüngste Militär­offensive beurteilt.

Ein Interview von Elia Blülle, 04.11.2019

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Vom Journalisten zum «Agentterroristen»: Deniz Yücel (im Oktober 2019). Madlen Krippendorf

Deniz Yücel frühstückt im Speisesaal eines Stuttgarter Hotels. Farbiger Spann­teppich, viele Spiegel, goldener Kitsch, vor sich ein Teller mit Wurst und Brot. Wer ihm eine Frage stellt, bekommt auch um 10 Uhr morgens eine so lange wie ausschweifende Antwort, vorgetragen in einem Tempo, das seine Zuhörer meistens überfordert. Wüsste man nicht, dass er bereits vor seiner Zeit im Hochsicherheits­gefängnis Silivri so schnell gesprochen hat, könnte man meinen, er wolle die Zeit nachholen, die er im Gefängnis verloren hat.

Am Vorabend las Yücel vor ein paar hundert Menschen aus seinem neuen Buch. Es trägt den Titel «Agentterrorist». Die türkische Regierungs­presse hat diese Wortkreation erfunden, mit der Yücel später auch vom Staats­präsidenten Recep Tayyip Erdoğan beschimpft wurde.

Yücel war Korrespondent für die deutsche Zeitung «Die Welt» und berichtete aus Istanbul. Er ist ein leiden­schaftlicher Journalist, bekannt für seine Polemik und seinen Humor. Nach dem gescheiterten Militär­putsch wird er an Weihnachten 2016 zur Fahndung ausgeschrieben. Er taucht für zwei Monate in der Residenz des deutschen Botschafters unter, stellt sich am 14. Februar 2017 auf dem Polizei­präsidium und wird festgenommen. Am 27. Februar verfügt ein Gericht U-Haft für Yücel. Er wird eingesperrt; die meiste Zeit verbrachte er in Isolations­haft. Offiziell warf man Yücel Terror­propaganda und Volks­verhetzung vor. Der eigentliche Grund: kritischer Journalismus.

Ein Jahr nach seiner Verhaftung, am 16. Februar 2018, kommt Yücel schliesslich nach langem Hin und Her frei, und er verlässt die Türkei sofort. Heute lebt er wieder in Deutschland und hat in den letzten Monaten seine Geschichte aufgeschrieben. Weil er sie für erzählens­wert hält – aber auch, um all das Geschehene hinter sich zu lassen.

Herr Yücel, im Dezember 2016 sind Sie für eine Veranstaltung nach Zürich gereist. An dem Abend hat Ihnen eine deutsch-türkische Politik­wissenschaftlerin eindringlich davon abgeraten, nach Istanbul zu fliegen. Trotzdem sind Sie damals wieder gegangen. Wieso?
Ich liebe Istanbul; die einzige Stadt der Welt, durch die das Meer fliesst. Ganze Generationen von Stadt- und Zentral­regierungen haben versucht, ihr den Zauber zu nehmen – und trotzdem: Ganz gelungen ist es ihnen nie. Ich bin Deutscher, aber auch Bürger der Türkei. Und diesem Land emotional eng verbunden. Für die Freiheit, die Rechts­staatlichkeit, die Demokratie haben Menschen schon grössere Opfer erbracht als das, was mir damals im schlimmsten Fall geblüht hätte. Es ist die wichtigste Aufgabe von Journalisten, im Auftrag der Öffentlichkeit den Herrschenden auf die Finger zu schauen. Und das ist vor allem da nötig, wo es für Journalisten gefährlich wird. Wenn ich dafür auf die Fresse kriege, dann nehme ich das in Kauf. Dass ich dann aber so lange eingesperrt würde, damit habe ich nicht gerechnet.

Zwei Wochen nach dem Auftritt in Zürich wurden Sie in der Türkei zur Fahndung ausgeschrieben. Wann haben Sie gemerkt, dass es kritisch wird?
Bereits als ich die Stelle als Korrespondent antrat, wusste ich, dass es unangenehm werden könnte. Die Türkei war noch nie ein einfaches Terrain für Journalisten; es gab in ihrer Geschichte keine Zeit, in der Journalisten, Schrift­steller und Intellektuelle für ihre Texte und Meinungen nicht verfolgt wurden. Zeitweise war es besser. Aber nach dem gescheiterten Militär­putsch 2016 sahen wir uns plötzlich mit einem Ausnahme­zustand und mit einer Verfassung konfrontiert, die ausser Kraft gesetzt war. Eine Junta hatte die Macht übernommen. Es schien, als wäre der Militär­putsch erfolgreich gewesen, nur mit dem Unterschied, dass weiterhin dieselben Leute regierten wie zuvor. Ständig wurden befreundete Journalisten verhaftet – und plötzlich nicht mehr nur einzeln, sondern gleich busweise.

Am 14. Februar 2017 stellten Sie sich der Polizei und auch Sie wurden verhaftet. Unter anderem, weil Sie den PKK-Kommandanten Cemil Bayık interviewt haben …
Das ist falsch! Das Interview mit Cemil Bayık habe ich 2015, eineinhalb Jahre vor meiner Verhaftung, geführt. Ich bin per Zufall in Ermittlungs­verfahren geraten, und das türkische Regime hat die Gelegenheit ergriffen, nach den türkischen Journalisten auch einen ausländischen Korrespondenten einzuschüchtern. Wenn nicht das Interview mit Bayık gewesen wäre, hätten sie etwas anderes gefunden, um mich einzusperren. Das funktioniert so in autoritären Regimen: Zuerst kommt die Verhaftung, dann die Begründung.

367 Tage waren Sie eingesperrt. Sie erzählen, wie Ihnen der Humor geholfen hat, die Zeit zu überstehen.
Das ist eine Erfahrung, die viele Häftlinge autoritärer Regime teilen. Wenn wir zum Beispiel nicht verhindern konnten, dass die Briefe zwischen meiner Frau Dilek und mir von einer Brieflese-Kommission gelesen und ausgewertet wurden, dann konnten wir uns über diesen krassen Eingriff in unsere Privat­sphäre immer noch lustig machen. Da jeder Brief mit einem «Gelesen»-Stempel versehen wurde, habe ich zum Beispiel Kreise an die Seiten­ränder gezeichnet und «Hier stempeln» dazugeschrieben. Leider haben sie die Stempel­felder ignoriert.

Was haben Sie in dieser Zeit über das autoritäre Regime gelernt?
Mir war vor meiner Verhaftung nicht ganz so klar, wie wichtig es einem autoritären Regime ist, den Schein von Rechts­staatlichkeit und Demokratie zu wahren. Dadurch legitimieren sie sich selbst, machen sich letztlich aber auch verwundbar.

Madlen Krippendorf

Hat sich während des Gefängnis­aufenthalts Ihr Blick auf Deutschland verändert?
Ich war plötzlich Gegenstand der Politik und der Diplomatie. So eng auf Tuchfühlung war ich mit der Bundes­regierung noch nie. Das war auch für mich als Journalist interessant. Zwar vertrat ich nicht immer dieselbe Meinung wie die Regierung, was die Strategie im Umgang mit der Türkei und Erdoğan betraf, aber ich zweifelte nicht daran, dass sie sich für mich eingesetzt hat – dafür bin ich sehr dankbar. Und: Ich habe sehr viele Gespräche mit Anwälten geführt. Wir haben über alles Mögliche gesprochen: Medien, Polizeigewalt, Rechts­staatlichkeit. Und dabei habe ich sehr oft Sätze gesagt, die mit der Formulierung begannen: «Bei uns in Deutschland ist das ja so …» Angesichts meiner politischen Biografie etwas gewöhnungs­bedürftig. In fast allen Fällen meinte ich damit: In Deutschland ist das und jenes besser, funktioniert das und jenes besser. Aber ich habe auch gelernt, dass es umgekehrt sein kann.

Zum Beispiel?
Die Haftbedingungen in der Türkei sind in mancher Hinsicht besser als in Deutschland. Meine türkische Zelle im Hochsicherheits­gefängnis war mit 13 Quadrat­metern deutlich grösser als die durchschnittliche deutsche Gefängnis­zelle. Für die Recherche zu meinem Buch habe ich deutsche Gefängnisse besucht und in der Berliner Justiz­vollzugs­anstalt Moabit eine Zelle besichtigt, in der eine Toilette mitten im Raum steht. Ich fragte, wieso man das nicht ändere. Die Gefängnis­leitung antwortete, dass man ja gerne würde, aber nicht dürfe. Die Anstalt stehe unter Denkmal­schutz. Ich musste lachen. Es ist sicher berechtigt, ein solches Gefängnis zu bewahren, aber dann bitte als Museum – und nicht als Haftanstalt. In Deutschland merkt man, dass seit den 1970ern die Haftumstände kein politisches Thema mehr waren.

Sind die Zustände wirklich vergleichbar?
Eine so krasse Isolationshaft, wie ich sie in der Türkei erlebt habe, wird in Deutschland nicht mehr praktiziert; es werden auch keine Kinder und Jugendlichen ins Gefängnis gesteckt; und in Deutschland würde niemand im Knast landen, nur weil er seine Arbeit als Journalist gemacht hat. In dieser Hinsicht sind die Zustände natürlich nicht vergleichbar.

Ihr Buch beschreibt nicht nur Ihre Haft, es ist auch eine Liebes­erklärung an Istanbul. Im Sommer hat die Stadt die Regierungs­partei AKP abgewählt. Was bedeutet das für Erdoğan?
Ich war seit eineinhalb Jahren nicht mehr in der Türkei. Deshalb kann ich diese Frage nur eingeschränkt beantworten. Die Wahlwiederholung war Erdoğans grösster Fehler; er hat eine Abfuhr erlitten, und der Nimbus seiner Unbesiegbarkeit ist seither angekratzt. Man hätte wohl versucht, das Ergebnis zu manipulieren, wenn nicht Tausende Menschen die Wahlsäcke mit den abgegebenen Stimmen Tag und Nacht bewacht hätten. Dass eine Manipulation verhindert wurde, war nicht nur ein Erfolg des neuen Bürger­meisters Ekrem Imamoğlu, sondern vor allem auch von Canan Kaftancıoğlu. Sie hat als Ortsvorsitzende der Republikanischen Volkspartei CHP die Opposition organisiert. Inzwischen wurde sie wegen bis zu acht Jahre alter Tweets zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt. Wie bei mir hat das Regime irgend­etwas ausgegraben, was man ihr anlasten konnte.

Wie hat Erdoğan auf die Abwahl in Istanbul reagiert?
Erdoğan wurde in Istanbul von einem Bündnis bestehend aus Sozial­demokraten, Nationalisten und Kurden geschlagen – ohne die Kurden hätte Ekrem Imamoğlu niemals gewonnen. Was wir gerade in Syrien erleben, ist Erdoğans Versuch, sich aus dieser Niederlage rauszuwinden.

Die Türkei hat Anfang Oktober eine Militär­offensive lanciert und die in Nordsyrien ansässigen Kurden angegriffen.
Die Kurden verfügen in Nordsyrien schon seit vielen Jahren über eine selbstverwaltete Zone. Die Türkei hat das lange nicht gestört. Auch nicht, dass der sogenannte Islamische Staat sein sogenanntes «Kalifat» an ihrer Grenze ausgebreitet hat. Im Gegenteil. Für Erdoğan steht der eigene Machterhalt im Zentrum. Deswegen findet auch der Angriff auf Nordsyrien statt – und nicht, weil die Sicherheit der Türkei bedroht wäre. Er will mit seinem Krieg die neue innen­politische Opposition auseinander­treiben. Und soweit ich das aus der Ferne beurteilen kann, scheint ihm das zu gelingen.

Hat Europa auf die türkischen Angriffe richtig reagiert?
Europa hat selten richtig reagiert. Aber erst einmal hat Donald Trump die Kurden verraten, die im Kampf gegen den IS die grössten Opfer gebracht haben – zivile wie militärische. Sie so fallen zu lassen, ist schäbig und gefährlich; die Kurden haben in Nordsyrien nicht nur für sich gekämpft, sondern stellvertretend für die gesamte Menschheit, so, wie es die Alliierten und die Rote Armee im Zweiten Weltkrieg gegen Nazideutschland getan hatten. Nun: Der Abzug hat sich angebahnt. Trump hat die Europäer aufgefordert, sich in Nordsyrien zu engagieren. Hat keiner getan. Die Europäer wollten kein Militär hinschicken. Dann muss man sich nicht wundern, wenn sich ein nur begrenzt zurechnungs­fähiger amerikanischer Präsident plötzlich aus Syrien zurückzieht. Jetzt steht man daneben. Und deutsche Politiker fordern allen Ernstes, den türkischen Botschafter einzubestellen. Das ist doch Erdoğan egal; das türkische Aussen­ministerium bestellt drei Botschafter noch vor dem Frühstück ein. Sie machen das dauernd.

Die AKP und Erdoğan haben auch viele Anhänger in Deutschland. Als ich gestern einem gesprächigen türkischen Taxifahrer erzählt habe, dass ich Deniz Yücel treffe, wurde er plötzlich sehr schweigsam und hat mich nicht verabschiedet. Erleben Sie solche Ressentiments oft?
Noch nie persönlich. Hätte ich aber für möglich gehalten. Vor allem auch ausgehend vom deutschen Pendant der AKP-Wähler: den AfD-Anhängern, die mich ja genauso beschimpfen. Dass ich noch keine unangenehme Begegnung hatte, steht aber in einem extremen Missverhältnis zu den beleidigenden Nachrichten, die mich per Mail und über das Internet erreichen. Aber man sollte nicht vergessen: Erdoğan hat nur ungefähr die Hälfte des Zuspruches. Alle anderen lehnen ihn ab. Ich erlebe, dass mir Türken oder Deutsch­türken einen Kaffee, eine Pizza offerieren und mir «Geçmiş olsun» zurufen. Das sagt man jemandem, der etwas Unangenehmes überstanden hat. Auf Deutsch übersetzt: Es möge vorbei sein.

Sie bezeichneten gerade die AKP als Pendant zur AfD.
Die AfD hat immer wieder bewiesen, dass sie Lebens­entwürfe nicht anerkennt, die von ihrer Vorstellung abweichen. Das ist eine Partei, die nach ähnlichen Mustern funktioniert wie die AKP; die Ressentiments bedient; die Pressefreiheit und Meinungs­freiheit für sich allein beansprucht, wie sich in meinem Fall deutlich gezeigt hat. Die AfD hat in einem grotesken Antrag kurz nach meiner Freilassung gefordert, dass sich die Bundes­regierung von einem von mir verfassten, acht Jahre alten Text distanzieren möge. Die Forderung war verfassungs­widrig – und hat gezeigt, dass die AfD für ein paar Likes auf Facebook für jede Nieder­tracht zu haben ist.

Und wie die AfD sympathisiert auch Erdoğan mit Putin.
Er ist das Role-Model für autoritäre Machthaber der Gegenwart. Der Unterschied zwischen einer Demokratie wie Deutschland oder der Schweiz und einer Nicht-so-Demokratie wie der Türkei oder Russland liegt darin, dass in letzteren Staaten keine Abwahlen vorgesehen sind. Und Putin beherrscht das sogar noch besser als Erdoğan. Aber gut: Putin wurde auch beim KGB ausgebildet, Erdoğan bei den Istanbuler Verkehrsbetrieben.

Der türkische Geheimdienst ist auch in Deutschland und der Schweiz aktiv. Er hat versucht, Leute zu entführen, andere wurden bespitzelt. Spüren Sie Erdoğans langen Arm auch in Deutschland?
Ich persönlich weiss nicht, ob der türkische Geheim­dienst ein Auge auf mich geworfen hat – könnte mir das aber gut vorstellen. Es gibt keinen anderen Staat auf der Welt, in dem die türkischen Spitzel so aktiv sind wie in Deutschland. Das ist einer der vielen Skandale im bilateralen Verhältnis zwischen den beiden Ländern. Mir scheint, das wird zu selten angesprochen.

In Ihrem Buch erzählen Sie auch von den Ängsten, die Sie im Gefängnis durchlitten haben. Sie öffnen sich der Leserschaft stark.
Ich habe als Journalist einmal gelernt, dass man gute Geschichten erzählen muss. Und meine Geschichte ist selbst für türkische Verhältnisse ausser­gewöhnlich. Anderseits habe ich das Buch geschrieben aus der Überlegung heraus, mir von der Seele zu schreiben, was passiert ist. Ich werde diese Lesereise noch beenden, und dann möchte ich einen Punkt setzen.

Hat Sie das Schreiben gelassener gemacht?
Das müssen Sie mich in einem Jahr noch einmal fragen. Und sowieso: Ich habe mir im Knast oft die Frage gestellt, ob ich das Gefängnis zum Anlass nehmen soll, an mir zu arbeiten. Die eine oder andere Macke zu überwinden, richtige Prioritäten zu setzen, vielleicht endlich mit dem Rauchen aufzuhören. Aber ich habe realisiert, dass der Knast dafür der falsche Ort ist.

Warum?
Es hätte bedeutet, ihn als Besserungs­anstalt zu akzeptieren, ihm eine Legitimation zu verschaffen. Und das wollte ich nicht.

Zur Lesereise von Deniz Yücel in der Schweiz

Deniz Yücel wird nach seinem Auftritt in Zürich am 3. November noch in St. Gallen und in Basel aus seinem Buch lesen: heute im Palace St. Gallen und am 13. November in der Kaserne Basel.

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